# taz.de -- Krieg im Nahen Osten: Keine Parteinahme | |
> Auf beiden Seiten des Nahostkonflikts gehören Fanatiker zu den | |
> Regierenden. Die Guten und die Bösen schlechthin gibt es hier nicht. | |
Bild: Ein palästinensisches Mädchen im Gazastreifen auf der Flucht Richtung S… | |
Nein, dieses Mal ist es kein Krieg zwischen Israelis und Palästinensern. | |
Jener Krieg wird seit fast hundert Jahren geführt. Er wurde immer wieder | |
unterbrochen und auf beiden Seiten gab es den aufrichtigen Versuch, eine | |
Friedenslösung zu finden und das Blutvergießen zu beenden. Nur Fanatiker | |
glauben an eine andere Lösung dieses Konflikts als durch einen | |
ausgleichenden Frieden. | |
Genau diese Fanatiker aber sind inzwischen keine Randgruppen mehr. Auf | |
beiden Seiten des Konflikts gehören sie zu den Regierenden. Dieser Krieg | |
ist ein Krieg, den jüdische und arabische Fanatiker kämpfen. Der | |
Extremismus lebt vom blinden Glauben, und im Heiligen Land leben nun einmal | |
viele Blindgläubige. Sonst wäre es ja auch nicht das Heilige Land. Es sind | |
Glaubende, für die aufklärerisches Denken und Menschenleben wenig bedeuten. | |
Nein, diese Menschen teilen nicht humanistische Werte, weder auf der | |
arabischen noch auf der jüdischen Seite. Sie denken in | |
Freund-Feind-Schemata. Sie respektieren den anderen nicht. Sie verachten | |
ihn und treten seine Würde ohne Wimpernzucken mit den Füßen. Ich habe nicht | |
die geringste Sympathie für islamistische Bewegungen. Wer meine Bücher und | |
Artikel kennt, weiß das. | |
Mir ist klar, dass solche Bewegungen nur ein Ziel haben: liberale | |
Demokratien zu zerstören und die offene Gesellschaft nach den Regeln der | |
Scharia zu ersetzen. Beispiele religiöser Diktaturen und die Zersetzung | |
pluralistischer Systeme durch islamisch inspirierte Politiker gibt es | |
genug. Jeder weiß, wie erbärmlich das Leben in solchen Ländern aussieht. | |
## Opfer auf beiden Seiten | |
Doch diese Erkenntnis führt bei mir nicht dazu, Sympathien für eine nun | |
schon sehr lange andauernde israelische Politik zu hegen, an der aufgrund | |
der Äußerungen von regierenden Politikern rechtsextremistische, | |
ultranationalistische und antidemokratische Kräfte wirken. Ist nicht die | |
eigentliche Ursache des Konflikts, dass auf beiden Seiten Kräfte erstarkt | |
sind, die gar keine Lösung wollen und jede Brutalität zu einer Ausweitung | |
der Kampfzone und zum Zerschlagen des anderen und jeglichen | |
Friedensansatzes nutzen? | |
Und was machen wir: Demokraten, Liberale, Humanisten aus West und Ost? Wir | |
haben jahrelang zugeschaut und jetzt verpflichten wir uns dazu, Partei zu | |
ergreifen. Jeder von uns weiß, dass der Konflikt nicht an diesem | |
schrecklichen 7. Oktober begonnen hat und dass es [1][brutalisierte Kräfte] | |
auf beiden Seiten gibt, die ihn schüren. Unsere Lebenslüge aber heißt: | |
Israel ist das Opfer, Palästinenser sind Aggressoren, Terroristen. | |
Augenscheinlich ist die Vorstellung unmöglich, dass all diese | |
nichtjüdischen Menschen zu Hause sind, wenn sie sich auf israelischem | |
Territorium aufhalten. Es ist auch ihr Zuhause und wird ihr Zuhause | |
bleiben. Nein, einen Dienst an Israel kann ich unter einer einseitigen | |
Parteinahme für das Agieren dieser israelischen Regierung nicht erkennen. | |
