# taz.de -- Neuer japanischer Animationsfilm: Zauberkraft aus der Vogelfeder | |
> Mit „Der Junge und der Reiher“ ist dem Regisseurs Hayao Miyazaki ein | |
> fantasievolles Alterswerk gelungen. Blinde Flecken hat der Animationsfilm | |
> dennoch. | |
Bild: In „Der Junge und der Reiher“ ist manches nicht so, wie es scheint | |
Sirenen heulen durchs nächtliche Tokio. Nach einem der US-Bombardements mit | |
Brandbomben während des Zweiten Weltkriegs erheben sich weithin leuchtend | |
Flammen über der Stadt. In jener Nacht ist auch der Stadtteil betroffen, in | |
dem das Krankenhaus liegt, wo Mahitos Mutter arbeitet. Vater und Sohn | |
rennen in Richtung Zentrum. Das Inferno der Flammen und das allgemeine | |
Chaos lassen die Figuren in der Animation verwischen. Alle Rettung kommt zu | |
spät, die Mutter stirbt. | |
Wenig später wird die Flugzeugfabrik, für die Mahitos Vater arbeitet, aufs | |
Land südlich von Tokio verlagert. Mahito verlässt mit seinem Vater die | |
Stadt. Als die beiden am Bahnhof Saginuma aussteigen, erfährt der Junge, | |
dass Natsuko, die Schwester seine Mutter, seine neue Stiefmutter werden | |
wird. | |
Der neuste Film des japanischen Animationsfilm-Großmeisters und | |
Mitbegründers des Ghibli Studios, Hayao Miyazaki, „Der Junge und der | |
Reiher“, zeigt einen Jungen, der in einer fremden Umgebung allmählich | |
lernt, mit dem Verlust seiner Mutter umzugehen. | |
Inmitten des leuchtenden, saftigen Grüns der Landschaft, die das Anwesen | |
umgibt, auf dem er nun mit seinem Vater und seiner Stiefmutter lebt, zieht | |
Mahito sich zurück, wird bald von Visionen seiner Mutter in den Flammen | |
heimgesucht. Ein Graureiher wird die erste Bekanntschaft des Jungen in | |
seinem neuen Zuhause. Von dem Moment an, in dem Mahito das Anwesen das | |
erste Mal betritt, scheint der Vogel seine Aufmerksamkeit erregen zu | |
wollen. Der Reiher lässt nicht von Mahito ab. | |
## Alterswerk mit autobiographischen Elementen | |
Als sich die beiden schließlich am Ufer des Sees auf dem Anwesen | |
gegenüberstehen, stellt sich heraus, dass der unheimliche Vogel mit der | |
zusätzlichen Reihe Zähne im Schnabel sprechen kann. Er behauptet, er wolle | |
Mahito in einem verlassenen Turm zu seiner verstorbenen Mutter führen. Die | |
Fische und Kröten des Sees stimmen in diesen Lockruf ein. | |
Der Film entstand knapp zehn Jahre, nachdem Miyazaki im September 2013 nach | |
der Fertigstellung von [1][„Wie der Wind sich hebt“] verkündet hatte, aus | |
Altersgründen keine weiteren Filme realisieren zu wollen. Unterdessen | |
scheint Miyazaki bereits am nächsten Film zu arbeiten. | |
Vor allem in der Darstellung von Mahitos Familie klingen in „Der Junge und | |
der Reiher“ autobiografische Elemente an. Wie Mahito ist Miyazaki als Kind | |
mit seinem Vater, der Direktor der Flugzeugfabrik des Onkels war, aufs Land | |
gezogen. | |
Miyazaki bettet diese autobiografischen Elemente in eine Vielzahl von | |
anderen Einflüssen ein. So spiegeln sich in Teilen der Geschichte Mahitos | |
[2][Grundzüge der Handlung von Genzaburo Yoshinos „Wie lebt ihr?“], einem | |
philosophischen Jugendroman von 1937. Daneben finden sich diverse | |
Versatzstücke von Mythen rund um Reiher und Miyazakis unerschütterliche | |
Vorliebe vor allem für ländliches Leben und einfache Genüsse, die sich | |
unter anderem dann zeigen, wenn Mahito beim Biss in ein Marmeladenbrot | |
nostalgisch wird. | |
## Ausflug ins Totenreich | |
Als schließlich nach etwa einem Drittel des Films auch Mahitos Stiefmutter | |
Natsuko verschwindet, wandelt sich der Film. Der Junge folgt dem | |
sprechenden Vogel in den Turm und taucht ein in eine fantastische Welt. | |
Mithilfe eines Pfeils, der durch eine Schwanzfeder des Reihers magische | |
Fähigkeiten hat, zwingt er den Vogel, ihm auf der Suche nach Stiefmutter | |
und Mutter zu helfen. | |
Durch den Boden des Turms fällt er in eine fremde Welt, in der er auf eine | |
Fischerin trifft, die den Bewohner_innen des Totenreichs Fisch verkauft und | |
mit den Fischinnereien ungeborene Menschenseelen füttert. Er trifft auf | |
Himi, die das Feuer beherrscht, und auf Sittiche, die versuchen, ihre | |
militaristische Herrschaft auszudehnen. | |
Der verlassene Turm, der vom Großonkel der Mutter der beiden Schwestern | |
errichtet wurde, bevor er verschwand und nur ein aufgeschlagenes Buch | |
hinterließ, erweist sich als Tor zu einer ganzen Reihe anderer Welten, die | |
