# taz.de -- Israelische Hamas-Geiseln: Das Warten der Angehörigen | |
> Israel und die Hamas verhandeln wieder ernsthaft. Wie blicken Angehörige | |
> der Geiseln auf das Ringen um das Leben ihrer Liebsten? | |
Bild: Yair Moses Finkelstein und seine Frau Yifat in ihrem Haus in Gedera | |
GEDERA UND TEL AVIV taz | Auf der Brust von Jair Moses klebt ein gelber | |
Aufkleber mit einer schwarzen „117“ darauf. Sie steht für die Anzahl der | |
Tage, die sein Vater Gadi an diesem Mittwoch, dem 31. Januar, bereits in | |
Gefangenschaft der Hamas verbracht hat. Der 49-Jährige Jair und seine Frau | |
Yifat sitzen an ihrem Küchentisch in der israelischen Kleinstadt Gedera. | |
„Ich habe vergangene Woche Benjamin Netanjahu getroffen und ihm gesagt, | |
dass er eine neue Strategie braucht“, sagt Jair Moses. Netanjahu scheine | |
überzeugt, dass nur militärischer Druck zur Befreiung der Geiseln führen | |
könne. Jair Moses aber zweifelt daran, [1][ob das Schicksal der mehr als | |
130 verbliebenen Gefangenen in Gaza noch oberste Priorität habe]. „Es ist | |
60 Tage her, dass das letzte Mal eine Geisel lebend freigekommen ist.“ | |
Als seien seine Worte erhört worden, gibt es derzeit erstmals seit Wochen | |
wieder ernsthafte Verhandlungen über eine Freilassung von Geiseln und eine | |
Feuerpause im Gazakrieg. Nach einem Treffen von Vertretern Israels, der | |
USA, Ägyptens und Katar Ende Januar in Paris soll laut Medienberichten ein | |
Rahmenabkommen vorliegen. Es soll die Freilassung von 35 Geiseln im | |
Gegenzug für eine 35-tägige Feuerpause beinhalten. Laut des | |
US-amerikanischen Wall Street Journals könnten zwei weitere Phasen folgen, | |
in denen auch israelische Soldatinnen und Soldaten im Austausch gegen | |
palästinensische Gefangene freikommen. | |
Doch Regierungschef Netanjahu stellte am Mittwoch auch klar: Es werde kein | |
Abkommen „um jeden Preis“ geben. Die Freilassung „Tausender Terroristen“ | |
und ein Abzug der israelischen Truppen kämen nicht in Frage. Zugleich | |
schickt sich die israelische Armee Medienberichten zufolge offenbar an, | |
nach Rafah an der Südgrenze des Gazastreifens vorzustoßen. | |
## „Es ist die Hölle“ | |
Die Hamas hingegen besteht öffentlich bislang auf einem dauerhaften | |
Waffenstillstand. Am Donnerstag teilte ein katarischer Vertreter mit, die | |
Terrorgruppe habe den Vorschlag „positiv aufgenommen“. Kurz darauf hieß es | |
aus palästinensischen Kreisen, diese Meldung sei „vorschnell und falsch“. | |
„Wir hören seit Monaten, dass die Geiseln freikommen könnten, und werden | |
dann wieder enttäuscht“, sagt Jair Moses. „Es ist die Hölle.“ Er mache … | |
daher nicht zu viele Hoffnungen, „um nicht zu tief zu fallen“. | |
Am frühen Morgen waren Jair und Yifat Moses in Tel Aviv für ein Treffen mit | |
einem israelischen Fernsehsender. „Ich gebe sechs bis zehn Interviews pro | |
Woche“, sagt Jair, dessen Gesicht ein graumelierter Vollbart ziert. „Seit | |
dem 7. Oktober habe ich mich nicht mehr rasiert.“ Von seiner Arbeit als | |
IT-Techniker für ein Pharmaunternehmen hat er sich freistellen lassen. „Ich | |
tue, was ich kann, um die Geiseln in den Köpfen der Menschen zu halten.“ | |
Sein Vater Gadi (79) und seine Mutter Margalit (78) waren am 7. Oktober aus | |
dem Kibbutz Nir Oz entführt worden. Die Lebensgefährtin seines Vaters, | |
Efrat Katz, wurde ermordet. | |
Margalit war [2][unter den ersten Freigelassenen], als Ende November eine | |
Feuerpause in Kraft trat, nach 50 Tagen Geiselhaft in unterirdischen | |
Tunneln. Gadi blieb in Gefangenschaft. | |
## Der Alltag drängt sich zurück | |
Yifat und Jair Moses tragen T-Shirts mit der Aufschrift „Bringt sie jetzt | |
zurück nach Hause“. Dazu gelbe Schleifen und Armbänder, die in Israel zum | |
Zeichen der Solidarität mit den von der Hamas Verschleppten geworden sind. | |
