# taz.de -- Nach dem Massaker im Kibbuz Kfar Aza: Der Verwesungsgeruch ist noch… | |
> Ausgebrannte Häuser, blutgetränkte Teppiche und von Einschusslöchern | |
> übersäte Wände prägen aktuell das Kibbuz Kfar Aza. Taten der Hamas. | |
Bild: Mitarbeiter des Rettungsdienstes begleiten Journalisten durch den zerstö… | |
KFAR AZA taz | Einen Monat nach dem Terrorangriff der Hamas ist im Kibbuz | |
Kfar Aza fünf Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt die Zeit stehen | |
geblieben. Ausgebrannte Häuser und verwüstete Wohnungen zeugen von dem | |
Massaker, das hier am Morgen des 7. Oktober begann. Blutgetränkte Teppiche, | |
von Einschusslöchern übersäte Wände und an zerbrochene Fenster gelehnte | |
Matratzen lassen den verzweifelten Kampf der Bewohner erahnen. Die Leichen | |
der rund 60 Ermordeten wurden größtenteils beerdigt. Der Geruch nach | |
Verwesung ist noch da. | |
Schahar Etinger ist das erste Mal seit dem Massaker zurückgekehrt. „Ich | |
habe keine Worte, es scheint mir nicht real, obwohl ich mittendrin stehe“, | |
sagt der 25-Jährige, der in Kfar Aza aufgewachsen ist. Während des Angriffs | |
habe er sich 21 Stunden lang mit seinen Eltern versteckt. | |
Auf dem Weg durch das Kibbuz reihen sich niedrige Unterkünfte jeweils mit | |
ein bis zwei kleinen Zimmern, einer Kochecke und einem kleinen Bad. Hier | |
am Ortsrand hätten vor allem die jüngeren der 750 Kibbuzbewohner gelebt, | |
erzählt Etinger. Kaum jemand habe es nach Beginn der Invasion durch die | |
Hamas geschafft, sich aus diesem Teil des Kibbuz heraus zu retten. Drei | |
seiner Freunde hat die Hamas mutmaßlich als Geiseln nach Gaza gebracht. | |
Zwischen dutzenden niedrigen Wohneinheiten streifen internationale | |
Journalisten herum, die das Pressebüro der israelischen Regierung ins | |
Sperrgebiet um Gaza eingeladen hat. Rettungskräfte, die nach dem 7. Oktober | |
hier und in anderen Grenzorten eintrafen, berichten von dem Grauen, das sie | |
nach dem Überfall vorgefunden hatten. | |
## Unvorstellbare Taten | |
Vier Wochen später liegen unter umgestürzten Regalen zerbrochene | |
Bilderrahmen mit Familienfotos, Bücher, Schuhe und eine zerbrochene | |
Violine. „Ich erinnere mich an ein Haus, in dem ein Geburtstagskuchen auf | |
dem Tisch stand. Ich habe mich umgeschaut und die Fotos am Kühlschrank | |
hängen sehen: zwei Kinder, zwei Erwachsene. Dann habe ich den Geruch nach | |
verbranntem Fleisch bemerkt, der in der Luft hing“, erzählt Simcha | |
Greinemann, ein Freiwilliger des Bergungsdienstes Zaka. | |
Im Hinterzimmer habe sein Team die Körper von drei Erwachsenen und zwei | |
Kindern gefunden, die aneinandergeklammert auf dem Boden ihres Schutzraums | |
verbrannt waren. | |
In einem anderen Haus habe er eine Frau von der Hüfte abwärts nackt über | |
ihr Bett gebeugt gefunden. Ihr war offenbar von hinten in den Kopf | |
geschossen worden. „Als wir sie umdrehten, sahen wir, dass ihre Hände eine | |
entsicherte Granate umklammerten.“ In einem anderen Haus habe er ein etwa | |
sechsjähriges Kind gefunden, in dessen Kopf ein Messer steckte. | |
„Ich verstehe nicht, wie Menschen behaupten können, das sei nicht | |
passiert“, sagt Greinemann. Die Touren sollen der Relativierung und | |
Negierung entgegenwirken, mit denen die Hamas trotz hunderter Videos und | |
Fotos der Massaker Zweifel an den Ereignissen des 7. Oktober streut. So | |
behauptete etwa Mousa Abu Marzouk vom Politbüro der radikalislamischen | |
Gruppe in einem Interview mit dem britischen Sender BBC am Samstag, die | |
Hamas habe am 7. Oktober keine Frauen, Kinder und Zivilisten angegriffen. | |
Gleichzeitig will die israelische Regierung mit den Journalistenfahrten ihr | |
eigenes Narrativ in die Medien bringen: „Hamas ist Isis“, betonen die | |
Tourenbegleiter des Regierungspressebüros mehrmals. Israelische Politiker, | |
darunter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, wiederholen diesen Satz seit | |
den Massakern regelmäßig. | |
Der israelische Botschafter in Berlin ging noch einen Schritt weiter und | |
proklamierte bei X (vormals Twitter): „Hamas ist schlimmer als ISIS“. Ende | |
Oktober zerstörten israelische Soldaten das Haus des Vize-Vorsitzenden des | |
Hamas-Politbüros im Westjordanland. Auf den Trümmern hissten sie Berichten | |
