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# taz.de -- Jugend im Westjordanland: Träumen, trotz Krieg
> Der Krieg in Gaza lässt auch die Konflikte im Westjordanland mit neuer
> Heftigkeit aufbrechen. Wie blickt die junge Generation dort in die
> Zukunft?
Ramallah und Beit Jala taz | Müde blickend steht Jasmin Ismail* vor den
Toren der Schule, zwischen den Säulen aus hellem Sandstein und den Bäumen
des Gartens und versucht, eine Welle der Wut aufzuhalten, die sie nicht
heraufbeschworen hat. Das Chaos, das außerhalb der Schulmauern herrscht, in
geordnete Bahnen zu lenken. Ein Chaos, das seit über drei Wochen, [1][seit
die Hamas am 7. Oktober Israel angegriffen hat und Israel in Gaza
zurückschlägt], wie eine massive Welle über den Nahen Osten rollt.
Seit fast einem Monat versucht Jasmin Ismail, die in Wahrheit anders heißt,
Leiterin einer privaten Schule in Ramallah, dem Unberechenbaren
standzuhalten, es ins Berechenbare zu verwandeln. Die Unsicherheit in
geordnete Schichtpläne und Termine zu drücken: in Gesprächen mit den
Eltern, mit Kolleg*innen, in Alternativen, in Plan B, Plan C und auch mal
D. Ismail bittet darum, den Namen der Schule nicht zu nennen. Die
[2][Stimmung ist aufgeheizt, auch im Westjordanland].
Jetzt, in der Pause, laufen Teenager*innen in Schuluniform zwischen den
Kiefern herum, lachen, plaudern, essen Manakish: Fladenbrot mit Olivenöl
oder Käse. Kindergeschwätz hallt auf dem Hof wider. Ein alltäglicher
Anblick, in einer Lage, die alles andere als alltäglich ist. „Kinder
brauchen Strukturen, sie brauchen Routinen. Und wir versuchen, ihnen ein
Gefühl von Normalität zu vermitteln – wenn eigentlich nichts normal ist“,
sagt Ismail, westliche Kleidung und resignierter Blick. Doch ihre Aufgabe
ist eine nahezu unmögliche.
Am 7. Oktober ist die Fassade der Normalität für viele Kinder im
Westjordanland in sich zusammengestürzt. Eine Fassade, die bereits zuvor
immer wieder Risse bekam.
„Sehr viel hat sich verändert, seit Beginn des Konflikts“, erzählt die
17-jährige Lina*. „Es ist sehr schwer für uns, weiter zu lernen mit all
dem, was um uns herum passiert. Es ist sehr stressig. Es ist immer diese
Angst da, die Unwissenheit, was als Nächstes passieren könnte.“
Eigentlich gilt Ramallah als sicheres Gebiet, wenn es so etwas wie ein
sicheres Gebiet im Nahostkonflikt gibt: 40.000 Einwohner*innen, Sitz der
Palästinensischen Autonomiebehörde, die seit 1994 Teile des Westjordanlands
verwaltet. Während im Gazastreifen die radikalislamistische Hamas herrscht,
regiert hier die gemäßigte Partei Fatah unter Leitung des 87-jährigen
Präsidenten Mahmud Abbas, der inzwischen mehr Ansehen im Ausland als zu
Hause genießt.
Doch in den Wochen nach dem 7. Oktober sind laut palästinensischem
Gesundheitsministerium mindestens 153 Menschen in der Westbank gestorben,
meistens bei Konfrontationen mit israelischen Streitkräften und teilweise
mit israelischen Siedler*innen. Mehr als 2.000 Menschen wurden verletzt.
Unter den Toten befinden sich laut der Menschenrechtsorganisation Defense
for Children International Palestine und dem Palästinenser-Hilfswerk UNRWA
mindestens 44 Kinder. Die Zahlen decken sich mit denen des Kinderhilfswerks
der Vereinten Nationen.
Seit dem [3][Sechstagekrieg 1967] befindet sich die Westbank unter
israelischer Besatzung. Auf dem 5.600 Quadratkilometer großen Gebiet sind
bis heute 279 israelische Siedlungen entstanden, meistens zerstreut
zwischen palästinensischen Städten wie Nablus, Ramallah oder Hebron.
Israelische Streitkräfte bewachen die Siedlungen und dürfen Einsätze in
palästinensischen Gebieten vollziehen, Checkpoints und Straßenblockaden
errichten. Lediglich 18 Prozent des Westjordanlands stehen unter Hoheit
palästinensischer Polizeibehörden.
Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober hat Israel die
Sicherheitsvorkehrungen im Westjordanland intensiviert, Straßen teilweise
gesperrt und zunehmend Razzien in Flüchtlingslagern und Städten wie
Dschenin durchgeführt, die als Hochburg militanter
Palästinenser*innen gelten. Auch die Kontrollen an den Checkpoints
seien jetzt länger und aggressiver, berichten Palästinenser*innen.
Für Schülerin Lina, deren Familie teilweise in Jerusalem lebt, ist es nicht
immer leicht, Verwandte zu besuchen. „Ich habe ein ähnliches Problem“,
schließt sich eine weitere Schülerin, Zayna*, an. „Meine Familie lebt in
Nazareth, aber ich konnte sie wegen der Checkpoints und der Siedler, die
aggressiver geworden sind, nicht mehr besuchen.“ Das Problem ist in der
Wesbank eigentlich nicht neu. Nur, jetzt hätte sich die Lage zugespitzt,
erklärt sie.
Die Zahlen geben ihrem Gefühl recht: Laut dem Amt der Vereinten Nationen
für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) gab es im Jahr
2023 bis zum 7. Oktober im Schnitt jeden Tag drei Zwischenfälle, bei denen
Siedler involviert waren. In den Wochen danach stieg die Zahl auf sieben
tägliche Vorfälle im Durchschnitt. Acht Palästinenser*innen sind bis
Ende Oktober von Siedlern getötet worden.
Nicht nur auf die Schüler*innen wirkt sich die Lage aus: 21 Lehrkräfte
wohnten nicht direkt in Ramallah und müssten pendeln, erzählt Schulleiterin
Ismail. „Das ist sehr schwierig. Manchmal kommen sie gar nicht an und wir
müssen sie kurzfristig ersetzen.“ Ismail sitzt nun an einem Schreibtisch,
der mit einer weißen Papiertischdecke überzogen ist. Ihr Handy klingelt,
sie habe jetzt einen Termin, wird sie erinnert. Jemand klopft an die Tür.
Zeit für ein Interview hat sie eigentlich nicht, dennoch schafft sie sich
Raum für das Gespräch.
Denn es sei wichtig, dass die Welt verstehe, was diese Lage für die Kinder
bedeutet. Dass sie, Jasmin Ismail, jeden Tag aufs Neue planen müsse, oft
früh am Morgen: ob es Präsenzunterricht geben wird, ob eine Klasse lieber
in den Fernunterricht wechseln sollte. Ob es überhaupt Unterricht geben
wird. Bislang hätten die Schüler*innen indes nur vier Tage Schule
verpasst, sagt sie mit einem gewissen Stolz.
Doch es sind nicht nur die Checkpoints, die den Schulbetrieb erschweren.
Weniger als ein Kilometer vom Schulgelände entfernt schreien seit Beginn
des Konflikts jeden Tag Demonstrierende ihre Wut heraus, skandieren
Kampfparolen, lassen ihren Zorn raus, auf Israel und auf die Welt. Am Tag
vor unserem Treffen wurde in dem Stadtteil ein Jugendlicher von
israelischen Streitkräften angeschossen. In den Nachrichten und in den
sozialen Netzwerken laufen pausenlos Bilder der Zerstörung in Gaza. Manche
Kinder, manche Lehrer*innen haben dort Familie. Einige haben Angehörige
bei den Luftschlägen verloren: Kinder, Männer, Frauen, Neffen, Brüder,
Nichten.
Zayna sagt: „Du lebst immer in einer Art Paranoia, was als Nächstes
passieren wird. Es ist schwierig, sich aufs Lernen zu konzentrieren, wenn
du andere Prioritäten hast.“ Darunter mischten sich auch Schuldgefühle: zu
wissen, dass man in Sicherheit ist, das Privileg zu haben, eine gute
Ausbildung zu genießen. „Ich fühle mich schuldig, wenn ich aufwache, wenn
ich Wasser trinke“, sagt Zayna. An der Privatschule in Ramallah lernen die
Kinder von eher wohlhabenden palästinensischen Familien aus dem
Westjordanland, insgesamt sind es 1.600 Kinder und Jugendliche.
Die Kinder fühlten sich frustriert und bräuchten eine Anleitung, wie sie
ihre Gefühle ausdrücken könnten, sagt Ismail. Die Angst vor dem Ungewissen
bringt sie aus der Ruhe: „Lehrer*innen sind gestresst, Schüler*innen
sind gestresst.“ Man rede mit ihnen über das Geschehen, man organisiere
Projekte, in denen sie sich engagieren können, um sich weniger hilflos zu
fühlen.
