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# taz.de -- Israels Krieg in Gaza: Das laute Schweigen der Deutschen
> Mit der Haltung zum Nahost-Krieg verrät Deutschland seine Werte. Statt
> den Kurs zu hinterfragen, verstehen sich Medien als Hüter der
> „Staatsräson“.
Bild: Laut CNN seien fast die Hälfte der Bomben, die Israels Armee über Gaz…
Zu Russlands Krieg gegen die Ukraine fanden deutsche Politikerinnen und
Politiker klare Worte. Deutschland stehe „in der Pflicht, die
Menschenrechte überall und zu jeder Zeit zu achten und zu verteidigen“,
erklärte Olaf Scholz [1][im Herbst 2022 vor der Vollversammlung der
Vereinten Nationen in New York]. Den Internationalen Strafgerichtshof und
den UN-Menschenrechtsrat werde sein Land „mit aller Kraft“ unterstützen,
versprach er. Und: Hunger dürfe nie wieder als Waffe eingesetzt werden,
sagte der Kanzler [2][an anderer Stelle].
„Gezielte Angriffe auf zivile Infrastrukturen – mit der klaren Absicht,
Männer, Frauen und Kinder von Wasser, Strom und Heizung abzuschneiden –
sind reine Terrorakte“, sagte EU-Kommissionspräsidentin [3][Ursula von der
Leyen im Oktober 2022 vor dem Europaparlament in Straßburg], wo sie auch
klarstellte: „Das sind Kriegsverbrechen.“ Und [4][Außenministerin Baerbock
sagte im Februar 2023 vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf] mit Blick auf
die Kinder, die in diesem Krieg zum Opfer werden: „Wir müssen ihre Namen
aussprechen und ihre Rechte fördern. Und wir müssen die Täter beim Namen
nennen“.
Zu Israels Kriegsführung in Gaza fehlen deutschen Politikerinnen und
Politikern dagegen die Worte – und das seit drei Monaten. Bei allen
Unterschieden – es gab keinen Terrorangriff auf Russland, die Ukraine ist
ein souveräner Staat – wird jetzt auch in Gaza eine zivile Bevölkerung
kollektiv bestraft und deren zivile Infrastruktur angegriffen, werden
überproportional viele Kinder getötet und Hunger als Waffe eingesetzt. All
das sind Kriegsverbrechen. Doch der deutschen Politik hat es die Sprache
verschlagen. Damit verrät Deutschland seine Werte, macht sich unglaubwürdig
und entfremdet sich vom Rest der Welt.
## Katastrophale Lage
In seiner Neujahrsansprache erwähnte Scholz die Lage in Gaza mit keiner
Silbe, dabei ist sie dramatisch. 85 Prozent der 2,3 Millionen Menschen im
Gazastreifen wurden in den letzten drei Monaten [5][innerhalb ihrer Enklave
vertrieben] und suchen in deren Süden Schutz, die Hälfte von ihnen ist
minderjährig. Mehr als einer Million droht der Hungertod, [6][warnt die
UN]. Vier von fünf der hungrigsten Menschen der Welt leben in Gaza, schrieb
UN-Generalsekretär António Guterres kurz vor Weihnachten [7][auf dem
Nachrichtendienst X]. Ein Viertel der Menschen in Gaza könnte im Laufe
eines Jahres an Hunger und Krankheiten sterben, weil es an Nahrung,
sauberem Wasser und medizinischer Versorgung fehlt, warnt die
Global-Health-Analystin und [8][Guardian-Kolumnistin Devi Sridhar]. Die
Menschenrechtsorganisationen [9][Oxfam] und [10][Human Rights Watch] werfen
Israel vor, Hunger als Kriegswaffe zu benutzen.
Mehr als 22.000 Menschen sind [11][offiziellen palästinensischen Angaben
zufolge] bereits israelischen Bomben zum Opfer gefallen, mehr als zwei
Drittel davon sollen Frauen und Kinder sein. Die tatsächliche Zahl dürfte
höher sein, weil Tausende weitere Menschen womöglich noch unter den
Trümmern begraben liegen. Zehntausende sind teilweise schwer verletzt,
allein tausend Kinder sollen eines oder beide Beine verloren haben. Doch
höchstens 13 von 36 Krankenhäusern im Gazastreifen sind laut der [12][WHO]
noch funktionsfähig, im Norden kein einziges mehr.
