| # taz.de -- Krieg in Nahost: Die Tode des Universalismus | |
| > Der Krieg im Gazastreifen zeigt, dass universelle Menschenrechte leere | |
| > Worte sind. Die Menschen haben schlicht nicht alle dieselben Rechte. | |
| Bild: Von israelischen Bomben zerstörtes Haus in Rafah im Gazastreifen am 12. … | |
| Die Menschenrechte, so schreibt der amerikanische Rechtsphilosoph Sam Moyn, | |
| sind eine gute Idee mit einer schwierigen Geschichte. Wir könnten die Welt, | |
| wie wir sie heute, vom Westen aus, denken, nicht ohne die Menschenrechte | |
| denken, die notwendigerweise universell sein müssen, sonst wären es keine | |
| Menschenrechte. Sie sind ein Ergebnis der Französischen Revolution und | |
| ihrer Werte von Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit. Sie wurden zur | |
| Grundlage der Weltordnung nach dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges und | |
| des Holocausts. | |
| Schwierig ist die Geschichte, weil niemand so naiv war zu glauben, dass | |
| diese universellen Menschenrechte jenseits von Ideologie und Interessen | |
| existieren, im luftleeren historischen Raum sozusagen. [1][Moyn] etwa | |
| beschreibt in seinem Buch „[2][Not Enough]“ für die Nachkriegszeit nach | |
| 1945, wie sich der Diskurs der Menschenrechte parallel zum Diskurs über den | |
| Markt entwickelte – kurz gesagt: Je freier und radikaler der Markt gedacht | |
| wurde, desto lauter und letztlich leerer wurde die Rede über die | |
| Menschenrechte; sie waren das ideale rhetorische Mittel, das man fordern | |
| konnte, aber nicht durchsetzen musste. | |
| Das ist das Problem mit solchen großen Prinzipien: Sie sind unverzichtbar, | |
| wenn man eine Welt will, die gerecht ist; sie sind aber so idealistisch | |
| konzipiert, dass sie oft nur Worte bleiben – Papier. Auch das war, in | |
| vielem, eine Tatsache, die als Grundlage im entweder zynisch oder | |
| realpolitisch zu nennenden Spiel der Weltmächte irgendwie akzeptiert wurde. | |
| Wie gesagt: Interessen sind real. Lügen sind nicht nur ein individuelles | |
| Charakterdefizit. | |
| Eine bessere Welt muss immer wieder neu erstritten werden; dazu braucht es | |
| Ideale und auch den Willen, ab und zu davon abzusehen. Der Krieg im | |
| Gazastreifen hat das im Grunde nur noch ein weiteres Mal deutlich gemacht: | |
| Menschenrechte gelten nicht für alle Menschen gleich, auch wenn sie | |
| universell genannt werden; und mit der geopolitischen Struktur zerfällt | |
| auch die rechtliche Struktur der Nachkriegsordnung seit 1989. | |
| ## Moralische Schwäche des Westens | |
| Was anders ist, ist nicht nur die Intensität des Sterbens, die hohe Zahl | |
| der Opfer, die Drastik der Situation. Was anders ist, ist eine | |
| [3][offensichtliche moralische Schwäche des Westens], verbunden mit einer | |
| realen Schwächung im geopolitischen Kontext. Was anders ist, ist die | |
| tiefergehende und bleibende Erschütterung des Konzepts des Universalismus. | |
| Die Bilder und Nachrichten aus dem Gazastreifen sind schwer zu ertragen, | |
| genauso wie immer noch die [4][Bilder und Schilderungen der Hamas-Massaker] | |
| vom 7. Oktober. Diese beiden Ereignisse, die so schwer zu trennen sind und | |
| die doch auch getrennt gesehen werden müssen, wenn man den jeweiligen | |
| Schrecken anerkennen will. Das ist nicht leicht für viele, und es sind | |
| Juden und Jüdinnen, die sich verraten fühlen seit dem 7. Oktober, genauso | |
| wie Palästinenser und Palästinenserinnen. | |
| Im Grunde ist der Universalismus der Versuch einer Antwort auf dieses | |
