# taz.de -- Animationsfilm „Die Sirene“: Wenn der Krieg in die Stadt kommt | |
> Sepideh Farsi legt einen eindringlichen Animationsfilm über die Zeit nach | |
> der Iranischen Revolution und den Iran-Irak-Krieg vor. | |
Bild: Liebe zu Kriegszeiten: Omid und Pari in „Die Sirene“ | |
Der Irak-Iran-Krieg dauerte acht Jahre, von 1980 bis 1988, und gehörte zu | |
jenen Kriegen, die „uns“ eigentlich nichts angingen. Man musste jedoch nur | |
ein bisschen bei den Hintergründen bohren und prompt sprangen einem die | |
Widersprüche der globalen Interessenskonflikte förmlich ins Gesicht. | |
Aus heutiger Sicht hat er geradezu erschreckende Aktualität, allein schon | |
was das Kriegsgeschehen als solches angeht. Der Animationsfilm „Die Sirene“ | |
von Sepideh Farsi handelt von den ersten Monaten dieses Kriegs und besitzt | |
eine Ernsthaftigkeit, auf die man als Zuschauer:in in diesem Genre nicht | |
unbedingt gefasst ist. | |
Dass Animation sich auch an Erwachsene richten kann, ist dabei genauso | |
wenig neu, wie dass Zeichentrickfilme von mehr als von sprechenden Tieren | |
handeln. 2007 wurde zum Beispiel die iranisch-französische Comiczeichnerin | |
[1][Marjane Satrapi] für die Verfilmung ihrer eigenen Graphic Novel | |
„Persepolis“ gefeiert, gerade weil sie mit den beschränkten Mitteln der | |
flächigen 2D-Animation nuancenreich und einfühlsam von sehr realen | |
Erfahrungen erzählen konnte, dem Aufwachsen eines Mädchens in einem sich | |
mit der [2][islamischen Revolution schlagartig veränderten Iran]. | |
Und 2008 brachte der israelische [3][Regisseur Ari Folman] in seinem „Waltz | |
with Bashir“ den Einsatz von Animation für den Dokumentarfilm auf ungeheuer | |
kraftvolle Weise in die Diskussion: Statt per „Reenactment“ nachzustellen, | |
wie es die frivolen Formate von True Crime und History-Channel tun, nutzte | |
Folman die Comic-Sequenzen, um von wahrhaft traumatisierenden Erlebnissen | |
zu berichten. | |
## Sensibler und vielsagender | |
Die Künstlichkeit der Zeichnung, ihr interpretatives Annähern an die | |
Realität, erwies sich bei Folman als viel sensibler und vielsagender, als | |
es jedes Reenactment könnte. Gleichzeitig erfüllte die Animation die | |
Funktion, dass sie manch schambesetzter Zeugenaussage Anonymität gewährte. | |
Der dänische Regisseur Jonas Poher Rasmussen griff 2021 für seinen mehrfach | |
ausgezeichneten Film „Flee“ – bei den Oscars gleich dreimal nominiert, in | |
den Kategorien Dokumentarfilm, Animationsfilm und Internationaler Film – | |
aus ähnlichen Gründen auf das Mittel der Animation zurück: einerseits als | |
Illustration der Schrecken, die ein afghanischer Freund auf seiner | |
schwierigen und Jahre dauernden Flucht erdulden musste, andererseits als | |
Schutzschild, um dessen persönlichen Verschuldungen und Verstrickungen ihre | |
Privatheit zu belassen. | |
Animation als Medium des Erinnerns, des Nacherlebens und Bezeugens: All das | |
spielt auch bei Sepideh Farsi in „Die Sirene“ eine Rolle. Hinzu kommt eine | |
weitere Facette, die es auch in „Persepolis“ und „Waltz with Bashir“ sc… | |
gab: ein Moment der Nostalgie nach den Orten der Kindheit und Jugend, die | |
durch Krieg oder Revolution unwiederbringlich verloren gingen. | |
Wie Satrapi ist auch Sepideh Farsi im Iran geboren und aufgewachsen. Mit 19 | |
Jahren ging sie zum Studium nach Paris. „Die Sirene“ ist ihrem Vater Rahim | |
Farsi gewidmet, der ihr, wie er im Schlussbild des Films schreibt, die | |
Stadt Abadan zum ersten Mal gezeigt habe. | |
## Film als Erinnerungsarbeit | |
Abadan im Südiran ist eine Stadt mit besonderer Topografie. In einer | |
„Luftaufnahme“ illustriert Farsi gleich zu Beginn des Films die Nähe zum | |
Wasser und zum Persischen Golf, wenn durch die gezeichnete Karte nicht | |
maßstabsgerechte Boote gen Südosten ins offene Meer abziehen. Der Fluss | |
Schatt al-Arab markiert hier die Grenze zum Irak. | |
Und unmittelbar da, günstig am Wasserverkehrsweg gelegen, ist auch das | |
riesige Areal der Ölraffinerie zu erkennen, eine der größten Anlagen des | |
Iran und der Welt. Abadan war damit ein strategisches Ziel des Kriegs und | |
wurde von September 1980 bis November 1981 belagert. | |
