| # taz.de -- NS-Exilanten in Großbritannien: Als Churchill Deutsche einsperrte | |
| > Der Autor Simon Parkin nimmt sich eines unrühmlichen Kapitels britischer | |
| > Geschichte an: Die Inhaftierung der aus Deutschland geflüchteten | |
| > NS-Gegner. | |
| Bild: Internierte Deutsche auf der Isle of Man im Mai 1942 | |
| Peter Fleischmann war 17 Jahre alt, als er englischen Boden betrat. Er kam | |
| nicht freiwillig. Als Jude von den Nazis bedroht, flüchtete der Waisenjunge | |
| Anfang Dezember 1938 mit einem der Kindertransporte auf die Insel. | |
| Gut ein Jahr später, der Zweite Weltkrieg hatte begonnen, galten die | |
| Menschen aus Deutschland und Österreich plötzlich nicht mehr als arme | |
| Geflüchtete, sondern als Sicherheitsrisiko. Der Journalist Simon Parkin | |
| beschreibt, wie sich die Stimmung innerhalb kurzer Zeit drehte, ausgelöst | |
| durch einen Zeitungsartikel über den Einsatz getarnter deutscher Nazis in | |
| den Niederlanden. | |
| So kam es dazu, dass eine der ersten Maßnahmen [1][von Winston Churchill | |
| als Premier] darin bestand, alle Immigranten aus dem Nazi-Reich festnehmen | |
| zu lassen und in Lager zu sperren. Die Furcht vor der fünften Kolonne war | |
| so allgegenwärtig, dass das Vereinigte Königreich demokratische Grundrechte | |
| außer Kraft setzte und Menschen ohne Haftbefehl oder Urteil ihrer Freiheit | |
| beraubte. | |
| ## Lager auf der Isle of Man | |
| Auch der künstlerisch begabte Peter Fleischmann entging dem nicht. Er | |
| geriet in eines von vielen Lagern, die auf der Isle of Man errichtet | |
| wurden: Hutchinson Camp. Buchautor Parkin erzählt die Geschichte dieses | |
| Lagers und die von Fleischmann beispielhaft für den Irrsinn der Regierung | |
| Ihrer Majestät, neben wirklichen Nazis Tausende deutsche Hitlergegner | |
| einzubuchten. | |
| Hutchinson war nicht irgendein Lager, es war ein Zentrum von Kreativen. | |
| Bildende Künstler, Journalisten, Theaterleute, Schriftsteller, Musiker, | |
| Professoren: Hier lebte eine Gemeinschaft mit unglaublichem Potential | |
| hinter Stacheldraht. | |
| Ein verständiger Lagerkommandant sorgte dafür, dass die Gefangenen ihren | |
| Interessen nachgehen durften. Dadaist Kurt Schwitters konnte sich ein | |
| Atelier einrichten. Heinrich Fraenkel erhielt eine Stube, um sein Buch | |
| „Help us Germans to Beat the Nazis!“ zu schreiben – und die Möglichkeit, | |
| das Manuskript ohne Zensur dem Verlag zuzusenden. | |
| Es gab Kunstausstellungen und eine Lagerzeitung. Es entstand eine Art | |
| Volkshochschule, in der Vorträge und Darbietungen jeglicher Art geboten | |
| wurden, ein Künstlercafé und sogar eine technische Schule, letztere | |
| geleitet von einem jüdischen Flüchtling, der sich zugleich als Nazi-Spion | |
| einspannen ließ (was aber erst später herauskam). | |
| Der junge Peter Fleischmann mit seiner künstlerischen Begabung aber fand | |
| die besten und kompetentesten Förderer, die sich nur denken ließen. Später, | |
| in einem anderen Leben und unter einem anderen Namen, Peter Midgley, wurde | |
| er zum Lehrer und geachteten Kunstmaler. | |
| ## Internierung von Nazi-Gegnern gebrandmarkt | |
| Simon Parkin taucht ein in dieses Panoptikum der exilierten NS-Gegner und | |
| ihrer Bewacher. Er berichtet, wie sich 1941 der Wind wieder drehte, weil | |
| mehr und mehr Briten die Internierung von Nazi-Gegnern brandmarkten und | |
| ihre Freilassung forderten. Tatsächlich kam der größte Teil der Gefangenen | |
| wieder frei, auch Peter Fleischmann, der später für die britische Armee als | |
| Dolmetscher arbeitete und zu den Übersetzern [2][im Nürnberger | |
| Kriegsverbrecherprozess gehörte]. | |
| So gebührte diesem Buch über ein in Deutschland wenig bekanntes Thema | |
| uneingeschränktes Lob – wären da nicht gewisse Ungereimtheiten, die über | |
| rein stilistische Fragen hinausgehen und beim ersten Lesen auffielen. Da | |
| ist von einer „knarrenden Tür“ die Rede, geöffnet von einem Berliner | |
| Waisenhausdirektor am 9. November 1938, der Pogromnacht. Die Tür mag | |
| geknarrt haben, nur der Direktor hat sie gewiss nicht geöffnet – weil er | |
| nachweislich gar nicht anwesend war. | |
| Da schreibt Parkin über die Broschüre von britischen Hilfsorganisationen | |
| „While You Are in England“, die die Exilierten aufforderte, auf der Straße | |
| kein Deutsch zu sprechen, und terminiert die Veröffentlichung auf den | |
| Höhepunkt des Spionagefiebers. Dabei erschien sie der Wiener Library | |
| zufolge bereits 1938. | |
| ## „Geheimes Staatsarchiv“ | |
| Ein „Geheimes Staatsarchiv“ wird zum Beleg für eine geheimdienstliche | |
| Tätigkeit – der Rezensent schwört, unregelmäßig das Geheime Staatsarchiv | |
| Preußischer Kulturbesitz zu besuchen, ohne deshalb für den BND tätig zu | |
| sein. | |
| Es mag sich bei alldem um vereinzelte Nachlässigkeiten handeln. Jedoch | |
| entsteht so der Eindruck, nicht jede getroffene Aussage des Buchs sei | |
| vertrauenswürdig. Dazu trägt bei, dass Parkin sehr zu szenischen | |
| Darstellungen neigt. Nicht nur knarren da Türen, da „flackert das Licht bei | |
| düsterer Stimmung“, und ein „Waggon rattert durch die fast vollständige | |
| Finsternis“. Das fesselt den Leser an die Lektüre. Aber ob das Licht | |
| wirklich so sehr geflackert hat – wer weiß das schon? | |
| 16 Feb 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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