| Dilemma: Das Leid ist immer partikular, konkret, vor Ort; die Lösung | |
| erfordert übergreifende Prinzipien, Werte, Maßstäbe. Das Verbindende ist | |
| damit die Abstraktion der Werte; genau die Werte, die immer dann beschworen | |
| werden, wenn sie gerade passend erscheinen – wie oft etwa wurde gesagt, | |
| dass die Ukraine für „unsere“ Werte kämpft? Und was ist mit „unseren“ | |
| Werten nun, da es um andere Opfer geht, um einen anderen Krieg? | |
| Wie gesagt, die Lügen und die Heuchelei sind keine | |
| menschheitsgeschichtlichen Erfindungen der letzten fünf Monate; aber es ist | |
| nun mal so, dass in den vergangenen Jahren des Kulturkampfes der Diskurs | |
| von Werten, Freiheit, vom Westen mehr als sonst wie eine Rute benutzt | |
| wurde, um anderen eins mitzugeben – solange es eben um die eigene Sache | |
| ging. | |
| ## Den Tod nicht einfach hinnehmen | |
| All die hohlen Bücher über [5][Cancel Culture] und die Freiheit der Rede | |
| und der Kunst – wo sind denn die Autor*innen heute, wenn reihenweise | |
| Menschen ausgeladen werden, wenn viele und nicht zu Unrecht den Eindruck | |
| haben, dass Meinungen zensiert werden, dass damit die Grundlage der | |
| Demokratie aus der Mitte heraus gefährdet wird? All die Forderungen, dass | |
| etwa Menschen, die nach Deutschland kommen, sich zu „unseren“ Werten | |
| bekennen müssen. | |
| Wie sind diese Werte zu finden in den Ruinen von Gaza, wie kann man einen | |
| universellen Zynismus zur Grundlage eines opportunistischen Wertesystems | |
| machen? Noch mal: Für mich sind die Schrecken des 7. Oktobers nicht zu | |
| trennen von dem, was danach passierte; und sie sind doch zu trennen, weil | |
| nicht jeder, der von Leid betroffen ist, das Leid der anderen sehen kann | |
| und will. Universalismus ist eine unmögliche Idee, das ist die Provokation. | |
| Und es ist natürlich absurd, wenn dann ausgerechnet eine [6][Lesung der | |
| universalistischen Denkerin Hannah Arendt] von in diesem Fall | |
| propalästinensischen Protesten gestört wird, wie gerade geschehen im | |
| Hamburger Bahnhof in Berlin. Aber es ist auch nur ein Bestandteil einer | |
| Wirklichkeit, die sehr grundsätzlich aus den Fugen geraten ist. | |
| Die eigentliche Erschütterung findet woanders statt, und es ist sehr | |
| durchschaubar, wenn sich viele vor allem auf die Reaktionen konzentrieren, | |
| die Auswirkungen, die man diskursiv leichter verhandeln kann als die | |
| Gründe. Der Universalismus ist schon viele Tode gestorben, jeden Tag an den | |
| europäischen Außengrenzen, in Gaza, in den [7][Lagern der Uiguren], mit | |
| jedem Krieg und jeder Hungersnot und letztlich als Wesen des Systems | |
| selbst, das auf dem Universalismus der pekuniären Art beruht, dem Kapital. | |
| Nicht jeder Tod kann verhindert werden; aber wenn der Tod so hingenommen | |
| wird, wie gerade in Gaza, und wenn die Konsequenzen bis weit in diese | |
| Gesellschaft hineinwirken, dann zerfasert das bisschen Konsens, das es | |
| braucht, damit die universellen Werte, wenn überhaupt, verbindend sein | |
| können. | |
| 15 Feb 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://history.yale.edu/people/samuel-moyn | |
| [2] https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-26550 | |
| [3] /Israels-Krieg-in-Gaza/!5981361 | |
| [4] /Sexualisierte-Gewalt-durch-Islamisten/!5977286 | |
| [5] /Cancel-Culture-und-Wokeness/!5882236 | |
| [6] /Kubanische-Kuenstlerin-zu-Hannah-Arendt/!5989599 | |
| [7] /Uiguren-in-Umerziehungslagern/!5827774 | |
| ## AUTOREN | |
| Georg Diez | |
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