# taz.de -- Ausstellung Lyonel Feininger in Berlin: Mit Volldampf gezeichnet | |
> Berlin ist ein Witzblatt, Berlin ist ein stiller Hinterhof. Lyonel | |
> Feininger hatte ein Auge für beides. Eine Ausstellung im Prenzlauer Berg. | |
Bild: Karikatur „Politsche Hochbahn“ 1903, und Porträt Feininger 1894 | |
Schwer was los auf dieser Kreuzung: Straßenkehrer nehmen die Beine in die | |
Hand, drei Herren klettern einen Laternenmast hoch, andere liegen schon | |
plattgewalzt auf dem Pflaster. Der Grund für all die Panik? Ein Paar, das | |
sich küsst in einem Automobil und das Lenken dabei vergisst. | |
Das Wimmelbild „Die Hochzeitsreise im Automobil“ stammt von Lyonel | |
Feininger und erschien 1899 in den Lustigen Blättern. Der Verkehr und die | |
Beschleunigung haben es Feininger angetan. Im Ulk erschien 1906 „Am | |
Potsdamer Platz“: Da werden Passanten mit Kanonen von Krupp über die | |
Kreuzung geschossen. Das ist witzig, aber auch ein bisschen unheimlich. | |
Lokomotiven mit scheinwerfergroßen Augen rasen durch Feiningers Comic „Wee | |
Willie Winkie’s World“, Häuser reißen erschreckt die Fensteraugen auf, | |
Hasen jagen davon. Das war 1906 ein Spaß für Kinder, den Feininger für die | |
Chicago Sunday Tribune entworfen hatte. | |
Aber es gibt auch Züge, die sehr symbolisch gemeint sind: In „Politische | |
Hochbahn“, 1903 in den Lustigen Blättern, rasen auf der Kreuzung zweier | |
Hochbahntrassen drei Züge aufeinander und einen Mann in der Mitte zu. Dies | |
soll Reichskanzler Bernhard von Bülow sein, bald zermalmt zwischen Zügen | |
der SPD, der katholischen Zentrumspartei und der Deutschkonservativen. Die | |
ausweglose Situation des Männchens in der Mitte erkennt jeder; für die | |
weitere Deutung braucht man schon die Erklärungen, die in der Galerie | |
Parterre ausliegen. | |
## Karikatur braucht Klischee | |
„Lyonel Feininger in Berlin mit einem Exkurs zu Heinrich Zille“ heißt die | |
Ausstellung, die viele der Auftragsarbeiten von Feininger zeigt. Die | |
begleiten lange den Werdegang des Künstlers, bringen ihm Erfahrungen, eine | |
schnelle Produktionsweise und finanzielle Unabhängigkeit. | |
Die ausgestellten Witzblätter und Karikaturen, meist aus der Sammlung des | |
Kunsthistorikers Roland März stammend, sind reich an narrativen und | |
ästhetischen Formen. Teils wimmeln sie von Figuren, teils sind sie elegant | |
und dekorativ stilisiert: Wie im unten abgebildeten Blatt, das vier vor | |
Neid auf die deutsche Marine (im Hintergrund) gelbe Briten in grünen | |
Tweedanzügen zeigt. Ohne Klischee keine Karikatur. | |
Lyonel Feininger war ein Amerikaner in Berlin. Mit Unterbrechungen lebte er | |
drei Jahrzehnte hier, zwischen 1887 und 1937. Mit Stetson, Pfeife und in | |
Tweedanzügen pflegte der große Mann das Bild des Amerikaners. Als | |
16-Jähriger war er seinen Musikereltern nach Deutschland gefolgt und blieb, | |
bis er, i[1][nzwischen Bauhauslehrer (1919–1932)], von den Nazis vertrieben | |
wurde. | |
Er selbst war ein begeisterter Radfahrer, ein Foto zeigt ihn mit Rad der | |
Marke Cleveland vor einem Radladen am Kurfürstendamm. Kein Wunder, dass | |
auch Radrennen zu seinen Motiven gehören. | |
Ein anderer Feininger als in den Karikaturen zeigt sich in den meist | |
kleinen Zeichnungen und Grafiken der Ausstellung, freie Arbeiten des | |
Künstlers, die dem Stadtbild von Berlin und Umgebung gelten: die Brandwände | |
hoher Wohnhäuser, ein Kirchturm in Teltow. | |
Es sind stille Bilder, fast beschaulich, von einer ganz anderen Atmosphäre | |
als die von Beschleunigung geprägten Karikaturen. Oft kündigt sich da der | |
spätere Feininger an, den man mit seinen großen, [2][expressiv-kubistischen | |
Stadtansichten aus den Museen] kennt. Ein Holzschnitt von einer „Windmühle | |
in Werder“ von 1918 ist schon von der prismatischen Zersplitterung der | |
Flächen, der Simultanität mehrerer Perspektiven geprägt, die den | |
klassischen Feininger ausmachen. | |
## Wenig Raum für freie Kunst | |
Seine Zeit in Berlin und seine Arbeit als Karikaturist waren auch | |
Lehrjahre. Die Themen, manchmal selbst die Farben der Karikaturen | |
bestimmten die Redakteure. Die Arbeit half dem Künstler zwar, seine Familie | |
– zwei Töchter aus erster, drei Söhne aus zweiter Ehe – zu ernähren, aber | |
ließ ihm auch nicht viel Raum für die freie Kunst. | |
Der Kunsthistoriker Roland März, [3][der 1998 eine große | |
Feininger-Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie] eingerichtet hatte, | |
war ein Sammler seiner Karikaturen. Er starb 2020. Zusammen mit Sebastian | |
Ehlert, Mitarbeiter im Moeller Fine Art Project/The Lyonel Feininger | |
Project, New York – Berlin, hat er an einer Publikation über Feiningers | |
Jahre in Berlin gearbeitet. | |
In einem Vorabdruck in der Publikation zur jetzigen Ausstellung berichten | |
sie detailliert von Feiningers Freundschaften und Kontakten, Aufträgen – | |
250 Etiketten für Zigarren gezeichnet, um einen Parisaufenthalt zu | |
finanzieren – und auch von seiner Selbsteinschätzung: Später, als | |
Bauhauslehrer, betrachtete er seine Zeit als Karikaturist als harte Schule, | |
bei der er viel gelernt habe. | |
Die Karikaturen, die meisten aus der Zeit des Kaiserreichs, sind nicht | |
immer einfach zu entschlüsseln, begleitende Erläuterungen braucht es da | |
schon. Wo sie sich auf die internationale Politik beziehen, kommen [4][die | |
Kolonialmächte und deren Interessen] ins Spiel. Die Karikaturen sind dort | |
oft nicht frei von Klischees, die heute als rassistisch zu erkennen sind. | |
Deshalb hat die Galerie Parterre Kunsthistoriker und Politikwissenschaftler | |
zu einem Gespräch über „Kolonialrassismus in Feiningers Karikaturen?“ | |
eingeladen, am 12. August. | |
31 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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