# taz.de -- Jüdisches Leben in Ostpreußen: Aus einer untergegangenen Welt | |
> 1941 schrieb der Lyriker Manfred Sturmann seine Erinnerungen an den | |
> jüdischen Großvater nieder. Nun wurde „Großvaters Haus“ verlegt. | |
Bild: Königsberg um 1890 | |
Kindheitserinnerungen, das sind in Wahrheit häufig Mahnungen der Alten an | |
die Jüngeren, in denen geschrieben steht, wie es zuzugehen hat, damit es so | |
schön wird, wie es früher angeblich einmal war. Großväter erscheinen in | |
diesen Werken als weise alte Herren, ausgestattet mit unendlicher Güte, die | |
den Erzählenden in die richtigen Bahnen lenken. | |
Doch da kommt eine Neuerscheinung daher, mit dem Titel „Großvaters Haus“, | |
die ist das glatte Gegenteil des Erwarteten. Denn dieser Großvater hat | |
nichts mehr weiterzugeben. Es ist nämlich nichts mehr da. Die alte Welt, | |
von der Manfred Sturmann in seinen Erinnerungen schreibt, ist gleich in | |
dreifacher Hinsicht untergegangen. | |
Denn dieses Buch handelt erstens [1][vom deutschen Leben in Ostpreußen], | |
und das ist seit 1945 Vergangenheit. Es geht zweitens um einen jüdischen | |
deutschen Großvater namens Jakob Akiba Sturmann und eine jüdische Kindheit | |
dort, und beides ist von den Nazis ausgelöscht worden. Und zum Dritten ist | |
dieser preußische Großvater in religiös-orthodoxen Vorstellungen verhaftet, | |
die es dort schon gar nicht mehr gibt. | |
Und doch ist da nichts Weinerliches in diesem Bändchen. Sturmann berichtet | |
in wunderbar klarer Sprache vom jüdischen Alltag in Königsberg und den | |
Versuchen des in Osterode als Prediger wirkenden Großvaters, aus seinem | |
Enkel einen Religionsgelehrten zu machen, was ihm nicht gelingt. | |
## Vor dem Ersten Weltkrieg | |
Dabei war dieser Jakob Sturmann ein Patriarch, jemand, den man in seiner | |
Stadt grüßte, wenn er auf dem Bürgersteig entgegenkam, damals in der Zeit | |
vor dem Ersten Weltkrieg, als alle Welt an den Fortschritt glaubte und in | |
deutschen Kleinstädten neue Synagogen errichtet wurden, dem | |
[2][Antisemitismus] zum Trotz. | |
Und doch entgleitet dem alten Sturmann seine Gemeinde ebenso wie sein | |
Enkel. Vom Zionismus will er nichts wissen. [3][Der Erste Weltkrieg | |
zerstört die alten Gewissheiten]. Von den Nazis bekommt er nichts mehr mit. | |
Jakob Sturmann starb schon 1917. Sein Enkel Manfred rettete sich 1938 nach | |
Jerusalem. Dort ist der Autor 1989 im Alter von 86 Jahren verstorben. | |
Es ist eine eigene Geschichte, dass sich zu seinen Lebzeiten nach 1945 kein | |
Verleger fand, der dieses Buch herausbringen wollte. Die Deutschen waren | |
wohl zu sehr mit ihrem eigenen Leiden beschäftigt, als dass sie das Leiden | |
derjenigen berücksichtigen, die sie selbst vertrieben und ermordet hatten. | |
Dem Literaturwissenschaftler Dirk Heißerer ist es zu verdanken, dass man | |
jetzt endlich die Geschichten über den jüdischen Großvater lesen kann. Er | |
hat die Erinnerungen Sturmanns vorbildlich editiert und um Dokumente aus | |
dem Leben des Großvaters angereichert. | |
30 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Kritik-an-Foerderung-fuer-Museum/!5846502 | |
[2] /Antisemitismus-in-Berlin/!6009102 | |
[3] /Buch-ueber-die-Zwischenkriegszeit/!6001277 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
## TAGS | |
wochentaz | |
Politisches Buch | |
Jüdisches Leben | |
Judentum | |
Schwerpunkt Erster Weltkrieg | |
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
wochentaz | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Erfahrungen deutscher Juden in NS-Zeit: Verraten, verschleppt, verloren | |
Deportation von deutschen Jüd*innen: Die Historikerin Andrea Löw hat eine | |
eindrucksvolle historische Zusammenstellung vorgelegt. | |
NS-Exilanten in Großbritannien: Als Churchill Deutsche einsperrte | |
Der Autor Simon Parkin nimmt sich eines unrühmlichen Kapitels britischer | |
Geschichte an: Die Inhaftierung der aus Deutschland geflüchteten NS-Gegner. | |
Deportationen im Nationalsozialismus: Die letzten Bilder | |
Ein jüdischer Fotograf macht 1941 heimlich Bilder von der Deportation | |
Breslauer Jüd:innen. Die jetzt entdeckten Fotos sind einzigartige | |
Dokumente. |