| # taz.de -- Palästinensisches Leben in Berlin: Bedrückende Sicherheit | |
| > Ein palästinensischer Journalist entgeht in Gaza nur knapp dem Tod. Nach | |
| > zweieinhalb Jahren auf der Flucht beginnt er ein neues Leben in Berlin. | |
| Bild: Saleh Almabhouh in seiner Kammer | |
| Berlin taz | Saleh Almabhouh lebt in einem 9-Quadratmeter-Zimmer im | |
| Wedding. „Gott hat ein neues Leben für mich geschrieben“, sagt der | |
| 28-jährige Palästinenser, während er Nüsse aus einer Tüte auf einen Teller | |
| kippt. Sein Blick ist hellwach, doch seine Augen verraten, dass ihn sein | |
| noch junges Leben mehr Kraft gekostet hat, als eine menschliche Seele | |
| normalerweise ertragen kann. Seine Flucht aus Gaza begann 2021, bis er | |
| endlich Berlin erreichte, wo er seit Juli 2023 in der kleinen Kammer wohnt. | |
| Nach seiner Ankunft in Berlin verbringt Almabhouh die ersten Monate im | |
| Erstaufnahmezentrum für Geflüchtete auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof, | |
| bis er sein jetziges Zimmer im Wedding bekommt. Hier sei sein neues | |
| Zuhause, erklärt der junge Mann, während er sich vergewissernd in dem Raum | |
| umsieht. Ein Schrank, ein Bett und eine Kommode, auf der ein Fernseher | |
| steht, dessen Bildschirm weite Teile der Wand bedeckt. Mehr besitzt er | |
| nicht. Das Bad und die Küche teilt er sich mit zwei Männern aus Tunesien | |
| beziehungsweise der Türkei. | |
| Er fühle sich sicher in Berlin, sagt er nach kurzem Zögern. Auch wenn er | |
| bislang nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung hat. Und obwohl er | |
| gleich nach seiner Ankunft von vier Sicherheitskräften an einem U-Bahnhof | |
| festgehalten und geschlagen worden sei, weil er kein Ticket vorzeigen | |
| konnte, wie er erzählt. Aber abgesehen davon habe er nur gute Erfahrungen | |
| mit den Menschen hier gemacht. | |
| Saleh Almabhouh arbeitet seit einiger Zeit in einer Pizzeria in Schöneberg. | |
| An sechs Tagen in der Woche jeweils zehn Stunden, ohne Pausen, sagt er. Am | |
| Abend erhält er dafür 100 Euro. Den Großteil des Geldes schickt er seiner | |
| Familie nach Gaza. Eigentlich ist Almabhouh studierter Journalist. 2015 | |
| begann er, den Alltag im Gazastreifen zu filmen. Das wurde ihm schließlich | |
| zum Verhängnis. | |
| ## Almabhouhs Flucht aus Gaza begann schon 2021 | |
| „Am 24. Dezember 2018 filmte ich bei einer friedlichen Demonstration an der | |
| nördlichen Grenze von Gaza, als ein israelischer Scharfschütze eine Kugel | |
| auf meine Kamera abfeuerte“, erzählt er. „Ein Splitter des Geschosses traf | |
| mich in die Brust.“ Ein Foto zeigt die etwa zwei Zentimeter große | |
| Einschlagstelle unter seinem linken Schlüsselbein, die aussieht wie der | |
| Krater eines Miniaturvulkans. Die Narbe bereite ihm noch heute manchmal | |
| Schmerzen, sagt er und fügt hinzu: „Nach dem Angriff war für mich klar, | |
| dass ich Gaza verlassen muss.“ | |
| Auch wenn Almabhouh sich in Berlin wohlfühlt, hat sich sein Leben [1][seit | |
| dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023] und dem | |
| darauffolgenden Angriff Israels auf Gaza stark verändert. Der Krieg ist | |
| zwar in der Ferne, aber für ihn dennoch nah. Denn seine Familie befindet | |
| sich noch in Gaza und die Wunden der eigenen Gewalterfahrung brechen wieder | |
| auf. | |
| „Ich lebe in einem Körper ohne Seele“, antwortet er auf die Frage, wie er | |
| sich fühlt, wenn er über sein ehemaliges Zuhause spricht. Dann erzählt er | |
| mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme von dem Bombenangriff der israelischen | |
| Armee auf sein Elternhaus am 12. November vergangenen Jahres: „Meine | |
| Eltern, meine Schwester, mein Bruder und ihre Kinder, sie sind alle tot.“ | |
| Er öffnet den Familienchat auf Whatsapp, in dem die meisten Nummern | |
| deaktiviert wurden. [2][Er zeigt Fotos einer verwüsteten Straße, von | |
| lebenden und auch inzwischen verstorbenen Menschen], deren Namen er | |
| aufzählt. Dann schweigt er einen Moment, bevor er fortfährt: Die | |
| israelische Armee habe alle Häuser in der Straße unter Beschuss genommen. | |
| Seine früheren Nachbarn hätten den Angriff alle wie durch ein Wunder | |
| überlebt, sagt er und schiebt ein leises „In schāʾa ʾllāh“ („so Gott… | |
| hinterher. | |
| ## Vor den Teilnehmenden erzählt er seine Fluchtgeschichte | |
| Ein paar Stunden später steht der junge Palästinenser an der Theke seiner | |
| Arbeitsstelle. Vor Kurzem hat er seine Arbeitszeiten verdoppelt. Die | |
| Situation seiner verbliebenen Familie und der Krieg belasten Saleh | |
| Almabhouh schwer, er findet nur noch sporadisch Schlaf. Der Alltag in | |
| Berlin geht für ihn trotzdem weiter. Während seine Familie in permanenter | |
| Lebensgefahr ist, schiebt er fortlaufend Pizzen in den Ofen. | |
| Heute wird er seine Schicht etwas früher beenden, um in dem sonntäglich | |
| stattfindenden „Palästina Café“ im Wedding seine Geschichte zu erzählen. | |
| Seit Oktober 2023 treffen sich dort Menschen mit unterschiedlichen | |
| Nationalitäten, um gemeinsam zu essen, sich auszutauschen und | |
| Solidaritätsaktionen für die Bevölkerung in Gaza zu organisieren. | |
| Er sei oftmals der einzige Palästinenser, sagt Almabhouh. Jemanden aus Gaza | |
| habe er dort noch nie getroffen, aber immerhin könne er sich in seiner | |
| Muttersprache verständigen. Vor rund 50 Teilnehmenden erzählt er seine | |
| Fluchtgeschichte und vom Schicksal seiner Familie. Gegen Ende schaltet er | |
| seine 13-jährige Nichte Lana per Telefon aus dem Gazastreifen dazu. Sie | |
| schildert dem Berliner Publikum ihre Eindrücke aus Dschabalja, dem größten | |
| der palästinensischen Flüchtlingslager im nördlichen Gaza. | |
| Hier lebt sie inzwischen mit ihren Eltern, seitdem ihr Zuhause zerstört | |
| wurde. Als im Hintergrund die israelischen Kampfjets zu hörten sind, redet | |
| Lana lauter. Seit Wochen habe ihre Familie nicht mehr auskömmlich gegessen, | |
| sagt sie. Nachts würde man Kinder vor Hunger weinen hören. Mittlerweile | |
| würde die Familie von Tierfutter leben, bald müssten sie wahrscheinlich | |
| streunende Katzen und Hunde auf dem Grill zubereiten. Dabei ernähre sich | |
| ihre Familie eigentlich vegetarisch, sagt sie, während sich bei Almabhouh | |
| sorgenvoll die Stirn zusammenzieht. | |
| [3][Der junge Palästinenser ist sich bewusst], dass seine Möglichkeiten, | |
| seiner Familie in Gaza zu helfen, begrenzt sind. Untätig bleiben kann er | |
| aber auch nicht. Deshalb hat er vor Kurzem auf einem Online-Portal [4][eine | |
| Spendenkampagne geschaltet]. Als Ziel hat er 70.000 Euro angegeben. Damit | |
| könne er für zehn Personen den Grenzübertritt nach Ägypten bezahlen, sagt | |
| er. | |
| ## Vier Nächte verbringt Almabhouh im Gefängnis von Bodrum | |
| Sollte das Etappenziel erreicht werden, wolle er den Betrag auf das | |
| Doppelte erhöhen, um allen 19 Familienmitgliedern die Flucht aus dem | |
