| # taz.de -- Beduinen im Westjordanland: Die Vertriebenen | |
| > Seit dem Überfall der Hamas auf Israel wird auch das Leben von Beduinen | |
| > im Westjordanland gefährlicher. Hunderte sind aus Angst vor Siedlern | |
| > geflohen. | |
| Bild: Palästinensische Beduinen im Westjordanland werden von israelischen Sied… | |
| Duma taz | Von seinem Zelt aus kann Suleiman Zawahri alles sehen: den Weg | |
| zur Quelle im Tal, die Konturen des israelischen Siedler-Außenpostens auf | |
| dem steinigen Hügelkamm und die Reste des Ortes Raschasch, in dem er mit | |
| seiner Familie 30 Jahre lang gelebt hat, bis vor zwei Wochen. Die | |
| Wellblechhütten und die zurückgelassenen Verschläge für die Ziegen stehen | |
| nur knapp zwei Kilometer entfernt und sind doch unerreichbar. „Die Siedler | |
| haben das Gebiet im Auge, sie würden uns nicht zurück lassen“, sagt das | |
| 52-jährige Oberhaupt der Gemeinde. | |
| Der Mann mit dem um den Kopf geschlungenen Palästinensertuch wirkt müde. | |
| Bis vergangene Woche sei Raschasch das Zuhause von etwa 85 Bewohnern | |
| gewesen, sagt er. Die [1][Drohungen durch Siedler] hätten schon seit | |
| Monaten zugenommen – seit dem [2][Antritt der rechtsreligiösen Regierung] | |
| im Januar. | |
| Doch seit dem [3][Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober] habe seine | |
| Familie Angst um ihr Leben gehabt. Als die Nachricht sich verbreitete, | |
| radikale Siedler hätten in Begleitung von Soldaten den nahen Ort Wadi | |
| al-Sik überfallen und mehrere Bewohner stundenlang festgehalten und | |
| misshandelt, trafen die Bewohner von Raschasch eine Entscheidung: „Wir | |
| haben gepackt und nachts unsere Herden und Hütten hierher in die Nähe des | |
| Dorfes Duma gebracht.“ | |
| ## Angriffe extremistischer Siedler nehmen zu | |
| Angriffe extremistischer Siedler auf palästinensische Beduinen- und | |
| Hirtengemeinden [4][nehmen seit Jahren zu]. In Raschasch hätten sie vor | |
| fünf Monaten versucht, ein Haus anzuzünden, sagt Zawahri. Immer wieder | |
| seien sie mit Sturmgewehren bewaffnet in den Ort gekommen, hätten | |
| Solaranlagen zerstört, Fenster eingeschlagen, seien in Häuser eingedrungen. | |
| Seit dem Überfall der Hamas auf den Süden Israels am 7. Oktober nahm die | |
| Angst im Westjordanland zu. Mindestens 13 Gemeinden sind nach Angaben der | |
| israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem geflüchtet. Insgesamt | |
| wurden damit in den vergangenen zwei Jahren fast 20 Ortschaften | |
| aufgegebenen. Weitere Orte seien akut bedroht. | |
| „Es ist eine einfache Strategie“, erklärt Guy Hirschfeld. Er ist einer der | |
| jüdisch-israelischen Aktivisten, die versuchen, die Beduinen im Jordantal | |
| durch ihre Anwesenheit und die Dokumentation der Übergriffe zu schützen. | |
| Extremistische Siedler würden gezielt Außenposten nahe der Beduinenorte | |
| errichten, sagt Hirschfeld. Die Beduinensiedlungen bestehen häufig aus kaum | |
| mehr als einigen Hütten, Blechbaracken und Ställen für Schafe und Ziegen. | |
| „Sie sind einfacher zu vertreiben als die Palästinenser in den Dörfern, und | |
| die Siedler wissen das“, sagt Hirschfeld. | |
| Er lenkt seinen Geländewagen von einem Feldweg auf die Allon-Straße, die | |
| die steinigen Hügel zwischen Ramallah und Jericho von Nord nach Süd | |
