# taz.de -- Der Nahost-Konflikt belastet Beziehungen: Mein Freund Nasser und d… | |
> Unser Autor war entsetzt, als sein Studienfreund sagte, er träume davon, | |
> dass Israels Juden im Meer ersaufen. Heute muss er oft an ihn denken. | |
Bild: In der Berliner Humboldt-Universität trafen sich unser Autor und sein Fr… | |
Wie ich ihn kennengelernt habe, weiß ich nicht mehr genau. Wahrscheinlich | |
war es in einem Pädagogik-Seminar an der Humboldt-Universität in Berlin. | |
Wir hatten beide mit Sprachproblemen zu kämpfen. Ich war gerade aus | |
[1][Bayern] nach Berlin gezogen und wunderte mich immer, dass die anderen | |
Kursteilnehmer lachen mussten, wenn ich etwas gesagt habe. Und Nasser tat | |
sich sowieso schwer mit der deutschen Sprache. Er kam aus Jordanien, wie er | |
mir erzählte, und lebte seit einem Jahr in Berlin. | |
Nasser wurde so etwas wie mein erster Männerfreund in Berlin. Er war der | |
erste Mann, mit dem ich mich intensiv über [2][Körperpflege] ausgetauscht | |
habe. Aber nicht nur deshalb muss er mich für einen ziemlich ungepflegten | |
Gesellen gehalten haben. Ob ich nicht wüsste, wo es in Berlin ein Dampfbad | |
für Männer gebe, in dem man sich massieren lassen könne, hat er mich einmal | |
gefragt. Wusste ich nicht. | |
Ob ich denn niemanden hätte, der mir die Pickel auf dem Rücken ausdrücken | |
würde. Das sei mal wieder bitter nötig, meinte er. Nein, ich hatte | |
niemanden, der mir die Pickel auf dem Rücken ausgedrückt hat. Und deine | |
Frau, fragt er, ob die das nicht ekelig finde. Darüber hatte ich mir noch | |
nie Gedanken gemacht. Ich hatte mir überhaupt noch nie Gedanken darüber | |
gemacht, ob ich vielleicht Pickel am Rücken habe. Immerhin hat mir Nasser | |
dann einen Friseur empfohlen, der jedes unerwünschte Haar aus dem Gesicht | |
zu entfernen weiß und auch ganz passabel Haare schneiden kann. Ich gehe bis | |
heute zu diesem Friseur und lasse mich da auch rasieren. | |
## Alles nicht mehr normal | |
Ja, er war ein feiner junger Mann, dieser Nasser. Natürlich drehten sich | |
unsere ersten Gespräche auch um Fußball. Es war eben eine | |
Männerfreundschaft. Er wäre gerne mal zu einem Spiel des FC Bayern München | |
gegangen. Als ich ihn nach dem Leistungsstand der jordanischen | |
Fußballnationalmannschaft gefragt habe, musste er lachen. In irgendeiner | |
frühen Runde der WM-Qualifikation hatte Jordanien gerade gegen Vietnam | |
verloren. Vietnam! | |
Auch über Frauen haben wir geredet. Er jedenfalls. Bei mir sei das ja kein | |
Thema, meinte er, ich hätte ja schon eine Frau und ein Kind noch dazu. Für | |
ihn aber sei das wichtig. Nach dem Winter, wenn es wärmer wurde in der | |
Stadt, begann er zu leiden. So kurze Röcke, fragte er, warum die Frauen | |
hier so kurze Röcke tragen würden. Ihn mache das fertig. Er wisse gar nicht | |
mehr, wo er hinschauen solle, schließlich wolle er sich nicht versündigen. | |
Er sei ein gottesfürchtiger Mann. Manchmal glaube er, Allah habe ihn nach | |
Deutschland geschickt, um ihn auf die Probe zu stellen. Dann zeigte er | |
wieder auf eine junge Frau im kurzen Rock. Das sei doch alles nicht mehr | |
normal. Doch, habe ich gesagt. Und dann haben wir gelacht. | |
Männerfreundschaft eben. | |
Gewohnt hat er in einem Studentenwohnheim in Blankenfelde. Mit der S-Bahn | |
und dem Bus war man gut eine Stunde unterwegs, bis man an diesem Ort war, | |
der so gar nichts mit dem Party-Berlin zu tun hatte, über den auf den | |
Feuilletonseiten der großen Zeitungen des Landes gerade so viel | |
philosophiert wurde. Keine Versuchung. Nasser hätte es eigentlich gefallen | |
müssen. | |
Aber ganz ohne kurze Röcke wollte er sich das Leben dann auch nicht | |
vorstellen. Er hatte dann bald eine Freundin. Die wohnte in Marzahn bei | |
ihren Eltern und die hatten nichts gegen ihn. Das war mal eine angenehme | |
Erfahrung für ihn. Eigentlich hatte er Angst vor Marzahn, wo damals | |
deutsche Glatzen doch arg dominant waren im Straßenbild. Vorgestellt hat er | |
mich seiner Freundin nicht. Das bringe nichts. Sie werde ja sowieso nicht | |
seine Frau. Ob es denn schön sei mit ihr, habe ich ihn gefragt. Doch, hat | |
er gesagt, schon. | |
Gelebt hat er hauptsächlich davon, dass er in seinem Studentenwohnheim | |
gefälschte Nahverkehrstickets der BVG verkauft hat. Er meinte, er habe | |
keine Wahl gehabt. Er sei von denen, die im Wohnheim das Sagen hätten, | |
regelrecht dazu gezwungen worden. Er sei auch nicht der Einzige, der das | |
mache. Ob ich ihm nicht ein Ticket abkaufen wolle, hat er dann gefragt. | |
