# taz.de -- Debatte um den Nahost-Konflikt: „Ich werde nicht mehr gesehen“ | |
> Politiker fordern von arabischstämmigen und muslimischen Menschen, sich | |
> von Terror zu distanzieren. Das schließt sie aus, sagt Raid Naim. | |
Bild: Raid Naim in Berlin: „Es ist ja nicht so, dass ich eine andere Zugehör… | |
Mir geht es nicht gut. Ich bin extrem müde. Und zerrissen zwischen Wut und | |
Angst, Kampf und Kapitulation. | |
Mein ganzes Leben ist geprägt von meiner Beziehung zum Nahostkonflikt und | |
zu Deutschland. In jedem Krieg zwischen Israel und Gaza gab es für mich | |
bisher immer einen Weg, mit den Widersprüchen klarzukommen. Ich habe im | |
deutschen Diskurs Punkte gesehen, an die ich anknüpfen konnte. Ich hatte | |
den Eindruck, man kann nachempfinden, wie es mir als jemandem mit enger | |
Familie in Gaza geht. Doch dieses Mal ist da vollkommene Dunkelheit. | |
Zum ersten Mal überkommt mich das Gefühl: Ich werde nicht gesehen als der, | |
der die letzten 45 Jahre in Deutschland gelebt hat. Als der, der die | |
deutsche Gesellschaft mitgestaltet hat. Die Politik adressiert mich als | |
Teil eines Kollektivs und greift dieses heftig an: [1][Bundespräsident | |
Frank-Walter Steinmeier fordert bei einem runden Tisch], dass Menschen | |
„[2][mit palästinensischen oder arabischen Wurzeln]“ sich persönlich von | |
der Hamas und von Antisemitismus distanzieren sollen. Warum? Weil ich und | |
die Hamas dieselbe Haut- oder Haarfarbe haben? Niemand hat [3][nach den | |
Enthüllungen über Aiwanger] von den Bayern gefordert, sich von | |
Antisemitismus zu distanzieren. Es wird immer einen Unterschied zwischen | |
Deutschen aus Bayern und Deutschen mit arabischen Wurzeln geben. | |
In den 90ern habe ich gegen Abschiebungen demonstriert, neben | |
Politiker*innen wie Claudia Roth, die jetzt die Entscheidungsträger in | |
den Parteien sind. Aber jetzt bricht gerade etwas aus: Als der | |
CDU-Vorsitzende Friedrich Merz gefordert hat, [4][Einbürgerungen an | |
Bekenntnisse] zu knüpfen, und dann pauschal alle „jungen Männer“ aus Gaza | |
des Antisemitismus bezichtigte, dachte ich, das zeige ich an! Dann wache | |
ich eines Morgens auf und sehe [5][Olaf Scholz auf dem Spiegel-Cover]. Ich | |
dachte erst, das ist eine Montage. | |
## Der große Bruch ist für mich die fehlende Empathie | |
Aus [6][der FDP fordern sie nun, zwischen „Grundrechten für deutsche | |
Staatsbürger“] und „Jedermannsrechten“ zu unterscheiden. Auch [7][Aiwang… | |
kann sich wieder rehabilitieren]. Der kann vom importierten Antisemitismus | |
fabulieren, und niemand protestiert. Der rassistische, bösartige, | |
extremistische Diskurs ist innerhalb weniger Tage Mainstream geworden. Der | |
[8][Kolumnist Jan Fleischhauer redet von „Aggro-Arabern“], | |
[9][Politiker*innen teilen lobend die rechtsextremen Aussagen eines | |
Douglas Murray], und [10][Jens Spahn ordnet Judenhass] als Teil von | |
migrantischer Kultur ein. | |
Die deutsche Diskussion läuft ja gerade unabhängig davon, was in Israel und | |
Gaza passiert. So etwas gab es früher auch schon, etwa nach dem 11. | |
September. Es gab einen echten Diskurs. Jetzt glaube ich nicht mehr daran. | |
Wir sind jenseits des Punktes, an dem wir noch sinnvoll einsteigen, | |
argumentieren und den Diskurs drehen können. Wir sind schon tief im | |
reaktionären Deutschland angekommen. | |
Der große Bruch ist für mich die fehlende Empathie. Aus meinem deutschen | |
Netzwerk kommt kaum eine Reaktion, wenn ich mich äußere. Von israelischen | |
und arabischen Freund*innen oder aus dem internationalen Kontext bekomme | |