| durchschneidet. Aus dem Fenster deutet er nach links auf eine Ansammlung | |
| von Häusern auf einer Hügelkuppe: die Siedlung „Malachei HaSchalom“ – | |
| „Engel des Friedens“. Hirschfeld findet den Namen zynisch. Er selbst | |
| bezeichnet die Außenposten als „Terrornester“. | |
| Die Siedleraußenposten ähneln in vielem den Gemeinden der Beduinen. Ihre | |
| Bewohner leben ein einfaches Hirtenleben, angetrieben von der religiösen | |
| Idee, dass das Westjordanland, welches sie nach den biblischen Namen Judea | |
| und Samaria nennen, jüdisch besiedelt werden müsse. Sie galten in der | |
| israelischen Gesellschaft lange als extremistische Außenseiter. Seit knapp | |
| einem Jahr aber sitzen sie in der Regierung. Mit [5][Itamar Ben Gvir] und | |
| Bezalel Smotrich haben zwei ihrer bekanntesten Vertreter Ministerämter | |
| inne. | |
| Die Siedler eignen sich den Lebensstil der palästinensischen Hirten an und | |
| schränken deren Lebensraum mit den eigenen Herden ein. Das ist laut der NGO | |
| Kerem Navot „zu einem der wichtigsten Werkzeuge bei der Enteignung | |
| palästinensischer Gemeinschaften“ geworden. Bis Mai vergangenen Jahres | |
| seien mehr als 60 solcher Hirten-Außenposten entstanden, der größte Teil | |
| von ihnen nach 2018. | |
| ## Alle Welt blickt nach Gaza | |
| „Mit dem Krieg ist alles viel schlimmer geworden“, sagt Hirschfeld. Auf | |
| rund 15.000 Hektar zwischen Jericho und Ramallah lebten nun kaum noch | |
| Palästinenser. Die Siedler nutzten es aus, dass die gesamte Aufmerksamkeit | |
| aktuell auf Gaza liege und wegen der grausamen Massaker der Hamas in Israel | |
| die Wut auf Palästinenser groß sei. Das sieht nicht nur Hirschfeld so. 30 | |
| israelische NGOs fordern in einer gemeinsamen Erklärung, die internationale | |
| Gemeinschaft müsse „die Welle der staatlich unterstützten Siedlergewalt | |
| stoppen“. | |
| Im Westjordanland wurden auf vielen Straßen Checkpoints errichtet. Fast | |
| täglich führt die Armee Razzien in palästinensischen Ortschaften durch. Von | |
| den mehr als einhundert Palästinensern, die seit Beginn des Krieges im | |
| Westjordanland erschossen wurden, seien laut B’Tselem sieben von Siedlern | |
| getötet worden. | |
| Inmitten dieses Chaos hatten Siedler den etwa 200 Bewohnern von Wadi | |
| al-Sik, 20 Autominuten südlich von Raschasch, mit einem Angriff gedroht, | |
| sollten sie nicht binnen kurzer Zeit verschwinden. In Begleitung von | |
| jüdisch-israelischen Aktivisten packten sie ihre Habseligkeiten und gingen. | |
| Am 12. Oktober waren nur noch wenige Beduinen im Dorf. Hirschfeld habe mit | |
| Aktivisten seiner Gruppe vor Ort telefoniert. Die hätten mitgeteilt, dass | |
| plötzlich zahlreiche Siedler, zum Teil vermummt und in Begleitung der | |
| Armee, aufgetaucht seien. Dann sei die Verbindung abgerissen. „Sie haben | |
| fünf Aktivisten und drei Palästinenser gefangen genommen und festgehalten.“ | |
| Die Palästinenser seien über mehrere Stunden misshandelt worden. | |
| Die Zeitung Ha’aretz berichtete anschließend von Schlägen, Verbrennungen | |
| mit Zigaretten und einem versuchten sexuellen Übergriff. Online kursiert | |
| ein Foto von bis auf die Unterwäsche entkleideten und gefesselten Menschen | |
| mit Augenbinden. „Die Soldaten waren von der ‚Sfar Hamidbar‘-Einheit“, … | |