| Gazastreifen zu ermöglichen. So weit ist er aber noch lange nicht: Rund | |
| 1.500 Euro sind bislang auf dem Konto eingegangen. In einem Update vom | |
| vergangenen Freitag schreibt er: „Vor zwei Wochen konnte ich meiner Familie | |
| 1.500 Euro senden, gestern weiter 500 Euro. Mit dem Geld können sie sich | |
| Mehl und andere dringend benötigte Lebensmittel und Hygieneartikel kaufen.“ | |
| Es scheint, als könnten nur ein paar göttlich angefügte Nullen helfen, | |
| damit Almabhouh seine Familie nach Deutschland holen kann. Anschließend | |
| müsste dieser Gott seine Hand über die Familie halten, damit sie die | |
| gefährliche Flucht auch überlebt. | |
| So wie Saleh Almabhouh selbst. Als er im vergangenen Jahr in Berlin | |
| ankommt, hat er eine zweijährige Odyssee hinter sich. Im April 2021 | |
| überquert er die südliche Grenze des Gazastreifens nach Ägypten. Mit seinem | |
| Handy hat er die 28 Monate seiner Flucht dokumentiert. Er geht zuerst nach | |
| Kairo, wo er sich mit dem Wenigen, was er gespart hat, ein Flugticket nach | |
| Istanbul kauft. Von dort bricht er Anfang 2023 zur Halbinsel Bodrum an der | |
| türkischen Ägäis auf. | |
| Bis zur griechischen Insel Kos sind es von dort noch rund zwölf Kilometer | |
| Seeweg. Statt wie viele andere Geflüchtete in ein überfülltes Schlauchboot | |
| zu steigen, das die gefährliche Überfahrt vielleicht nicht übersteht, will | |
| Almabhouh schwimmen. Es ist ein waghalsiges Unterfangen: Selbst mit guter | |
| Kondition dauert die Strecke mehrere Stunden und Anfang des Jahres ist das | |
| Wasser eisig kalt. Hinzu kommen unberechenbare und gefährliche Strömungen. | |
| Doch Saleh Almabhouh hat einen Neoprenanzug und geht das Risiko ein. | |
| Sein erster Versuch, über das Mittelmeer nach Griechenland zu schwimmen, | |
| scheitert. Er unterschätzt die Strömung und schließlich entdeckt ihn die | |
| griechische Küstenwache in den Wellen. Statt dem unterkühlten Mann eine | |
| Decke zu reichen, hätten die Beamten ihn mit Elektroschocks gequält, bevor | |
| sie ihn der türkischen Polizei übergaben, erzählt Almabhouh. Möglicherweise | |
| als Abschreckung vor einem einen weiteren Fluchtversuch oder als | |
| Bestrafung, mutmaßt er. So oder so wäre das Vorgehen illegal, weil ihm | |
| dadurch das Recht auf ein Asylverfahren verwehrt wurde. | |
| Menschenrechtsorganisationen berichten immer wieder von solchen Pushbacks | |
| an der griechisch-türkischen Grenze. | |
| ## Er muss schwimmen für seine Freiheit | |
| Vier Nächte verbringt Saleh Almabhouh im Gefängnis von Bodrum. Nach seiner | |
| Entlassung muss er sich fünf Tage lang von den Belastungen erholen, dann | |
| schnappt er sich seinen Neoprenanzug und wagt einen zweiten Versuch. Er | |
| muss schwimmen für seine Freiheit. Dieses Mal schafft er es: Nach acht | |
| Stunden erreicht er Griechenland. Danach verläuft seine Flucht nach Berlin | |
| fast reibungslos. | |
| Die temporäre Aufenthaltserlaubnis, die Almabhouh bekommen hat, bietet dem | |
| jungen Mann jedoch keine langfristigen Perspektiven. Eine Anerkennung als | |
| politisch Verfolgter hätte ihm dauerhaftes Asyl gewährt, doch seine Narben | |
| von der Schussverletzung waren für die Behörden nicht ausreichend. Im Juli | |
| muss er die Verlängerung seines Aufenthaltsstatus beantragen. Wie es bis | |
| dahin mit seiner Familie weitergeht, steht in den Sternen. | |
| 3 Apr 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christoph Mayer | |
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