Wahrscheinlich habe ich das gemacht. Ich wollte ja ein guter Freund sein. | |
Er hatte noch einen anderen Job. Auch der war nicht unbedingt das, was man | |
sich unter einer ordentlichen Arbeit vorstellt. Bei großen Open-Air-Events | |
verkaufte er gekühlte Getränkebüchsen an die feiernden Leute. Heimlich | |
sollte er das machen, ohne dass ihn ein Ordner dabei erwische, habe man ihm | |
gesagt. Die Loveparade war damals noch eine ganz große Sache. Da lief das | |
Geschäft besonders gut. Und doch war Nasser gepeinigt am Tag danach. Er | |
habe auch Bier verkauft. Alkohol! Das werde ihm Allah nicht verzeihen. | |
Vielleicht hat der das ja gar nicht gesehen, versuchte ich ihn zu | |
beruhigen. Die Ordner hätten ihn ja auch nicht erwischt. Allah? Nein, der | |
sehe alles. Deutschland sei echt ein schwieriges Land. | |
Als wir uns schon besser kannten, hat er mir von seiner Familie erzählt. | |
Sein Vater habe einen kleinen Lebensmittelladen in der Nähe von Amman. Er | |
hatte noch einen Bruder und eine Schwester. Die beiden gingen noch zur | |
Schule. Das sei alles nicht so einfach. Sie lebten mit ihren Nachbarn auf | |
engstem Raum zusammen. Das sei normal. Als Palästinenser sei man so beengte | |
Lebensverhältnisse gewöhnt. Nasser war stolz auf seinen Vater. Und dankbar | |
war er ihm, dass er ihn so lange zur Schule hat gehen lassen. Normal sei | |
das nicht. | |
## Interkulturelle Brücke | |
Auch ich habe von meinem Leben erzählt. Von meiner kleinen Familie in | |
Berlin, von meiner Familie in München. Zu Hause habe ich auch von Nasser | |
erzählt. Wir fanden ihn spannend. Kurz vor Weihnachten haben wir uns | |
gefragt, ob wir ihn nicht einladen sollen. Dann kann er mal sehen, wie eine | |
deutsche Familie Weihnachten feiert. Inklusive Großmutter. | |
Nasser hat brav gestaunt über die erste Gans, die wir je zubereitet haben, | |
hat sich nicht über das Blaukraut und die Knödel gewundert, die wir dazu | |
serviert haben. Und wir waren stolz auf uns, dass wir eine Art | |
interkulturelle Brücke gebaut hatten. Mit einem Freund, nicht wie so viele | |
andere, die sich über wohltätige Organisationen einen armen Schlucker aus | |
Afrika vermitteln lassen, um ihn vor den Christbaum zu setzen. Nasser hat | |
es also auf die Familienfotos von jenem Abend gebracht. Ein Freund der | |
Familie. | |
Kurz darauf saßen wir wie so oft in der Cafeteria im Hauptgebäude der Uni | |
und ich half ihm beim Formulieren für das Thesenpapier zu dem Referat, das | |
er bald halten sollte. Wie üblich redeten wir über dies und das. Jordanien | |
hatte sich mal wieder blamiert beim Fußball. Solche Sachen zum Beispiel. | |
Ich weiß nicht, wie wir auf Israel gekommen sind. Auf jeden Fall wurde | |
Nasser ganz ernst. Er malte das Land auf einen Zettel. Zeichnete die | |
Palästinensergebiete ein und erzählte mir seinen Traum. Dass alle Araber | |
aufbrechen mögen, um Palästina zurückzuerobern, dass sie die Juden ins Meer | |
treiben mögen, dass die Juden alle ersaufen mögen. Er malte Totenköpfe auf | |
seinen Zettel. Dann sei endlich alles gut, sagte er. Ich sagte nichts mehr. | |
Es war ein Schock. | |
Es war das letzte Mal, dass ich Nasser getroffen habe. Ein paar SMS hat er | |
mir noch geschickt. Das war’s. Als ich mein Handy mit der darauf | |
gespeicherten Nummer von Nasser verloren habe und mir ein neues mit neuer | |
Nummer besorgt habe, verschwand er ganz aus meinem Leben. Ich wollte auch | |
wirklich nichts mehr mit ihm zu tun haben. Gerade in diesen Tagen denke ich | |
bisweilen an ihn und frage mich, was wohl aus ihm geworden ist. Wenn ich | |
noch wüsste, wie er mit vollem Namen heißt, hätte ich mich wohl auf die | |
Suche nach ihm gemacht. Die Hoffnung, dass er sich nach diesem Text bei mir | |
meldet, ist nicht besonders groß. Er wird wohl nicht mehr auftauchen in | |
meinem Leben. | |
Nur zwei Mal habe ich jemandem von Nassers Traum erzählt und wie schockiert | |
ich damals war. Das erste Mal liegt schon ein paar Jahre zurück. Die Juden | |
da unten seien doch auch nicht anders, war die Antwort. Eigentlich hatte | |
ich erwartet, dass derjenige mein Entsetzen teilt. Jetzt nach dem 7. | |
Oktober habe ich wieder jemandem von dem unheimlichen Traum Nassers | |
erzählt. Und wieder habe ich eine ähnliche Antwort erhalten. Die Juden | |
sollten sich nicht wundern. Das ist es also, dieses „Ja, aber …“, denke i… | |
mir. Es ist schockierend. | |
15 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Rüttenauer | |
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