# taz.de -- Krieg im Nahen Osten: Menschlich werden | |
> Hass und Rachelust lenken heute die Herzen im Nahen Osten. Dabei schien | |
> ein Frieden in der Vergangenheit wiederholt greifbar nah zu sein. | |
Bild: Chan Yunis: Kind weint um seinen Vater, der bei einem israelischen Luftan… | |
Was ist das nur für eine Blindheit? Viele Unterstützer*innen der | |
Palästinenser haben die infamen Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober einfach | |
nicht gesehen. Sollten sie sie doch gesehen haben, haben sie sich oft | |
gesagt, dass es die Besetzung und die sinnlose Blockade des Gazastreifens | |
war, die die Angreifer zu wilden Tieren werden ließ. | |
Umgekehrt sehen viele Unterstützer*innen der israelischen Seite nicht | |
die Bilder der Kinder, deren Körper aus den Trümmern des [1][bombardierten | |
Flüchtingslagers Dschabalia] gezogen wurden. Der makabre Zähler tickt | |
Stunde um Stunde und heizt eine unaufhaltsame tödliche Spirale an, die zu | |
einem regionalen Krieg zu eskalieren droht. | |
Sinnlos und dumm wäre der Versuch, die Gräueltaten gegeneinander | |
aufzurechnen. Vielmehr gilt es jetzt, den geistigen Eisernen Vorhang zu | |
durchbrechen, der sich über die Köpfe gelegt hat, einen Vorhang, der | |
verhindert zu sehen, zu verstehen, mitzufühlen … Es gilt, wieder menschlich | |
zu werden. Solange auf beiden Seiten Hass und Rache die Oberhand haben, | |
erscheint das als aussichtsloses Unternehmen. Umso dringlicher braucht es | |
ein Wort der Wahrheit, das beide Seiten gleichzeitig in den Blick nimmt. | |
Am Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte der linke österreichische Journalist | |
Theodor Herzl, der als Korrespondent in Paris über die Dreyfus-Affäre | |
berichtere, das Ausmaß des französischen Antisemitismus. Er kam zu dem | |
Schluss, dass nur ein eigener Staat die Juden würde schützen können. | |
Während die israelische Armee all ihre Feuerkraft gegen die | |
[2][unglücklichen Bewohner*innen Gazas] einsetzt, bestraft sie die | |
Hamas nicht nur für ihre Verbrechen, sondern auch dafür, dass sie das | |
wesentliche Credo Israels untergraben hat – eines Landes, das den dort | |
lebenden Juden und Jüdinnen Sicherheit bieten soll. | |
## Kampf ums Image der Supermacht | |
Die Soldaten kämpfen und die Luftwaffe bombardiert, weil die Hamas aller | |
Welt vor Augen geführt hat, dass Israel verletzlich, unvorbereitet, von der | |
Arroganz geblendet und unfähig ist, die eigenen Bürger*innen zu | |
schützen. Die Armee kämpft und bombardiert mit dem Ziel, das Bild der | |
Supermacht und die Abschreckung wiederherzustellen. Sie ist blind für das | |
Leid, das sie anderen zufügt. | |
Rund 80 Prozent der Menschen im Gazastreifen sind Flüchtlinge. Als die | |
Hamas die Grenzanlagen durchbrach, glaubten die Bewohner*innen Gazas | |
einen Moment lang, sie seien in das Land ihrer Vorfahren zurückgekehrt, | |
wenn auch nur für ein paar Stunden. Die gesamte seit 1948 entwickelte | |
Mythologie, die palästinensische Flüchtlinge als Rückkehrer bezeichnet, | |
fand hier einen Moment symbolischer Verwirklichung. Gleichzeitig sind | |
[3][Palästinenser*innen im Westjordanland] der mörderischen Gewalt | |
von Siedler*innen ausgeliefert – gerade jetzt auch aus Rache für den 7. | |
Oktober. | |
So aussichtslos die Lage derzeit ist, so darf nicht vergessen werden, dass | |
Frieden in der Vergangenheit wiederholt möglich erschien. Schon David | |
Ben-Gurion, Israels erster Regierungschef, hatte sich 1967 nach dem | |