Zwar sind Kinder im Westjordanland nicht direkt vom Konflikt in Gaza
betroffen. Indirekt sind sie es aber schon. Die Wut, die Polarisierung
zwischen Palästinenser*innen und Israelis sind allgegenwärtig. Der
Konflikt spiegelt sich dann in den Klassen wider, er beeinflusst die Arbeit
der Erzieher*innen. Die sind ihrerseits seit Beginn des Konflikts täglich
mit Hindernissen konfrontiert: Checkpoints, die Verspätungen verursachen,
Streiks. Gleichzeitig müssen sie versuchen, die Schüler*innen so gut wie
möglich durch das Schuljahr zu bringen. Denn viele Jugendliche wollen eine
Zukunft haben. Sie träumen weiter, dem Konflikt zum Trotz.
Einige möchten im Ausland studieren: Recht, Medizin, Psychologie. An der
privaten Schule absolvieren die Schüler*innen das
Internationale-Baccalaureat-Programm, das sie auf die Universität
vorbereitet und mit einer Prüfung endet. Die Prüfung könne nicht verschoben
werden, die Fristen stünden schon fest, erzählen sie. Doch Kriege nehmen
keine Rücksicht auf Fristen. Und auch der Gedanke, weit weg zu sein,
während der Krieg noch andauert, erfüllt die Jugendlichen mit Unbehagen. So
wie die Angst vor Rassismus, jetzt, wo die öffentliche Meinung auch im
Westen so polarisiert ist, der Nahostkonflikt plötzlich im Rampenlicht
steht.
Lina, helle Haare und selbstbewusstes Auftreten, sagt, ihre Schwester
studiere gerade in Süddeutschland. Sie selbst spricht fließend Deutsch und
möchte später auch an eine deutsche Universität. Doch jetzt habe sie Angst,
dass sie sich „nicht frei ausdrücken“ könne. Durch die Medien hat sie
erfahren, [4][dass Proteste teilweise verboten wurden, dass Menschen
verhaftet wurden]. In ihren Augen ist dies eine Einschränkung der
Meinungsfreiheit. „Ich habe schon immer gesagt, dass ich in Deutschland
studieren will. Doch jetzt zögere ich.“
Lina, Zayna und vier weitere Schüler*innen sitzen an einem Tisch in
einem Pausenraum, kurz bevor der Unterricht wieder beginnt. Sie sind einige
der wenigen Jugendlichen, die sich bereit erklärt haben, unter Wahrung der
Anonymität mit der Presse über ihre Erfahrungen zu reden, die sie in diesen
Tagen machen. Ihre sind jetzt untrennbar verbunden mit der politischen
Lage: In einem Konflikt, der, wie sie betonen, nicht erst am 7. Oktober
begonnen hat, hat der persönliche Alltag ständig eine politische Dimension.
Die Sicht, die in Palästina auf den Nahostkonflikt herrscht, ist oft eine
ganz andere als in Israel und im Westen. Israel begründet die Angriffe auf
Gaza, bei denen auch Zivilist*innen sterben, mit seinem Recht auf
Selbstverteidigung nach dem Terrorangriff der Hamas. Für viele
Palästinenser*innen ist der Angriff der Hamas hingegen eine Folge der
Besatzung Israels und der jahrelangen Belagerung Gazas. Widerstand oder
Terrorismus: zwei entgegengesetzte Narrative, die sich selten berühren.
Die Schulglocke klingelt, die Pause ist zu Ende, die Flure leeren sich.
Lina, Zayna und die anderen Schüler*innen müssen zurück in ihre Klassen,
in denen sie vor dem Chaos und der Gewalt um sie herum geschützt sind. Wenn
auch nur für wenige Stunden.
Kinder, die eine Privatschule besuchen, sind in der Westbank eine
Minderheit unter den 1,4 Millionen Schüler*innen. Nach Daten des
Palästinensischen Zentralamtes für Statistik (PCBS) befinden sich im
Westjordanland 1.896 öffentliche Schulen, 402 sind in privater Hand. In
einem Gebiet, in dem der Mindestlohn etwa 460 Euro beträgt und 22 Prozent
der Familien soziale Hilfen erhalten, kann sich nicht jedes Elternhaus
einige tausend Euro Schulgebühren pro Jahr leisten. Und die
Arbeitslosigkeit ist besonders unter gut ausgebildeten jungen Menschen
hoch: 32 Prozent der Erwachsenen unter 30 Jahren und mit
Universitätsabschluss haben keinen Job.