| Hirschfeld. “Sie wurde vor ein paar Jahren aufgestellt und nimmt radikale | |
| Siedler auf.“ | |
| Die israelische Armee bestätigte einen Einsatz im Bereich Wadi al-Sik sowie | |
| mehrere Festnahmen – und gestand Fehler ein. Das Verhalten der | |
| Einsatzkräfte stehe „im Widerspruch zu den Standards, die von Soldaten und | |
| Kommandanten erwartet werden“. Der Kommandeur, der den Einsatz leitete, sei | |
| aus dem Dienst entlassen worden und man habe eine Untersuchung eingeleitet. | |
| Knapp zwei Wochen nach dem Überfall steht wenige Kilometer westlich von | |
| Wadi al-Sik Abdelrahman Abu-Baschar, das Oberhaupt der Gemeinschaft, etwas | |
| abseits der Landstraße in einem Olivenhain am Ortseingang des | |
| christlich-palästinensischen Dorfes Taibeh. Nervös beobachtet er die | |
| vorbeifahrenden Autos. Der 48-jährige Beduine mit dem dichten Schnurrbart | |
| hat seinen fünfjährigen Sohn mitgebracht und hofft darauf, bei der | |
| Olivenernte etwas Geld verdienen zu können. | |
| ## „Von überall vertrieben“ | |
| Mit Unterbrechungen habe seine Familie seit den 70er Jahren in Wadi al-Sik | |
| gelebt, erzählt er. Zuvor seien sie wie viele Beduinen im Westjordanland | |
| nach der Staatsgründung Israels und dem anschließenden Krieg mit den | |
| arabischen Nachbarstaaten 1948 aus der Negevwüste geflohen. „Wir wurden von | |
| überall vertrieben, mal von den Israelis, mal von anderen Palästinensern.“ | |
| In Wadi al-Sik wäre er gerne geblieben. 2016 hätten sie eine Schule | |
| eröffnet, auf die auch Kinder aus umliegenden Orten gegangen seien. Doch | |
| die israelischen Behörden hätten wegen fehlender Genehmigungen immer wieder | |
| mit dem Abriss gedroht. | |
| Im Februar habe ein bekanntes Mitglied der radikalen Siedlerbewegung einen | |
| Außenposten direkt oberhalb des Ortes gebaut. Seitdem hätten dessen Leute | |
| die Beduinen nach und nach von Weideflächen und Wasserquellen abgeschnitten | |
| und Tiere gestohlen. „Wir leben von unseren Tieren, damit zerstören sie | |
| nicht nur unsere Herden, sondern auch unsere Art zu leben“, sagt | |
| Abu-Baschar. | |
| Für die Sicherheit sind hier wie in rund 80 Prozent des besetzten | |
| Westjordanlandes die israelischen Sicherheitskräfte zuständig. Aber: „Wenn | |
| wir die Polizei gerufen haben, dann halfen sie ihnen, nie uns“, erinnert | |
| sich Abu-Baschar. | |
| Plötzlich fallen in der Ferne Schüsse. Auf der Straße rasen israelische | |
| Polizeiwagen vorbei. Abu-Baschar verabschiedet sich hastig. Er suche morgen | |
| wieder nach Arbeit. | |
| Zurück in Duma sind die Kinder aus der Dorfschule zurück. Ein Dutzend | |
| Mädchen, Jungen und Erwachsene haben es sich auf Kissen und Teppichen | |
| gemütlich gemacht. Suleiman Zawahri schenkt süßen Tee ein. Immerhin sei der | |
| Schulweg jetzt kürzer, scherzt er. Er wolle seine Gemeinde am liebsten | |
| zurück nach Raschasch bringen, doch das sei zu gefährlich. In Duma könnten | |
| sie aber nicht langfristig bleiben. Es gebe nicht genug Weideflächen. Die | |
| Dorfbewohner würden sie vorerst nur bis zum Ende des Krieges dulden, sagt | |
| Zawahri. „Danach weiß ich nicht, wohin wir sollen.“ | |
| 30 Oct 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Felix Wellisch | |
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