| # taz.de -- Hamas-Angriff auf Kibbuz Holit: Der zerstörte Traum vom Frieden | |
| > Als die Hamas am 7. Oktober den Kibbuz Holit angreift, sterben 13 | |
| > Bewohner. Die Überlebenden versuchen jetzt einen Umgang damit zu finden. | |
| Bild: Seit dem Angriff der Hamas auf Holit sind die Häuser des Kibbuz unbewohn… | |
| „Wir hatten hier ein Paradies“, sagt Gigi Lev, wenn sie von [1][Holit] | |
| erzählt. Die 65-Jährige hat in dem kleinen [2][Kibbuz] Aliya gemacht, so | |
| heißt es, wenn Juden die israelische Staatsbürgerschaft erhalten. In Holit | |
| hat sie mit ihrem Mann ihre Kinder großgezogen, hier lebten ihre engsten | |
| Freunde, und sie arbeitete als Englischlehrerin für die gemeinsame | |
| Highschool der benachbarten Kibbuzim. Holit, das war Gigi Levs Zuhause – | |
| doch seit dem 7. Oktober, seit dem Massaker der Hamas, gibt es dieses | |
| Paradies nicht mehr. | |
| Holit liegt vier Kilometer vom Gazastreifen entfernt und war ein Ort der | |
| Gemeinschaft. Kibbuzim sind kleine, oft kollektiv organisierte Siedlungen. | |
| Hier werden Güter geteilt und Beschlüsse kollektiv gefällt. So will es das | |
| sozialistische Leitbild vieler Kibbuzim. Holit, der kleine Kibbuz mit den | |
| hohen Bäumen und den kleinen weißen Häusern, folgt der Tradition eines | |
| Agrarkibbuz und wurde durch die neu zugewanderte Gründergeneration aus der | |
| Diaspora geprägt. In Holit waren auch Menschen aus Palästina willkommen, | |
| wie in so vielen Kibbuzim im Süden Israels. | |
| Bis zur Grenzschließung 2001 pflegte man enge Kontakte zu den Menschen in | |
| Gaza. Oft sind Palästinenser nach Holit gekommen, ob zum Arbeiten oder zu | |
| Besuch. „Unsere Kinder haben Fahrstunden in Gaza genommen. Wir waren | |
| gemeinsam am Strand. Wir haben uns gegenseitig auf Hochzeiten eingeladen“, | |
| erzählt Lev. Auch als Israel die Grenzen schließt, blieben die Bewohner von | |
| Gaza und Holit in Kontakt. Sie waren schlicht Freunde. Wenn in der | |
| Vergangenheit Raketen in der Nähe des Kibbuz einschlugen, kamen die Anrufe | |
| der Freunde aus Gaza, ob es allen gut gehe, ob jemand verletzt sei. | |
| [3][Seit dem 7. Oktober kommen die Anrufe nicht mehr]. Auch das ist die | |
| neue Realität von Holit. | |
| ## Verbundenheit und Schmerz | |
| Als im Zuge des Friedensabkommens mit Ägypten im Jahr 1977 alle jüdischen | |
| Siedlungen von der [4][Sinai-Halbinsel] nach Israel umziehen sollen, machen | |
| die Bewohner*innen von Holit das freiwillig. Damit sind sie eine | |
| Ausnahme. „Wir wollten immer nur Frieden und zu diesem Frieden beitragen“, | |
| sagt Oren Zvada. Er lebt seit 22 Jahren mit seiner Frau und seinen beiden | |
| Kindern in Holit. Insgesamt leben 186 Menschen hier. Seit einigen Jahren | |
| leitet Oren Zvada den Kibbuz. Er kümmert sich um die Plantagen für Mangos, | |
| Avocados und Litschis und um einige Dutzend Rinder. „Alles, wirklich alles, | |
| haben wir hier mit unseren eigenen Händen aufgebaut. Jedes Kabel haben wir | |
| selbst verlegt“, sagt er. | |
| Denkt er an Holit, dann verspürt er Verbundenheit, aber auch Schmerz. „Im | |
| Kibbuz zu leben ist zu 80 Prozent Himmel und zu 20 Prozent Hölle“, sagt | |
| Zvada. So nah an einem derart konfliktbelasteten Gebiet zu wohnen, die | |
| ständige Bedrohungslage, gehe nicht spurlos an den Bewohnern des Kibbuz | |
| wobei. Wer hier lebt, leidet unter einer permanenten Bedrohung, so Zvada. | |
| Als am Morgen des 7. Oktober die Raketenwarnung auf Gigi Levs Handy | |
| erscheint, flüchtet sie in den Safe Room ihres Hauses. Es dauert nicht | |
| lang, da hört sie die ersten Schüsse. Es sind die der Hamas-Terroristen, | |
| die von Haus zu Haus gehen, um sich schießen und eines nach dem anderen | |
| anzünden. Wer sich in den Schutzräumen verschanzt, soll gezwungen werden, | |
| diese zu verlassen. | |
| Die Hamas-Terroristen erschießen Kinder, verwüsten Häuser, bringen Wände | |
| zum Einsturz. Das zeigen die Bilder, die Oren Zvada zeigt. | |
| ## Leiche mit Sprengfallen versehen | |
| Während sie im Schutzraum ihres Hauses ausharrt, erreichen Gigi die | |
