# taz.de -- Leben nach dem 7. Oktober: Als hätte sich die Welt zersetzt | |
> Für unsere Autorin ist seit dem Massaker der Hamas nichts mehr, wie es | |
> war. Sie plädiert für mehr Zuhören, mehr Empathie und Anteilnahme. | |
Bild: Angehörige trauern um ihre Angehörigen, die im Kibbuz Beeri getötet wu… | |
An alle, die ihr euer normales Leben in den vergangenen sieben Wochen | |
weiterleben konntet: Ihr wisst nicht, wie wir, deren Leben seit dem | |
[1][7. Oktober] ein anderes ist, uns fühlen. Ihr wisst nicht, was das für | |
ein Schmerz ist. | |
Manchmal ist er dumpf und breitet sich betäubend im ganzen Körper aus. | |
Manchmal ist er wie ein fester Schlag in die Magengrube, den man nicht hat | |
kommen sehen. Manchmal sticht er scharf ins Herz. Manchmal macht er ganz | |
benommen, dann wiederum scheint der Kopf zu explodieren. Hinzu kommen | |
Panikattacken, Albträume, Schlaflosigkeit und permanente Schwere. Auf die | |
Dauer zermürbt es. Während euer Leben weitergeht, stecken wir in jenem | |
Samstag fest. Wir versuchen, die Bilder der enthaupteten Babys, der | |
vergewaltigten Frauen und der massakrierten Leichen zu verdrängen, um den | |
Verstand nicht zu verlieren. | |
Ihr wisst nicht, wie laut euer Schweigen dröhnt. Wie gewaltvoll eure | |
Teilnahmslosigkeit ist. Wie sehr uns das an eine Zeit erinnert, in der eure | |
Großeltern und Urgroßeltern schwiegen oder Schlimmeres. Ihr werdet es | |
niemals wissen. Ein Privileg, das ihr euch weigert anzuerkennen. | |
Ihr wisst nicht, dass wir, wenn wir unsere Häuser verlassen, nun einen | |
prüfenden Blick an unsere Hauswand werfen, um zu kontrollieren, ob dort | |
[2][ein Davidstern hingeschmiert] wurde, der uns markieren und entblößen | |
soll. Ihr wisst nicht, dass wir, wenn wir mit der Bahn fahren oder Einkäufe | |
erledigen, andere Sprachen sprechen, Themen vermeiden, Symbole verdecken. | |
Ihr wisst nicht, dass wir uns Gedanken machen, wohin wir gehen könnten, | |
euch verlassen, um dann festzustellen, dass wir nirgends hinkönnen, wo wir | |
sicher wären. Wo könnte es sicherer sein als unter den selbsternannten | |
Erinnerungsweltmeistern? Unter denen, die noch vor zwei Jahren unsere | |
[3][fast 2.000-jährige Verankerung] auf ihrem, auf eurem Land betonten? | |
Während die Zeitrechnung für das Land, aus dem wir kommen, erst seit 75 | |
Jahren zu existieren scheint. Ihr wisst nicht, dass wir in Trauer sind | |
wegen so vieler Ermordeter. | |
Ich trauere um alle, die einfach nur ein friedliches und sicheres Leben | |
leben wollten und es nicht haben durften. Ich bin in Sorge um alle, die in | |
Angst sind, ich bin in Sorge um die Zukunft. Ihr wisst nicht, wie es ist, | |
allein dazustehen. Die Freund*innen, Bekannten und Verbündeten plötzlich | |
weg bis auf wenige. Ihr wisst nicht, wie schrill unsere transgenerationalen | |
Traumata aufschreien. Wie unsere Geschichte aus Verfolgung, Gewalt und Mord | |
zur Gegenwart geworden ist und wir es nicht haben kommen sehen. Ihr wisst | |
nicht, wie es sich anfühlt: die Überlagerung des andauernden Kriegs in der | |
Ukraine und des Pogroms vom 7. Oktober. Ihr wisst nicht um diese | |
Zerfaserung. Als hätte sich die Welt in ihre kleinsten Teilchen zersetzt. | |
Ihr wisst nicht, wie viel Stärke wir von- und miteinander bekommen. Ihr | |
werdet es niemals wissen. Es ist die Resilienz derer, deren Auslöschung | |
wahnhaft gefordert wird. Ihr wisst nicht, wie es ist einen Humor daraus zu | |
entwickeln, über Jahrhunderte perfektioniert: dieser bittersüße Geschmack. | |
Ihr wisst nicht, dass wir dachten, wir wären ein Wir. Natürlich mit unseren | |
Konflikten und noch nicht überwundenen Stereotypen und Ressentiments – aber | |
trotzdem ein Wir. | |
Nach dem 7. Oktober ist klar: Es gibt ein Wir und ein Ihr. Und da ihr all | |
das nicht wisst, müsst ihr uns zuhören und ernst nehmen. Und wenn ihr es | |
nicht für uns tut, dann tut es für euch, damit eure Kinder und Kindeskinder | |
nicht lernen müssen, dass ihr geschwiegen habt und sich Geschichte | |
wiederholt. | |
25 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katja Sigutina | |
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