Die Privatschule in Ramallah ist aber nicht die einzige, die in ihrer
Arbeit derzeit beeinträchtigt wird. Das Hilfswerk der Vereinten Nationen
für Palästinaflüchtlinge (UNRWA), das im Westjordanland 96 Schulen für
45.000 Schüler*innen betreibt, schreibt auf taz-Anfrage, drei
Einrichtungen in Ostjerusalem und Hebron seien momentan geschlossen, der
Unterricht finde online statt. Grund dafür seien Schwierigkeiten für das
Personal, die Schulen zu erreichen. Eine weitere Schule bietet gar keinen
Unterricht an, da den Schüler*innen ein adäquater Zugang zum Internet
fehle.
„Die Verschlechterung der Sicherheitslage in der Westbank, inklusive
Ostjerusalem, hat gerade bedeutende Auswirkungen auf das Leben
palästinensischer Kinder, auch in den Flüchtlingslagern“, erklärt Adam
Bouloukos, UNRWA-Direktor in der Westbank, gegenüber der taz. Es sind
Kinder, die bereits vor Kriegsausbruch unter der Gewalt und den Spannungen
gelitten haben. Diese Situation hindere sie daran, „in Sicherheit zur
Schule zu gehen, ihre Freund*innen zu treffen und ihre Leben zu leben,
frei von Angst“.
Die UNRWA verwaltet Schulen für die Nachfahren palästinensischer
Geflüchteter, die während des Palästinakriegs 1948, nach der israelischen
Unabhängigkeitserklärung, aus ihren Häusern auf israelischem Boden
vertrieben wurden. Oft leben sie immer noch in Flüchtlingslagern, in der
Westbank sowie in Gaza. Manchmal befinden sich diese bebauten Camps am
Rande der Städte, teilweise weiter außerhalb.
Das palästinensische Bildungsministerium hat sich ebenfalls vor wenigen
Tagen zur Lage geäußert und sich an die internationale Gemeinschaft
gewandt. In einer Mitteilung hieß es, die „Verletzungen des Rechts auf
Bildung [durch israelische Kräfte, Anm. d. Red.] nehmen auch in der
Westbank weiter zu“. 13 Schüler*innen seien seit dem 7. Oktober getötet
worden, Dutzende festgenommen worden. Checkpoints, Straßensperren, Angriffe
von Siedler*innen und die Abriegelung von Städten und Dörfern
behinderten den freien Zugang von Lehrkräften und Jugendlichen zu den
Einrichtungen.
Auf Nachfrage schreibt das israelische Militär, es habe in der Westbank
eine Zunahme an „terroristischen Angriffen“ seit Beginn des Konflikts
gegeben und die Armee führe „nächtliche Operationen zur
Terrorismusbekämpfung“ durch, um Verdächtige festzunehmen. Außerdem habe
man Checkpoints an verschiedenen Orten aufgestellt.
In der Tat haben Kinder, die in der Nähe von israelischen Siedlungen leben,
seit Beginn des Krieges noch größere Probleme als ihre
Altersgenoss*innen in den Großstädten, wie die Erfahrung einer
deutschen evangelisch-lutherischen Schule zeigt. Talitha Kumi ist eine
Einrichtung außerhalb Bethlehems, im Dorf Beit Jala nah an der israelischen
Grenze, in der sich christliche und muslimische Kinder gemeinsam auf das
palästinensische oder das deutsche internationale Abitur vorbereiten. Im
Westjordanland lebt auch eine kleine Minderheit von Christ*innen. Beit Jala
liegt eingebettet zwischen sanften, sonnigen Hügeln, zwischen
palästinensischen Dörfern und israelischen Siedlungen. Ein friedlicher Ort
in einer auch unter normalen Umständen nicht ganz einfachen Lage.
„Am Anfang haben wir zunächst nur eine Menge Einschläge gehört, einen
riesigen Knall, bis wir merkten: Das hört gar nicht auf. Dann mussten wir
Vorkehrungen treffen, weil vier Geschosse bis zu unserer Schule kamen, aber
glücklicherweise vom Iron Dome abgeschossen wurden“, erinnert sich
Schulleiter Matthias Wolf. Der Iron Dome ist das israelische
Luftabwehrsystem. Auf einen Schlag wurde es den Kindern wieder bewusst,
dass sie in einer Konfliktregion leben.
