Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Feininger-Ausstellung in Frankfurt: Zubeißen im lockeren Jugendstil
> Die Schirn Kunsthalle in Frankfurt zeigt Lyonel Feininger. Er begann als
> Karikaturist und wurde als Maler prismatischer Stadtansichten bekannt.
Bild: Auch seine späten Holzschiffe erzählen ein bißchen von seiner Comicwel…
Die mit dicken weißen Pinselstrichen gemalte Silhouette einer männlichen
Figur mit Hut erstreckt sich über die ganze Länge des hochformatigen
Bildes. Die Hände tief in der Jackentasche vergraben, wandert der schmale
Pfeifenraucher gelassen durch die Gassen einer grünlichen Stadt.
„Der weiße Mann“ von 1907 gilt als ein frühes Hauptwerk des [1][Künstlers
Lyonel Feininger (1871–1956)], der in den USA als Kind deutscher Emigranten
aufwuchs. 1888 kam er nach Berlin, um Kunst zu studieren, nachdem er seine
ursprüngliche Absicht, Musiker zu werden wie seine Eltern, schnell
verworfen hatte. In der hochgewachsenen Statur des weißen Mannes meint man
den Maler selbst zu erkennen.
In der großen Lyonel-Feininger-Retrospektive, die die Frankfurter Schirn
Kunsthalle gerade zeigt, hängt nur wenige Meter von diesem Gemälde eine
schwarzweiße Tuschezeichnung, die bereits 1906 in der französischen
Zeitschrift Le témoin publiziert wurde.
Die Karikatur ist in der Komposition mit dem Gemälde bis ins Detail
identisch. Sie trägt den Titel (übersetzt) „Das Bedauern des Mr Hearst“ u…
ist unterschrieben mit der Zeile „In Frankreich wäre ich mit 1,5 Mio.
Francs Präsident der Republik“. Eine Anspielung auf den mächtigen
US-Verleger William Randolph Hearst und dessen gescheiterte Ambitionen als
Politiker.
## Fotograf und der Schnitzer origineller Holzspielzeuge
Zumindest in der Ursprungsversion stellt der weiße Mann mit schwarzem Hut
also den prominenten Medienmogul Hearst dar, der oft einen ähnlichen
schwarzen Hut trug (wie übrigens auch [2][Orson Welles’ Interpretation im
Film „Citizen Kane]“ von 1941, dessen Vorbild Hearst war).
In der Schirn-Ausstellung mit über 160 Werken Feiningers lassen sich die
vielen Facetten des Künstlers erkunden: der Kubist, der moderne Porträtist
mittelalterlicher deutscher Städte, der späte Romantiker und poetische
Maler von Seestücken, der experimentelle Fotograf und der Schnitzer
origineller Holzspielzeuge.
Die Wurzeln seiner Kunst aber liegen in der Karikaturzeichnung. Ab 1894
ging er der Profession als „Witzblatt-Zeichner“ nach, und zählte sich schon
zwei Jahre später zu den anerkannten „Hohepriestern des Humors“, wie Lyonel
Feininger es bezeichnete. In der Schau sind Karikaturen zu sehen, die der
junge Zeichner etwa für Satireblätter wie Ulk entwarf. Überlange Figuren
wurden sein Markenzeichen. Grafisch stand er dem Jugendstil nahe,
zeichnete aber mit lockerem Strich.
Bissig thematisierte er auch die internationale Politik um 1900. Mitunter
zielte der Spott des US-amerikanischen Staatsbürgers Feininger auf die USA:
Sein Titelblatt für die Lustigen Blätter von 1904 zeigt die Freiheitsstatue
als beleibte Dame. Die Fackel der Freiheit nachlässig unter ihren kräftigen
Arm geklemmt, streckt sie dem Schiff „Deutschland“ eine lange Rechnung
entgegen: „Der erste Gruß (im Hafen von Newport): Zahlen, bitte!“, ist das
Bild kommentiert. Gemeint sind die hohen Kosten der deutschen Teilnahme an
der Weltausstellung in St. Louis, signiert ist das Blatt mit „Feininger aus
New York“.
Als Karikaturist erzeichnete sich Feininger einen derart guten Ruf, dass
ihn der bekannte Schriftsteller Georg Hermann als den „ersten von den
Berliner Zeichnern“ pries. Es war die goldene Ära der Karikatur, [3][seine
Konkurrenten in Berlin] waren etwa Heinrich Zille und Edmund Edel.
## Anfang der 1900er boomte die neue Kunstform Comic
James Keeley, der in Europa nach neuen Talenten suchende Herausgeber der
Chicago Tribune, machte Feininger Anfang 1906 ein Angebot, das er nicht
ablehnen konnte. Die neue Kunstform Comic boomte gerade in den farbigen
Wochenendbeilagen der Zeitungen, die Verleger rissen sich um bekannte
Comiczeichner wie Winsor McCay („Little Nemo“) oder Rudolph Dirks
(„Katzenjammer Kids“). So bat Keeley Feininger darum, eine neue Comicserie
für die Sunday Tribune zu kreieren.