Unter den vielen Opfern finden sich eine Rekordzahl an Ärztinnen und
Ärzten, Journalistinnen und Journalisten, UN-Mitarbeiterinnen und
-Mitarbeitern, aber auch Intellektuelle und [13][Kunstschaffende]. Das
Rechercheteam von [14][Forensic Architecture] wirft Israel eine
systematische Kampagne gegen die medizinische Infrastruktur in Gaza vor.
Das [15][Internationale Presse-Institut (IPI)] spricht von „der größten
Anzahl von Journalisten, die in einem modernen Krieg oder Konflikt in so
kurzer Zeit getötet wurden“. Das [16][Committee to Protect Journalists]
(CPJ) in New York zeigte sich „besonders besorgt über ein offensichtliches
Muster von Angriffen des israelischen Militärs auf Journalisten und ihre
Familien“.
## Die vierte Gewalt fällt aus
Die israelische Kriegsführung im Gazastreifen gehöre schon jetzt zu den
tödlichsten und zerstörerischsten der jüngeren Geschichte, berichtete die
amerikanische Agentur [17][Associated Press]. In knapp drei Monaten habe
Israels Armee mehr Zerstörung angerichtet als Assads Armee im syrischen
Aleppo in den vier Jahren zwischen 2012 und 2016, Russlands Armee im
ukrainischen Mariupol oder die US-geführte Koalition in ihrem dreijährigen
Feldzug gegen den IS in Mossul und Rakka. Sie zitierte die Wissenschaftler
Corey Scher und Jamon Van Den Hoek, zwei ausgewiesene Experten auf dem
Gebiet der Kartierung von Kriegsschäden, die dafür Satellitendaten
auswerteten.
Der US-Sender [18][CNN] berichtete, fast die Hälfte der Bomben, die Israels
Armee über Gaza abwerfe, seien sogenannte „dumme“, unpräzise Bomben, die
viele Zivilisten töteten. Die New York Times berichtete, Israels Armee habe
einige dieser „dummen“ 2.000-Pfund-Bomben über Gebieten abgeworfen, die sie
vorher zu angeblich sicheren Schutzzonen für die Zivilbevölkerung erklärt
habe, auch über Flüchtlingslagern.
Solche Recherchen sucht man in deutschen Leitmedien vergeblich. Hier empört
man sich eher über Greta und Masha Gessen als über den Krieg in Gaza. Denn
viele Journalistinnen und Journalisten hierzulande verstehen sich vor allem
als Hüter der Staatsräson. Sie sind mehr damit beschäftigt, abweichende
Meinungen zu verurteilen, als den deutschen Schulterschluss mit Israel zu
hinterfragen. Statt ihre Leserinnen und Leser zu informieren, missionieren
sie. Als vierte Gewalt fallen sie aus. Deshalb machen sich in Deutschland
viele keine Vorstellung davon, was gerade in Gaza passiert. Oder, weil sie
es gar nicht wissen wollen. Weil sie sich die Dinge schönreden.
## Bedenkliche Fantasien
Wenn das Ziel des Krieges ist, die Hamas, und ausschließlich die Hamas,
vernichtend zu schlagen – warum hat die israelische Armee den Norden von
Gaza praktisch unbewohnbar gemacht? Warum zweifeln israelische
Politikerinnen und Politiker bis hin zum Präsidenten an, dass man in Gaza
zwischen Terroristen und Zivilbevölkerung unterscheiden könne? Warum
sprechen manche Minister ganz offen davon, die Palästinenser aus Gaza zu
vertreiben und dort wieder jüdische Siedlungen zu errichten? Und warum
beschwor der israelische Premier im Kampf gegen die Hamas die biblische
Legende vom Volk Amalek, das immer wieder gegen das Volk Israel kämpfte und
dafür zur Strafe mit Stumpf und Stiel ausgerottet wurde?
Diese Fragen könnten Politik und Medien stellen. Doch in Deutschland
klammert man sich noch immer an die Vorstellung, Israel sei ein Staat, mit
dem man gemeinsame Werte teile und der sich an das Völkerrecht halte. Dabei
hat Israel eine lange Geschichte von dokumentierten Kriegsverbrechen, die
nie geahndet wurden, und für Palästinenser, die unter seinem
Besatzungsregime leben, gilt ein anderes Recht als für israelische
Staatsbürger – das Militärrecht. Relevante Menschenrechtsgruppen – nicht
nur Amnesty International, sondern auch Human Rights Watch und die
israelische Organisation B’Tselem – sprechen deshalb von einem
Apartheidsystem.