| verzweifelten Nachrichten ihrer besten Freundin über WhatsApp. Minutenlang, | |
| bis das Telefon schließlich stumm bleibt. Es ist das letzte Mal, dass sie | |
| von ihr hört. Sie überlebt nicht. „Ich kann nicht glauben, dass sie einfach | |
| nicht mehr da ist“, sagt Gigi und weint. | |
| Gigis Freundin ist nur eine Tote von vielen. Auch Adi Vital-Kaploun lebte | |
| im Kibbuz. Auch sie hatte zwei kleine Kinder, vier Monate und vier Jahre | |
| alt. Nachdem die Terroristen in ihr Haus eingedrungen sind, erschießen sie | |
| die junge Mutter, schneiden der toten Frau den Bauch auf und bringen | |
| Sprengfallen an ihrem Körper an. So erzählt es Zvada. Zehn Stunden dauert | |
| es vom ersten Schuss, bis die israelische Armee den Kibbuz erreicht. Gigi | |
| Lev wird von Soldaten in einen Jeep gezogen, mitnehmen darf sie nichts. Sie | |
| erinnert sich nicht, ob sie überhaupt Schuhe anhatte. | |
| Neben all diesem Horror ist die Geschichte der Bewohner von Holit auch eine | |
| von Mut und Zusammenhalt. Gigi Lev erzählt von einer jungen Frau, die, noch | |
| während Terroristen im Kibbuz waren, eine Nachbarin gerettet hatte. Die | |
| wenigsten der Bewohner von Holit konnten sich mit eigenen Waffen gegen den | |
| Angriff der Terroristen verteidigen. Oren Zvada sagt von sich, dass er | |
| niemand sein will, der eine Waffe im Haus hat. | |
| In den letzten Tagen war Gigi Lev viel unterwegs. „Wir leben eigentlich nur | |
| noch von Tag zu Tag. So ist unser Leben jetzt.“ Sie ist nur eine von über | |
| 300.000 Israelis, die aktuell nicht zu ihren Häusern zurückkehren können. | |
| Flucht im eigenen Land. Gewissheit darüber, was es bedeutet, all die | |
| geliebten Menschen verloren zu haben, wird wahrscheinlich erst später | |
| kommen. | |
| In den ersten 13 Tagen nach dem Massaker hat Gigi Lev 13 Beerdigungen | |
| besucht. 13: Das ist die Zahl der Menschen, die das Massaker von Holit | |
| nicht überlebt haben. Sie ist quer durch das ganze Land gereist. Nun sitzen | |
| sie und Oren Zvada vor dem Hotel eines benachbarten Kibbuz und sprechen per | |
| Videochat mit Journalist*innen. Das, was in Holit passiert ist, soll Gehör | |
| finden. Niemand soll vergessen werden. Das Sprechen hilft. | |
| Immer wieder würden Psychotherapeuten, die ihnen geschickt wurden, sie | |
| auffordern, über das Erlebte, die Verluste, die Trauer zu sprechen. Es | |
| erleichtert das Warten. Denn das, was Oren Zvada, Gigi Lev und den anderen | |
| Bewohnern von Holit bleibt, ist Warten, der Glaube an später, an Rückkehr. | |
| Alle wollen sie zurück nach Holit. Es ist der Wille, weitermachen zu | |
| wollen. Auch das bedeutet Weitermachen: Kritik üben. Unter die Dankbarkeit | |
| für die Solidarität mischt sich bei Oren Zvada auch Bitterkeit: „Ich sage | |
| jetzt etwas politisch Unkorrektes. Es gibt eine Privilegierung von Geiseln. | |
| Wer noch einen weiteren ausländischen Pass hat, kann sich auf mehr | |
| Autoritäten berufen, bekommt mehr Unterstützung.“ | |
| Während Israel im Krieg steckt und sich viele Israelis bis heute fast | |
| täglich in Schutzräumen verstecken müssen, haben sie in Holit die letzten | |
| Toten begraben. Wenn Zvada und Lev davon erzählen, ist neben all dem | |
| Schmerz doch so etwas wie Hoffnung herauszuhören. Hoffnung darauf, dass man | |
| irgendwann wieder an den geliebten Ort zurückkehren kann. Gerade sammeln | |
| die Bewohner*innen von Holit Geld. 1,5 Millionen US-Dollar soll es | |
| kosten, die zerstörten Häuser wieder aufzubauen und die ausgebrannten Autos | |
| zu ersetzen. Doch sie sind bereit, dafür zu kämpfen. Schon allein, weil sie | |
| sich kein anderes Leben als das vorstellen können, was sie bis zum 7. | |
| Oktober geführt haben. | |
| Also feiert Oren Zvada den sechsten Geburtstag seines Sohnes, so wie man | |
| den Geburtstag eines Kindes feiert. „Aber dieses Mal ist es ein | |
| besonderer“, sagt Oren Zvada. | |
| 16 Nov 2023 | |
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| [4] /Sinai-Halbinsel/!t5247154 | |
| ## AUTOREN | |
| Jessica Ramczik | |
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