„Meine 19-jährige Tochter macht Witze, dass ich wie eine Werbetafel | |
aussehe“, sagt Jair Moses. „Aber das ist jetzt meine Aufgabe.“ | |
Trotz der Plakate mit den Gesichtern der Entführten, die man überall in | |
Israel sieht: Mittlerweile drängt sich der Alltag zurück in das Leben, auch | |
bei den Angehörigen. Die Kinder gingen wieder in die Schule und zum Sport. | |
„Die Routine tut ihnen gut“, sagt Yifat Moses. Und obwohl das Schicksal | |
seines Vaters mit jedem Tag schlimmer werde, sagt Jair: „Manche Teile der | |
Geschichte spule ich mittlerweile mechanisch herunter.“ | |
Auf dem Tisch steht ein Karton mit Fotos, die die Familie aus dem | |
verwüsteten Haus im Kibbuz Nir Oz geborgen hat. Auf den | |
Schwarz-Weiß-Aufnahmen sind junge Männer und Frauen bei der Feldarbeit und | |
mit ihren Kindern zu sehen. Jairs Vater ist darauf 20 Jahre alt und strahlt | |
in die Kamera. „Sie sind in den 60er-Jahren nach Nir Oz gezogen“, erzählt | |
der Sohn. „Als ich selbst Ende der 70er-Jahre ein kleiner Junge war, sind | |
wir mit dem Traktor oft die zehn Kilometer an den Strand von Chan Junis | |
gefahren.“ Seine Eltern hätten bis zur Ersten Intifada, dem | |
palästinensischen Volksaufstand in den 80er-Jahren, Kontakte nach Gaza | |
gehabt. Einen Zaun gab es damals nicht. | |
„Sie haben an Frieden geglaubt“, sagt Jair Moses. „Sie fuhren in ihrer | |
Freizeit Palästinenser vom Grenzübergang Erez in israelische | |
Krankenhäuser.“ Später sei sein Vater viel gereist und habe unter anderem | |
im Sudan und in Ägypten Schulungen für Farmer gehalten, wie sich | |
Landwirtschaft mit spärlichen Wasserressourcen betreiben lasse. Im Garten | |
der Familie steht ein aus Plastikresten gezimmertes Gewächshaus mit | |
Kartoffeln, Mais und Minze. „Das hat mein Sohn von seinem Großvater | |
gelernt“, sagt Jair Moses. | |
## Seine Stimme, aber nicht seine Worte | |
Mitte Dezember erhält die Familie plötzlich ein Lebenszeichen. Die | |
Terrororganisation Islamischer Dschihad veröffentlicht ein Video von zwei | |
älteren Männern. Einer von ihnen ist Gadi Moses. Er fordert darin ein | |
Abkommen und ein Ende der Bombardierungen. „Es war seine Stimme, aber es | |
waren nicht seine Worte“, sagt Jair und zeigt den Ausschnitt auf seinem | |
Telefon. „Ich war geschockt, wie uralt und dürr er aussah, und das war erst | |
nach 70 Tagen.“ Sein Vater nehme Blutverdünner. Mitte Januar ließ die Hamas | |
erstmals seit Kriegsbeginn eine Medikamentenlieferung für die Geiseln nach | |
Gaza zu. „Ob sie angekommen ist, wissen wir nicht.“ | |
Im nahen Tel Aviv fällt am Donnerstagabend der Regen auf die Zelte und | |
Installationen auf dem „Platz der Geiseln“ vor dem Kunstmuseum. Einige | |
wenige Besucher haben in der 25 Meter langen Nachbildung eines | |
Hamas-Tunnels Schutz vor dem Wetter gesucht und ziehen die Köpfe ein, um | |
nicht an die niedrigen Decken zu stoßen. Wenige Kilometer entfernt | |
blockiert zu diesem Zeitpunkt eine kleine Gruppe der Angehörigen eine | |
Hauptverkehrsstraße. „Keine Zeit mehr“ steht auf ihrem Transparent. | |
Doch knapp vier Monate nach dem Hamas-Überfall ist auch hier, im | |
Hauptquartier des Angehörigen, Erschöpfung spürbar. Der Ton zwischen ihnen | |
und der Regierung hat sich zuletzt verschärft. Nachdem Geiselangehörige | |
Zelte vor der privaten Residenz von Ministerpräsident Netanjahu | |
aufschlugen, warf dieser ihnen vor, der Hamas in die Hände zu spielen. | |
## Als Menschen und nicht als Verhandlungsmasse wahrnemen | |
„Die Familien sind frustriert, sie wissen nicht mehr, was sie noch tun | |
sollen“, sagt Gershon Baskin. Der 67-Jährige hat 2011 die Freilassung des | |
israelischen Soldaten Gilad Schalit aus der Gefangenschaft der Hamas | |
verhandelt. Die Vorgabe der Regierung, die Angehörigen sollten sich ruhig | |
verhalten, solange verhandelt werde, hält er für vollkommen falsch. | |