## Schwere Vorwürfe
Wie anders in anderen Teilen der Welt über Israels Kriegsführung gedacht
wird, zeigt Südafrikas Vorstoß, das Land jetzt wegen „Völkermord“ vor dem
Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu verklagen. Auch die Regierungen
Brasiliens, Kolumbiens und Boliviens, Algeriens und anderer Staaten erheben
den Genozid-Vorwurf gegen Israel. Südafrikas 84-seitige Anklageschrift
versucht zu belegen, dass es sich bei der massiven Zerstörung und den
vielen Toten im Gazastreifen um das Ergebnis einer gezielten Strategie
handelt. Es ist eine bedrückende Lektüre.
Im Eilverfahren sollen die UN-Richter aus Sicht Südafrikas nun ein Ende der
Gewalt gegen Palästinenserinnen und Palästinenser anordnen. Vier von fünf
Staaten der Welt stimmten bereits im November in der UN-Generalversammlung
für einen sofortigen humanitären Waffenstillstand in Gaza. Deutschland
gehörte zu den wenigen Ländern, die dagegen stimmten oder sich enthielten.
Europäische Staaten stimmten kreuz und quer – Österreich und Tschechien an
der Seite Israels und der USA; Frankreich, Spanien und Belgien dagegen für
einen Waffenstillstand. Deutschland enthielt sich. Eine gemeinsame
europäische Außenpolitik liegt in Trümmern. [19][Jean Asselborn],
Luxemburgs Ex-Außenminister, warnte daher schon vor einem Monat: „Die
Geschichte wird uns das nicht verzeihen.“
Ob es sich im juristischen Sinne um Völkermord handelt, werden Juristinnen
und Historiker vermutlich erst rückblickend beurteilen. Fest steht aber
schon jetzt, dass es im Gaza-Krieg deutliche Anzeichen für massive
Kriegsverbrechen gibt – nicht nur seitens der Hamas bei ihrem Massaker am
7. Oktober und ihren ständigen Raketenangriffen, sondern auch seitens der
israelischen Armee, durch die kollektive Bestrafung und ihr
Dauerbombardement der Zivilbevölkerung von Gaza. Nur Israels Partnerländer
können sie von ihrem verhängnisvollen Kurs abbringen. Selbst US-Präsident
Joe Biden hat die israelische Regierung davor gewarnt, sich durch ihr
„willkürliches Bombardement“ zu isolieren. Die Bundesregierung aber
schweigt und macht sich so mitschuldig.
Die Deutschen möchten gerne glauben, sie hätten aus ihrer Geschichte
gelernt. Der Rest der Welt hört ihr lautes Schweigen und sieht ihr
bewusstes Wegschauen. Er nimmt deutsche Politikerinnen und Politiker nicht
mehr ernst, wenn sie von Menschenrechten sprechen. Das hat fatale Folgen:
Es untergräbt die Bemühungen um eine regelbasierte Weltordnung und
ermuntert auch andere Staaten, auf das Recht des Stärkeren zu setzen.
7 Jan 2024
## LINKS
[1] /Scholz-bei-der-UN-Generalversammlung/!5883125
[2] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/scholz-getreide-hunger-ukraine-krieg…
[3] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/strom-ausfall-abschaltung-selenskyj-…
[4] /Baerbock-im-UN-Menschenrechtsrat/!5918295
[5] /-Nachrichten-im-Nahost-Krieg-/!5978847
[6] https://www.nytimes.com/2024/01/01/world/middleeast/gaza-israel-hunger.html
[7] https://twitter.com/antonioguterres/status/1738575438136680790
[8] https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/dec/29/health-organisations-…
[9] https://www.oxfam.org/en/press-releases/starvation-weapon-war-being-used-ag…
[10] https://www.hrw.org/news/2023/12/18/israel-starvation-used-weapon-war-gaza
[11] https://www.reuters.com/world/middle-east/how-many-palestinians-have-died-…
[12] https://www.who.int/news/item/27-12-2023-who-teams-deliver-supplies-to-hos…
[13] https://www.theguardian.com/world/2023/nov/13/a-painter-a-poet-a-novelist-…
[14] https://forensic-architecture.org/investigation/destruction-of-medical-inf…
[15] https://ipi.media/global-attacks-on-press-freedom-demand-action-and-resili…
[16] https://cpj.org/
[17] https://apnews.com/article/israel-gaza-bombs-destruction-death-toll-scope-…
[18] https://www.cnn.com/2023/12/13/politics/intelligence-assessment-dumb-bombs…
[19] https://www.domradio.de/glossar/asselborn-warnt-vor-historischen-fehlern-z…
## AUTOREN
Daniel Bax
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