Und auch keinen Dienst, um die Lebenswirklichkeit der Palästinenser zu | |
verbessern. | |
Eine [2][Staatsräson im Sinne des Grundgesetzes und der historischen | |
Verantwortung Deutschlands], die zweifellos nicht negiert werden kann, | |
müsste indes beides formulieren: sowohl das Existenzrecht Israels und | |
Schutz des jüdischen Lebens als auch ein Ende der Entrechtung der | |
Palästinenser und der völkerrechtswidrigen Besatzung ihrer Heimat. Das aber | |
ist heute nur noch ein Lippenbekenntnis. | |
## Allianz der Aufgeklärten | |
Eine Allianz der Aufgeklärten, [3][der humanistisch gesinnten Menschen] tut | |
not. Nur sie kann verhindern, dass sich die Gräben zwischen Nord und Süd, | |
zwischen West und Ost, zwischen den Kulturen aus unterschiedlichen | |
Traditionen weiter vertiefen. Eine Parteinahme für die Sichtweise des | |
israelischen Staates reicht nicht aus und wirkt am Ende sogar | |
kontraproduktiv. | |
Sollte irgendetwas Gutes der jetzigen Lage folgen, dann wäre es der | |
Zusammenbruch extremistischer Positionen, sowohl in Israel als auch auf | |
palästinensischer Seite, die Wiederaufnahme der gegenseitigen Anerkennung, | |
angefangen mit der Wiederherstellung des verloren gegangenen gegenseitigen | |
Respekts. Ich bin optimistisch und ich will versuchen zu erklären, warum. | |
Israels Stärke liegt gar nicht in seiner Rüstung und seiner mobilisierbaren | |
Bevölkerung. | |
Denn die militärische Stärke ist nur eine Bestätigung des Kriegszustands. | |
Die eigentliche Stärke liegt in der kulturellen Dynamik des Landes, die in | |
einem feindlichen Umfeld das Überleben einer demokratischen Struktur | |
ermöglicht hat. In diesem Geist handelte [4][Jitzchak Rabin]. Nach dessen | |
Mord durch einen jüdischen Extremisten wurde das säkulare, aufgeklärte | |
Israel von den radikalen Siedlern immer weiter zurückgedrängt. Eine | |
Parallele dazu gibt es auch auf der palästinensischen Seite. | |
Extremisten, egal wo, sind demografisch im Vorteil, doch sie sind nicht in | |
der Lage, offene Gesellschaften hervorzubringen. Stattdessen zeichnen sie | |
verantwortlich für Abschottung, Krieg und Zerstörung. Das macht sie auf | |
lange Sicht selbstzerstörerisch und nicht überlebensfähig. Wir in Europa | |
dürfen uns die Welt nicht schönreden, auch nicht jene, die uns nahegeht, | |
die uns ans Herz gewachsen ist. Kolonialarchitektur ist schön, | |
Kolonialismus war grausam. | |
Wir würden uns selbst Respekt damit verdienen, eigene Positionen und die | |
dunklen Kapitel aus der eigenen Vergangenheit kritisch zu sichten. Kein | |
noch so unverdaulicher Speiseplan im Nahen Osten kommt ohne europäische | |
Zutaten aus. Eine Aufarbeitung des kolonialen Erbes und der hegemonialen | |
Einmischung findet bislang nur zaghaft statt. Auch deshalb ist die Suche | |
nach Verbündeten, mit denen keine Wertegemeinschaft gebildet werden kann, | |
unverantwortlich. | |
Wenn Enklaven aus ihrer Isolation ausbrechen, andere ausgrenzen, sich | |
untereinander endlos bekriegen und auf den Messias warten, sollten wir | |
nicht applaudieren, weder für die eine noch für die andere Seite, und | |
mitmachen schon gar nicht. | |
13 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Zafer Şenocak | |
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