Den Aspekt der Erinnerungsarbeit betont Regisseurin Sepideh Farsi in „Die | |
Sirene“ durch das Einnehmen einer sehr subjektiven, von sinnlichen | |
Einzeleindrücken geprägten Perspektive. Im Schatten der Raffinerie spielt | |
der 14-jährige Omid mit seinen Freunden Fußball auf einem einfachen | |
Sandplatz. | |
Dem im Tor stehenden Omid läuft der Schweiß über die Stirn; ein Elfmeter | |
wird gepfiffen; und dann, während er nach dem Ball fliegt, erblickt Omid im | |
Himmel darüber die Bomberflugzeuge, die sich auf die Raffinerie zubewegen. | |
Erstaunt lässt er den Ball ins Netz, und dann geht hinter den Gesichtern, | |
die ihn wegen seines Aussetzers anschreien, die Ölanlage in Flammen auf. | |
## Abhauen, solange es noch geht | |
In weiteren impressionistisch-kleinen, aber gleichzeitig | |
einprägsam-emotionalen Details schildert der Film, wie es ist, wenn der | |
Krieg in die Stadt kommt: Auf dem Fahrrad kurvt Omid durch einen zum | |
Stillstand gekommenen Autoverkehr, überall stehen Menschen und weisen zum | |
Himmel oder zur brennenden Raffinerie, als könnten sie es noch nicht | |
fassen, während anderswo noch Geschäfte geöffnet und aufgeräumt werden. | |
Vor der Moschee aber fährt bereits der erste Lkw mit bewaffneten jungen | |
Männern los, darunter Omids Bruder Abed, der sich freiwillig gemeldet hat. | |
Es muss nun alles sehr schnell gehen: Omids Mutter hat bereits gepackt, um | |
die Stadt zu verlassen, solange es noch geht. Aber der Großvater weigert | |
sich, seinen Palmenhain im Stich zu lassen, und so wird entschieden, dass | |
Omid bei ihm bleiben soll. | |
So groß die Schrecken der Bombenangriffe auch sind, erlebt der 14-Jährige | |
die nächste Zeit doch auch als eine der Abenteuer, der Entdeckungen und des | |
Sich-Ausprobierens. Nachdem ein Freund seines Bruders, der Mahlzeiten | |
ausfährt, mit dem Auto verunglückt, übernimmt er dessen Job und lernt dabei | |
seine Heimatstadt auf neue Weise kennen. | |
Omids Ausfahrten nutzt der Film als Gelegenheit, um vom multikulturelle | |
Erbe Abadans und dem zu erzählen, was die islamische Revolution bereits | |
verdrängt hat. | |
## Überlagerung der Bilder | |
Da wäre der systemkritische Ingenieur, der mit seinen Katzen in einem nie | |
fertiggestellten Rohbau gegenüber der Raffinerie wohnt und den es nach | |
Alkohol verlangt. Oder der griechische Koch im Hafen, dessen Restaurant | |
Porträts von früher schmücken. Oder die armenischen Mönche, die in ihrem | |
Kloster die Ikone der Jungfrau Maria nicht im Stich lassen wollen. | |
Und das Mädchen Pari und ihre geheimnisvolle Mutter, die Sängerin Elaheh, | |
genannt die „Nachtigall des Morgenlandes“, die seit der Revolution nicht | |
mehr auftritt. Zwischen ihnen fährt Omid bald mit einer besonderen Mission | |
hin und her: Er hat am Flussufer eine „Lenj“ ausgemacht, ein iranisches | |
Fährboot, das ihn den Plan fassen lässt, sie zu reparieren, um sich und | |
seine Nächsten aus der belagerten Stadt zu bringen. | |
Farsis Film macht immer wieder Gebrauch vom der Überlagerung der Bilder und | |
der Transparenz: Die Subjektivität ihres Erzählens mit den „sprechenden“ | |
Details wie dem schwarzem Regen, der vom Himmel fällt, ermöglicht ihr, | |
nicht nur von der Gegenwart und den Ungleichzeitigkeiten in einer | |
angegriffenen Stadt zu erzählen, in der viele Menschen störrisch an ihrem | |
Alltag festzuhalten versuchen. | |
Omid läuft bereits mit seinen eigenen Erinnerungen an das Vorher durch die | |
Stadt; er fährt am Fußballplatz vorbei, der jetzt verlassen ist, oder | |
erblickt die Ruine, die einst ein Kino war, wo vor der Revolution Männer in | |
westlichen Anzügen sich mit Frauen mit offenen Haaren verabredeten. | |
Wenn am Schluss in Omids Lenj schließlich die armenischen Mönche, der | |
griechische Koch und Elaheh davonfahren, die „Nachtigall des Morgenlands“, | |
deren Bilder auch die Kisten der Soldaten auf der irakischen Seite | |
schmücken – dann verflüchtigt sich auch ein Stück Geschichte dieser | |
traditionsreichen Hafenstadt. Wer wird sich an all die Details noch | |
erinnern? | |
29 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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