auf nicht immer entschlüsselbare Weise miteinander verbunden sind. | |
Wie in all den Vorgängern besteht der Zauber von „Der Junge und der Reiher“ | |
in den wunderbaren Landschaften und wundersamen Wesen, denen die | |
spielerische Seite von Miyazakis Animation Leben einhaucht. Es ist in | |
seiner überbordenden Fantasie ein eindrucksvoller Film. Man würde sich gern | |
beim Sehen diesen Fantasiewelten überlassen, doch leider drückt wie schon | |
bei einigen der Vorgängerfilme und vor allem bei „Wie der Wind sich hebt“ | |
die Frage, ob Miyazaki immer den richtigen Ton in der Darstellung des | |
japanischen Faschismus trifft. | |
## Die Vorgeschichte der Angriffe bleibt unerzählt | |
Die Schlüsselszene des Tods von Mahitos Mutter in den Flammen ist als | |
wiederkehrende persönliche Erinnerung eindrucksvoll. Als Motiv ziehen sich | |
Bombardements durch eine Reihe von [3][Miyazakis Filmen von „Porco Rosso“ | |
über „Das wandelnde Schloss“] bis zu „Wie der Wind sich hebt“. | |
Wie schnell die legitime Klage über die Opfer solcher Bombardements jedoch | |
in Ressentiment umschlägt, wenn die Vorgeschichte dieser Angriffe unerzählt | |
bleibt, kann man jedes Jahr im Februar in Dresden beobachten, in Japan gibt | |
es ähnliche Strukturen der Erinnerung. | |
Bei Miyazaki, Jahrgang 1941, fällt der Tod nicht nur – was als Geschichte | |
aus Mahitos Perspektive nachvollziehbar ist – unvermittelt vom Himmel, dem | |
wiederkehrenden Motiv der Bombenangriffe steht auch eine Faszination für | |
Fluggeräte aller Art zur Seite. Diese Faszination gilt ausdrücklich auch | |
den japanischen Kampfflugzeugen des Zweiten Weltkriegs. Nach „Wie der Wind | |
sich hebt“ wurde vor allem in Südkorea Kritik laut an der Art, wie der Film | |
seinen Protagonisten, den Flugzeugingenieur Jirō Horikoshi, darstellt. | |
Horikoshi war federführend an der Entwicklung von Kampfflugzeugen | |
beteiligt, die in japanischen Fabriken mit Zwangsarbeit produziert wurden | |
und die zentral waren für den Krieg, den Japan seit Anfang der 1930er Jahre | |
in Asien entfesselt hat. Miyazaki verwies als Erwiderung auf Horikoshis | |
angebliche Kriegsfeindlichkeit, ergänzte aber zugleich, die Kampfflugzeuge, | |
an deren Entwicklung er beteiligt war, gehörten „zu den wenigen Dingen, auf | |
die wir Japaner stolz sein können“. | |
## Unbehagen bei geschichtsbewussten Zuschauenden | |
In „Der Junge und der Reiher“ ist der Vater ein wichtiger Mitarbeiter einer | |
Flugzeugfabrik, die tragend ist für die japanischen Kriegsanstrengungen | |
(und damit auch für die Verbrechen, die mit diesem Krieg einhergingen). Die | |
wichtige Rolle von Mahitos Vater wird im Film wiederholt gezeigt: Er lagert | |
fertige Glasdächer von Kampfflugzeugen auf seinem Anwesen und Soldaten | |
helfen ihm bei der Suche, als seine neue Frau verschwindet. | |
Keines dieser Elemente kippt je gänzlich in Revanchismus, und Miyazaki hat | |
sich wiederholt gegen entsprechende Tendenzen in der konservativen | |
japanischen Politik gewandt. Auch dominieren die problematischen Elemente | |
auch in seinem neusten Film nie die Handlung, sind eher Teil eines | |
Zeitkolorits, das sich sonst in Details der Ausstattung wie Mahitos | |
Trinkkanne auf dem Nachttisch niederschlägt. Doch bei geschichtsbewussten | |
Zuschauer_innen dürften sie ausreichen, um dem Feuerwerk der Fantasie ein | |
Unbehagen beizumischen. | |
Mahito festigt auf seinem Umherirren durch die Welten seinen moralischen | |
Kompass, findet Güte und Urteilsfähigkeit und genügend Selbstwertgefühl für | |
das weitere Leben in der Welt außerhalb des Turms. | |
Am besten versteht man „Der Junge und der Reiher“ vermutlich als Alterswerk | |
Miyazakis, das das Wagnis eingeht, zu versuchen, in Mahitos Jugendabenteuer | |
unzählige Bedeutungsschichten zu überlagern und autobiografische mit | |
fantastischen Elementen zu kombinieren. | |
Nicht immer greifen diese Elemente ineinander, aber schon Miyazakis Versuch | |
ist sehenswert und eindrucksvoll und zeugt von ungebrochener Lust am | |
Erzählen und Erschaffen von Welten. Am besten sieht man „Der Junge und der | |
Reiher“ wohl als filmisches Abenteuer, in dem es auch mal holpert und man | |
über Dinge stolpert. Was man als Zuschauer_in aus diesem Stolpern macht, | |
kann man sich dann nach dem Film noch fragen. | |
2 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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