Sechstagekrieg für die Rückgabe der besetzten Gebiete ausgesprochen als | |
Gegenleistung für die Anerkennung Israels, die die arabischen Staaten | |
damals jedoch ablehnten. | |
25 Jahre später, im Jahr 1993, unterzeichnete der damalige Premierminister | |
Jitzhak Rabin mit dem früheren PLO-Chef Jassir Arafat die [4][Osloer | |
Prinzipienerklärung], die zu einem Ende der Besatzung und schließlich zu | |
zwei Staaten führen sollte. Rabin wie Ben-Gurion sahen realistisch voraus, | |
dass die fortgesetzte Kontrolle von Millionen Palästinenser*innen die | |
jüdische Bevölkerung zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer früher oder | |
später zur Minderheit werden lassen würde. | |
## Die Kriegstreiber geben den Ton an | |
Rabins Kritiker*innen, allen voran Israels heutiger Regierungschef Benjamin | |
Netanjahu, verfolgen das genaue Gegenteil, nämlich die Zweistaatenlösung | |
unmöglich zu machen. Das heißt: den Frieden zu verhindern. Das ist ein | |
Ziel, das die Hamas weitgehend teilt. Die Hamas kam 2006 in Gaza vor allem | |
deshalb an die Macht, weil die Palästinenser*innen das Gefühl hatten, | |
dass Arafat seinen Teil des Abkommens weitgehend erfüllt hatte, ohne dafür | |
jedoch die entsprechende Gegenleistung zu erhalten. | |
Was die bis ins Mark korrupte Palästinensische Autonomiebehörde betrifft, | |
so wurde sie immer eher als eine Art Hilfsorganisation der israelischen | |
Unterdrückung im Westjordanland betrachtet. Die einzige Alternative zur | |
Fatah, der Partei Arafats, deren Chef inzwischen der palästinensische | |
Präsident Mahmud Abbas war, blieb bei den Wahlen im Jahr 2006 nur die | |
Hamas. Und das vermutlich zur großen Zufriedenheit von Netanjahu. | |
Israel stellte drei Bedingungen, die erfüllt werden mussten, um eine | |
Zusammenarbeit mit der demokratisch gewählten palästinensischen Führung | |
herzustellen: Die Anerkennung Israels, die Anerkennung der mit der PLO | |
unterzeichneten Friedensabkommen und die Abkehr von jeglicher Gewalt. Die | |
Hamas ging darauf nicht ein. Beide Konfliktseiten boykottierten sich | |
gegenseitig. | |
Bis zum 6. Oktober war sich Netanjahu mit Unterstützung der USA eines für | |
Israel günstigen Weges sicher, zumal sogar [5][Saudi-Arabien im Begriff | |
war, einen Separatfrieden] mit ihm zu unterzeichnen und die | |
Palästinenser*innen zu ignorieren. Der brutale Angriff der | |
islamistischen Hamas auf Hunderte israelische Zivilist*innen veränderte | |
die nahöstliche Realität. Letztendlich entzweit der Krieg nicht wirklich | |
die beiden Völker, sondern diejenigen, die Frieden suchen und diejenigen, | |
die Krieg wollen. | |
Zum Unglück geben die Letzteren den Ton an. Sollte dieser Konflikt nicht | |
den ganzen Nahen Osten in Brand setzen, wird vielleicht der Tag kommen, an | |
dem sowohl die einen wie die anderen endlich diese einfache Wahrheit | |
akzeptieren werden: In dieser unglücklichen Weltregion ist dieser Krieg | |
keine Lösung – und wird es auch niemals sein. | |
Aus dem Französischen von Barbara Oertel | |
9 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Trotz-Forderungen-nach-Waffenruhe/!5170338 | |
[2] /-Nachrichten-im-Nahost-Krieg-/!5970163 | |
[3] /Lage-im-Westjordanland/!5967869 | |
[4] /30-Jahre-Osloer-Abkommen/!5956646 | |
[5] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/israel-saudi-arabien-101.html | |
## AUTOREN | |
Selim Nassib | |
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