„Je mehr ihre Namen und Geschichten im öffentlichen Bewusstsein bleiben, | |
desto höher ist die Chance, dass sie weiterhin als Menschen und nicht als | |
bloße Verhandlungsmasse wahrgenommen werden“, sagt er. Denn die Hamas | |
verfüge noch immer über so viele Geiseln, dass es ihrem Anführer Jahia | |
Sinwar auf einige mehr oder weniger nicht ankomme. | |
Das weiß auch Jair Moses und ist bereit, für einen Deal sehr viel | |
weiterzugehen als sein Regierungschef. „Wenn es hilft, unsere Angehörigen | |
nach Hause zu bringen, würde ich auch die Täter vom 7. Oktober freilassen“, | |
sagt er. Den Gefangenen in den Tunneln der Hamas laufe die Zeit davon. | |
## Steigender Druck auf die Regierung | |
Jeremy Issacharoff, bis 2022 israelischer Botschafter in Berlin, rät den | |
Angehörigen, die harte Rhetorik der Regierung zu den Verhandlungen nicht | |
als unverrückbar zu betrachten. „Wenn jetzt öffentlich rote Linien gezogen | |
werden, dann ist das ein ganz normaler Teil der Verhandlungen“, sagt | |
Issacharoff, der die Gefangenschaft von Schalit als Botschafter in den USA | |
erlebt hat. | |
Den scharfen Ton gegenüber den Angehörigen wertet er als Zeichen für den | |
steigenden Druck auf die Regierung, die Geiseln bald und lebend | |
zurückzubringen. Zudem wisse die Hamasführung auch ohne den Protest der | |
Angehörigen sehr gut um die Bedeutung der 130 Geiseln. „2011 haben wir mehr | |
als 1000 Gefangene im Tausch für einen entführten Soldaten freigelassen.“ | |
In Gedera tröstet sich Jair Moses damit, dass zumindest seine Mutter | |
Margalit sich gut von der Hamas-Gefangenschaft erholt. „Sie spricht viel | |
darüber, das beruhigt mich“, sagt er. Sie sei mit einer Gruppe älterer | |
Menschen festgehalten worden, die anders als andere Freigelassene nach der | |
Entführung keinen Missbrauch erlebt hätten und einigermaßen gut versorgt | |
worden seien. „Sie hatte Glück.“ | |
Yifat Moses streicht ihrem Mann über den Vollbart und versucht es mit | |
Humor. „Ich hoffe, Gadi kehrt bald zurück, damit er sich endlich diesen | |
dummen Bart abschneiden kann.“ Dann wird sie ernst: Selbst wenn alle | |
Geiseln befreit würden, der Krieg könne erst enden, wenn die Bedrohung | |
durch die Hamas beseitigt sei. „Wer garantiert uns sonst, dass die Hamas in | |
ein paar Jahren nicht nochmal das Gleiche versucht?“ | |
4 Feb 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Israelische-Geiseln/!5986423 | |
[2] /Freigelassene-Hamas-Geiseln/!5970302 | |
## AUTOREN | |
Felix Wellisch | |
## TAGS | |
Hamas | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Geisel | |
Israel | |
wochentaz | |
GNS | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Podcast „Bundestalk“ | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Krieg in Nahost: Die Tode des Universalismus | |
Der Krieg im Gazastreifen zeigt, dass universelle Menschenrechte leere | |
Worte sind. Die Menschen haben schlicht nicht alle dieselben Rechte. | |
Podcast „Bundestalk“: Nahost – Kann es eine Lösung geben? | |
Die israelische Regierung will die Hamas vernichten. Welche Konsequenzen | |
hat das für das Zusammenleben? | |
Israels Siedlerbewegung: Zurück in den Gazastreifen | |
Bei einem Kongress erneuern Israels Radikale Ansprüche auf den schmalen | |
Gaza-Küstenstreifen. Mit dabei: mehrere Minister aus Netanjahus Kabinett. | |
Hoffnung auf neuen Nahost-Deal: Alle Geiseln gegen zwei Monate Ruhe? | |
In Paris beraten Unterhändler über einen umfassenden Deal zwischen Israel | |
und der Hamas. Noch gibt es laut israelischen Medien aber Differenzen. | |
Mustafa Barghouti über den Gazakrieg: „Hamas ist Teil unserer Gesellschaft“ | |
Der Politiker will die Hamas in eine gesamtpalästinensische Regierung | |
einbinden, um zu Stabilität zu kommen. Für Israelis zeigt er wenig | |
Verständnis. |