zufolge eine Fahne mit der Aufschrift „Hamas = Isis“. | |
Mehr als 1.400 Menschen starben beim Angriff der [1][Hamas]. Rund 240 | |
wurden in den Gazastreifen verschleppt. 18 Bewohner von Kfar Aza werden | |
unter den Geiseln vermutet. Rund 20 Leichen von Angreifern wurden in dem | |
Dorf geborgen. | |
Das Ausmaß des Massakers ist für viele in Israel noch immer schwer zu | |
begreifen. Bis heute finden Beerdigungen von Opfern statt, die erst jetzt | |
identifiziert werden konnten. Immer wieder wird der Angriff als das | |
schlimmste Trauma seit dem Holocaust bezeichnet. | |
Entsprechend entschieden fällt seither die israelische Antwort aus. Bei | |
Kfar Aza donnern ohrenbetäubend die nahen Artilleriegeschütze. Bei ihrem | |
Gegenangriff hat die Armee binnen weniger Wochen ganze Stadtviertel im | |
Gazastreifen dem Erdboden gleichgemacht. Hunderttausende der mehr als zwei | |
Millionen Bewohner des Gazastreifens sind nach israelischen Aufforderungen | |
in den Süden geflohen. | |
Dort haben sie aufgrund der israelischen Blockade jedoch kaum noch Wasser, | |
Nahrungsmittel, Strom oder Medikamente. Mehr als 10.000 Menschen sind laut | |
dem von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium in Gaza getötet | |
worden, darunter über 4.000 Kinder. Schon jetzt ist dieser Krieg der | |
blutigste im israelisch-palästinensischen Konflikt seit Israels Gründung | |
1948. | |
Der israelische Ministerpräsident [2][Benjamin Netanjahu] erklärte | |
wiederholt, Israel werde seine Angriffe nicht beenden, bevor die Hamas | |
zerstört und die Geiseln freigelassen seien. Wie ein Sieg über die Hamas | |
aussehen soll und wie es danach im Gazastreifen weitergehen könnte, ist | |
bisher jedoch unklar. Auch konnten israelische Soldaten wohl erst eine der | |
Entführten befreien. Der bewaffnete Arm der Hamas meldete hingegen, dass | |
mehr als 60 Geiseln wegen der israelischen Luftangriffe vermisst würden. | |
Die Angaben lassen sich nicht überprüfen. | |
Der mangelnde Fortschritt und der Versuch Netanjahus, die Verantwortung für | |
das kolossale Versagen der Sicherheitsbehörden auf seine Generäle | |
abzuwälzen, hat bei vielen das Gefühl gestärkt, sich in der Krise nicht auf | |
die politische Führung verlassen zu können. In der israelischen | |
Gesellschaft wächst unter der Trauer und dem Schock die Wut auf die | |
Regierung. Immer häufiger kommt es zu Protesten vor dem Armeehauptquartier, | |
dem Parlament und Netanjahus Wohnort in Jerusalem. | |
Die Bewohner von Kfar Aza und rund 120.000 weitere Israelis mussten sich | |
aus den Grenzgebieten nahe dem Gazastreifen sowie im Norden nahe Libanon in | |
Sicherheit bringen. Auch Maor Moravia ist heute nur zu Besuch in dem Ort, | |
der vorher sein Zuhause war. „Kfar Aza war unser kleines Paradies, ein | |
sicherer Ort für mich. Jetzt liegt er in Ruinen“, sagt der 37-Jährige. | |
Mit seiner Frau und seinen Kindern überlebte er versteckt in ihrem | |
Schutzraum. Als nach 20 Stunden mitten in der Nacht Soldaten an die Türe | |
klopften, habe er sich zunächst geweigert, zu öffnen. „Ich habe ihnen alle | |
möglichen Fragen gestellt, um sicherzugehen, dass sie nicht bloß Angreifer | |
in Uniform sind.“ Er wolle sein Zuhause wiederaufbauen, sagt Moravia, doch | |
der Ort und die Gemeinschaft seien schwer beschädigt. | |
Schahar Etinger und seine Mutter Edith wohnen jetzt in Naharia im | |
Landesinnern. Sie sei zum zweiten Mal seit dem Angriff hier, sagt die | |
59-Jährige, die ihren Sohn bei der Rückkehr in den Kibbuz begleitet. Sie | |
müsse den Ort sehen, um zu realisieren, was passiert sei. | |
Ihre Schwiegermutter habe Auschwitz überlebt, erzählt sie. „Als wir uns im | |
Schutzraum versteckten und draußen die Angreifer redeten und lachten, da | |
musste ich an ihre Geschichten denken, und ich habe verstanden, wie es sich | |
für die Juden damals angefühlt haben muss.“ Sie habe mehr als 40 Jahre an | |
der Gazagrenze gelebt. „Kfar Aza ist mein Zuhause. Ich habe an den Frieden | |
geglaubt und ich würde gern zurückkehren.“ Vorher aber müsse die Hamas | |
zerstört werden. | |
10 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Felix Wellisch | |
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