ich viele Nachfragen und Mitgefühl. Sie erkennen an, dass ich gerade | |
Schreckliches erlebe. | |
Aber von offizieller Seite hieß es in der [11][Bundespressekonferenz zur | |
Frage nach 10.000 getöteten Palästinenser*innen] nur: „Zu den Zahlen | |
können wir nichts sagen.“ Die wollen uns nicht sehen. Lebend nicht, tot | |
auch nicht. Wir sind unsichtbar geworden. Dabei hätte es dutzende | |
diplomatische, genauso nichtssagende Floskeln gegeben, die aber | |
menschlicher wären. Nicht mal das sind wir wert. | |
## Es geht „euch“ um euch selbst | |
Ein Freund sagte mir, das ist Ratlosigkeit. Im Zweifel stellt man sich auf | |
eine Seite, weil man bisher gut damit gefahren ist. Die Ratlosigkeit in der | |
Politik erklärt aber nicht die Empathielosigkeit auf der menschlichen | |
Ebene. Meine Theorie dazu ist: Es ist Ratlosigkeit für die einen. Für die | |
anderen befriedigt es ein Verlangen nach einer nationalen Identität. Für | |
Teile der Gesellschaft gibt es eine Projektion auf Israel und Israel muss | |
nun herhalten als Identität, die man grenzenlos bis fanatisch feiern kann. | |
Es geht „euch“ gar nicht um Jüdinnen und Juden oder um Israel. Es geht | |
„euch“ um euch selbst. | |
Bis vor etwa drei Wochen war bei Problemen in Deutschland immer mein | |
Gedanke: Das ist auch mein Problem. Jetzt denke ich: Das ist euer Problem. | |
Ein sehr deutsches Problem. Und das müsst ihr lösen. Denn genau bei diesem | |
„Problem“ durfte ich nie mitreden. | |
Es ist ja nicht so, dass ich eine andere Zugehörigkeit oder ein anderes | |
Zuhause hätte. Ich habe noch nie in Gaza gelebt. Aber so, wie es jetzt ist, | |
muss ich mir etwas anderes, Neues aufbauen. Keine nationale Identität, das | |
brauche und will ich nicht. Ich brauche einen kulturellen und | |
intellektuellen Bezug, der mich nicht kollektiv ausschließt. | |
Dieser [12][Aufruf in der Rede von Steinmeier, sich zu distanzieren], | |
bedeutet, dass ich mitverhaftet bin. Als deutscher Staatsbürger bin ich | |
nicht sicher davor, in Sippenhaft genommen zu werden. Wir müssen verstehen, | |
dass die Mehrheitsgesellschaft nicht dauernd das Recht hat, von einer | |
ethnischen Minderheit zu verlangen, sich zu positionieren oder | |
distanzieren. Dahinter steht die Annahme, dass man von Geburt an, über die | |
DNA oder die Identität mit etwas verbunden ist. Solche Annahmen sollten in | |
einer Demokratie gar nicht möglich sein. | |
Die Frage ist grundsätzlicher, als es vielen erscheint. Es geht darum, ob | |
wir als Individuen zusammenleben können – oder nicht. | |
Protokoll: Uta Schleiermacher | |
21 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier… | |
[2] /Runder-Tisch-im-Schloss-Bellevue/!5968568 | |
[3] /Antisemitismus-und-Hubert-Aiwanger/!5956117 | |
[4] /Scharfe-Toene-zu-Migration/!5965251 | |
[5] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/olaf-scholz-ueber-migration-es-k… | |
[6] https://www.fr.de/politik/antisemitismus-demonstration-palaestina-fdp-grund… | |
[7] /Umgang-mit-dem-Fall-Aiwanger/!5957990 | |
[8] https://www.focus.de/politik/meinung/kolumne-wen-wollen-wir-eigentlich-habe… | |
[9] /Douglas-Murray-und-Nahostkonflikt/!5969863 | |
[10] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/lanz-spahn-antisemitismus-muslime-d… | |
[11] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/regierungspressekonferenz/2630… | |
[12] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundespra… | |
## AUTOREN | |
Uta Schleiermacher | |
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