# taz.de -- Neuer Comic von Joann Sfar: Die Bedrohung | |
> Joann Sfars „Die Synagoge“ ist autobiografisch und aktuell: Der | |
> französische Comicautor erzählt von erfahrenem Judenhass in seiner Jugend | |
> in Nizza. | |
Bild: Sfar beginnt seine Erzählung während des Lockdowns 2020, als er mit ein… | |
Der Hörsaal der juristischen Fakultät Nizzas ist voller Studentinnen. Nur | |
wenige Männer, darunter der Jugendliche Joann, mischen sich darunter. Ein | |
propalästinensischer Aktivist hält einen Vortrag, faselt vom degenerierten | |
Westen, [1][verharmlost den Terrorismus und propagiert Judenhass] mit | |
blumigen Worten. | |
Ekstase macht sich breit! Allzu offensichtlich nutzt der schicke, | |
dauergrinsende Redner mit der übergroßen Sonnenbrille seine provokanten | |
Phrasen auch als Anmachmasche. Einzig Joann fällt nicht auf den Blender | |
rein und denkt: „Es ist ihm gelungen, in der Zuhörerschaft jenen | |
Masochismus und Selbsthass aufzuspüren, ohne die das Verhältnis Frankreichs | |
zum Nahen Osten nie nachvollziehbar wäre.“ | |
Die beschriebene Szene ist eine Erinnerung. Joann Sfar, der 1971 geborene | |
französische Comiczeichner, thematisiert seit Beginn seiner Karriere immer | |
wieder seine jüdische Identität und erzählt, stets mit großer Leichtigkeit | |
und nie dogmatisch, von der Vielfalt des Judentums und seiner Geschichte. | |
[2][„Die Katze des Rabbiners“] ist seine bekannteste Comicreihe: Sie | |
handelt von einem Kater in Algier, der einen Papagei gefressen hat und | |
deshalb sprechen kann. | |
Sfar selbst stammt von jüdischen Algeriern ab und wurde in Nizza geboren. | |
Mit seinem neuen Werk „Die Synagoge“ (erschienen im Berliner Avant-Verlag) | |
widmet sich Joann Sfar seinem Heranwachsen in der südfranzösischen Stadt. | |
Auf rund 200 Seiten erzählt er autobiografisch, wie er als Sohn eines | |
erfolgreichen Anwalts (seine Mutter war früh verstorben) durch seine | |
jüdische Erziehung und Identität geprägt wurde. Sich selbst zeichnet er als | |
leicht dunkelhäutiges Kind mit großen Augen und dicht gelocktem Haarschopf. | |
## Tagträume mit Joseph Kessel | |
Sfar beginnt seine Erzählung während des Lockdowns 2020, als er mit einer | |
schweren Covid-Erkrankung im Krankenhaus liegt, dem Tode nahe. In seinen | |
Tagträumen unterhält sich der Künstler mit Joseph Kessel (1898–1979), einem | |
französisch-jüdischen Schriftsteller, der sich gegen Rassismus, | |
Antisemitismus und Faschismus einsetzte. Der von Sfar als rauflustiger | |
Draufgänger gezeichnete Romancier „rettet“ dem ans Bett gefesselten | |
Zeichner „das Leben“. Die Lektüre von Kessels Schriften und das Hören von | |
dessen Radioaufnahmen regten ihn vielleicht auch dazu an, auf sein eigenes | |
Leben als französischer Jude zurückzuschauen. | |
Als kleiner Junge begleitet Joann seinen Vater in die Synagoge, bekommt | |
aber Angst von den lauten Gesängen. Gerne bringt er Schlümpfe mit zum | |
Spielen, doch ist das dort nicht erlaubt. Mit 17 Jahren beschließt er, beim | |
Wachschutz der Synagoge mitzumachen, um nicht zum missliebigen Gottesdienst | |
zu müssen. | |
Schon in den 1980ern mussten, nach Anschlägen in Paris, Synagogen vor | |
Extremisten geschützt werden. Das bürgerliche Nizza ist konservativ bis | |
rechts gesinnt, Jean-Marie Le Pen und seine Partei Front National sind im | |
Aufschwung begriffen. | |
Da sein Vater sowohl juristisch wie politisch gegen Rechtsextreme vorgeht, | |
sind Vater und Sohn schon früh Anfeindungen ausgesetzt, Telefonterror und | |
Morddrohungen bestimmen ihren Alltag. Mitte der 80er häufen sich | |
antisemitische Anschläge, auch in Nizza, wo ein jüdisches Gräberfeld (mit | |
64 Gräbern) zertrümmert wird. | |
Joann besucht eine Karateschule, damit er sich gegen die Skinheads – | |
fremdenfeindliche Jugendliche aus bürgerlichem Hause, die ihm abends | |
begegnen – wehren kann. Aber nicht jeder Skinhead ist ein übler Kerl: | |
Mancher ist sogar ein guter Kumpel, mit dem der aufgeschlossene Joann gerne | |
mal abhängt. | |
## Szenen, die heute wiederkehren | |
Immer wieder überrascht Sfar mit frappanten Szenen, die jahrzehntelang | |
zurückliegen und heute – nach dem brutalen Terror der Hamas gegen Israelis | |
und dem sich anschließenden Gazakrieg – wiederzukehren scheinen: Die oben | |
erwähnte Szene an einer Uni zeigt, dass die extreme propalästinensische | |
Positionierung schon damals „hip“ war. | |
Eine weitere Erinnerung betrifft Le Pen: Der lud den früheren SS-Mann Franz | |
Schönhuber in einen Stadtpalast ein, was Beifallsstürme beim | |
gutbürgerlichen Publikum erzeugte. Antisemitische Reden wurden von | |
Politikern der rechtsnationalen „Action Francaise“ geschwungen, aber auch | |
vom langjährigen konservativen Bürgermeister Jacques Médecin. Und auch den | |
linksextremen Antisemitismus entlarvt Sfar treffend in einem einzigen | |
Panel, in der eine Altlinke geradezu schwärmerisch vom „Ausrotten der | |
zionistischen Bewegung“ faselt. | |
Joann Sfar zeichnet in seinem typischen, leicht krakeligen, sehr lebendigen | |
Stil in leuchtenden Farben und mit umso finstererem Humor das abgründige | |
und vielfach erhellende Porträt der sonnigen Metropole an der Côte d'Azur | |
in den siebziger und achtziger Jahren. Zugleich ist sein Comic eine | |
berührend gezeichnete Autobiografie. Die Lektüre von „Die Synagoge“ macht | |
bewusst, dass die heutigen Konflikte schon lange schwelen. | |
29 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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