## Die Schockwellen aus Gaza
Bei Raketenalarm geht es nur darum, Schutz zu suchen, wo es ihn eigentlich
kaum gibt. Denn in der Westbank existieren keine Schutzbunker. Nachts hört
man auf dem Schulgelände die Flugzeuge fliegen, spürt die Schockwellen,
möglicherweise verursacht durch die Bomben auf Gaza, das knapp 70 Kilometer
entfernt liegt. Die Unsicherheit, wie viel schlimmer die Lage werden
könnte, wiegt auch auf dem deutschen Schulleiter schwer. Auf der einen
Seite ist da die Verantwortung gegenüber den Kindern, den Schulbetrieb
aufrechtzuerhalten. Auf der anderen Seite steht die Verantwortung gegenüber
den Lehrkräften, für deren Sicherheit zu sorgen.
Wolf hat sich inzwischen dafür entschieden, den 20 deutschen
Mitarbeiter*innen eine Ausreisemöglichkeit anzubieten. Die sie am Ende
alle angenommen haben, schweren Herzens, wie Wolf sagt. „Der Abschied war
unheimlich schwer, weil wir natürlich wussten, dass wir die Palästinenser
alleine lassen.“ In der Schule arbeiten sowohl deutsche als auch
palästinensische Lehrer*innen, Letztere müssen bleiben.
Über den Landweg reisten die Deutschen zunächst nach Jordanien, in die
Hauptstadt Amman, dann weiter. Von Deutschland aus unterrichten sie weiter
die Schüler*innen, die sich auf das deutsche Abitur vorbereiten. Das
palästinensische Personal übernimmt hingegen seit einigen Tagen wieder den
Präsenzunterricht. „Innerhalb der Region um Bethlehem ist das Leben
inzwischen relativ normal. Wir haben jedoch 150 Schüler, die in Jerusalem
leben und nicht so leicht kommen können“, berichtet Wolf von Deutschland
aus über Zoom. Jerusalem ist israelisch kontrolliert. Für den Weg nach
Bethlehem, also ins Westjordanland, müssen die Schüler*innen Checkpoints
passieren. Und die Unterrichtsstunden sind jetzt kürzer, sagt Wolf. Die
Eltern möchten, dass die Kinder zu Hause sind, bevor die Dunkelheit
einbricht.
Doch wie geht es den Kindern? Nervös seien sie, sagt Wolf, unruhiger, mit
kürzeren Konzentrationsspannen. Und doch resilient: „Es ist erstaunlich,
wie sich palästinensische Kinder einer Krisensituation anpassen“, findet
der Schulleiter. Doch auch für sie sind dies traumatische Erfahrungen, ist
die Zeit nach dem 7. Oktober eine Zäsur – auch wenn sie sich über die Jahre
an den Konflikt in ihrer Heimat gewöhnt haben.
Auf die palästinensischen Lehrer*innen kommt jetzt eine Doppelbelastung
zu: Tagsüber müssen sie einen „normalen“ Alltag für die Kinder in der
Schule gestalten und abends für die eigenen Kinder zu Hause ebenso. Für
ihre deutschen Kolleg*innen ist die Belastung hingegen eher moralischer
Natur: Es ist das Wissen über das eigene Privileg. Als Europäer*innen, als
Bürger*innen eines Staates, der sie vor Krieg und Gewalt schützt. „Wir
haben uns verabschiedet, aber es bleibt doch ein trauriger Beigeschmack,
weil die Menschen dort dieser Situation ausgeliefert sind“, sagt Wolf.
Der Schulleiter, geränderte Brille und energisches Auftreten, sitzt in
seinem Arbeitszimmer in Deutschland, und ist hin- und hergerissen. Zwischen
hier und dort, Sicherheit und Pflicht. Wenn alles so bleibe, wolle er in
den nächsten Wochen wieder ausreisen. „Obwohl ich in meiner Heimat bin,
obwohl ich in meinem Haus bin, fühle ich mich nicht an dem Ort, an dem ich
sein sollte. Wenn die Sicherheitslage es ermöglicht, will ich meinen
Kollegen wieder beistehen.“
Seine Kolleg*innen in Ramallah und Beit Jala, in den Flüchtlingslagern
in Dschenin und Nablus versuchen eigentlich dasselbe: zu einer Normalität
zurückzukehren, die den Kindern Träume und eine Zukunft ermöglicht. Und die
hoffentlich besser ist als ihre Vergangenheit.
*Name von der Redaktion geändert
7 Nov 2023
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