In der Frankfurter Schau ist das Ergebnis, das farbige Titelblatt der
„Kin-der-Kids“ (1906), auf einer gut erhaltenen großformatigen
Zeitungsseite ausgestellt, sowie die Folgeseite, auf der die bunte
Figurenschar vom gezeichneten „Marionettenspieler“ Feininger selbst
vorgestellt wird. Das Comic über eine Kinderbande, die in einer
motorisierten Badewanne über die Weltmeere schippert, besticht noch heute
durch seine experimentellen Seitenlayouts, die an japanische
Farbholzschnitte erinnernde Ästhetik und aberwitzige Einfälle.
Nach neun Monaten wurde die Serie abgebrochen. Kurz danach schuf Feininger
für die Tribune einen weiteren Comic namens „Wee Willie Winkie’s World“,
der in eine kindliche Fantasiewelt entführte. Es blieben seine einzigen
Ausflüge ins Medium, seine Comics kurbelten den Verkauf der Tribune nicht
merklich an. Doch Feiningers fürstliches Salär für die Comics (20.000 Mark)
verhalf ihm dazu, einen Traum zu finanzieren: Danach konnte er für einige
Zeit nach Paris gehen und mit der Malerei beginnen.
Dominierten in den Gemälden zunächst die komischen Figuren, so wandte er
sich bald [4][den prismatischen Städten mit den erhabenen Kirchen] und
transparenten, menschenleeren Seestücken zu. Auch später tauchten groteske
Figuren auf seinen Malereien auf, wie der rätselhafte „Rote Geiger“ von
1934, den er vielfach variierte.
Feininger blieb nach 1933 zunächst in NS-Deutschland. Erst als er durch die
„Entartete Kunst“-Wanderausstellung Diskriminierung erfuhr und seine
jüdische Frau Julia sich zunehmender Bedrohung ausgesetzt sah, ging er mit
der Familie in die USA zurück.
Dort wurde seine Kunst zunehmend abstrakter. Gänzlich aufs Gegenständliche
verzichten wollte er jedoch nie. In seinen letzten Lebensjahren schuf er
eher beiläufig kleine, aquarellierte Zeichnungen von sehr abstrahierten
Figuren mit Hüten, die er als „Ghosties“ bezeichnete. Die schemenhaften
Wesen erinnern in ihren Physiognomien wieder an die Karikaturen und Comics
der frühen Jahre.
29 Dec 2023
## LINKS
[1] /Ausstellung-Lyonel-Feininger-in-Berlin/!5787834
[2] /David-Finchers-Mank-auf-Netflix/!5729051
[3] /Buchautorin-ueber-den-Berliner-Witz/!5745777
[4] /Expressionist-malt-den-Norden/!5051306
## AUTOREN
Ralph Trommer
## TAGS
Kunst
Künstler
Kunstausstellung
Karikaturist
Malerei
Fotografie
Bauhaus
Emigranten
Buch
Kunst
wochentaz
zeitgenössische Fotografie
Street Art
Hamburg
Kunst
## ARTIKEL ZUM THEMA
Deutschsprachige Fotografen im US-Exil: Bis heute auf den Titelseiten
Deutschsprachige Emigranten machten in 1930er Jahren New York zum Zentrum
der Fotografie. In „Urban Eyes“ erzählt die Kunsthistorikerin Helene Roth
davon.
Neuer Comic von Joann Sfar: Die Bedrohung
Joann Sfars „Die Synagoge“ ist autobiografisch und aktuell: Der
französische Comicautor erzählt von erfahrenem Judenhass in seiner Jugend
in Nizza.
Künstlerin Cosima von Bonin: Die alten Geister des Pop
Lang hatte man sie nicht mehr gesehen. Künstlerin Cosima von Bonin zeigt
ihre niedlichen, eher abgründigen Figuren in der Frankfurter Schirn.
NS-Exilanten in Großbritannien: Als Churchill Deutsche einsperrte
Der Autor Simon Parkin nimmt sich eines unrühmlichen Kapitels britischer
Geschichte an: Die Inhaftierung der aus Deutschland geflüchteten NS-Gegner.
Buch über das Leben Vivian Maiers: Durch die Linse der Gouvernante
Die New Yorker Fotografin Vivian Maier ist eine große Unbekannte. Die
Publizistin Ann Marks hat ihre seltsame Lebensgeschichte aufgeschrieben.
Wirbel um Künstler-Enigma Banksy: Street-Art von der Straße geklaut
Ein Stoppschild elektrisiert Großbritannien. Es wurde vom mysteriösen
Künstler Banksy verziert, aber schnell abmontiert. Scotland Yard ermittelt.
Fotografien aus New York und Hamburg: Mehr als die Wirklichkeit
Echtes Interesse am Motiv: Eine Braunschweiger Ausstellung präsentiert den
Fotografen, Fotografie-Lehrer und Architekten Andreas Feininger.
Ausstellung Lyonel Feininger in Berlin: Mit Volldampf gezeichnet
Berlin ist ein Witzblatt, Berlin ist ein stiller Hinterhof. Lyonel
Feininger hatte ein Auge für beides. Eine Ausstellung im Prenzlauer Berg.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.