# taz.de -- Mustafa Barghouti über den Gazakrieg: „Hamas ist Teil unserer Ge… | |
> Der Politiker will die Hamas in eine gesamtpalästinensische Regierung | |
> einbinden, um zu Stabilität zu kommen. Für Israelis zeigt er wenig | |
> Verständnis. | |
Bild: Mustafa Barghouti auf einer Demonstration in Ein Hijleh, Westjordanland, … | |
Mustafa Barghouti ist Generalsekretär der Palästinensischen Nationalen | |
Initiative (PNI), einer Initiative, die gewaltfreien Widerstand gegen die | |
israelische Besatzung propagiert. Er gilt als möglicher Nachfolger von | |
Mahmud Abbas als Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde. Mit | |
seiner NGO Medical Relief Society (PMRS), die in Gaza an vorderster Front | |
kämpft, ist er rund um die Uhr beschäftigt. Den Gazakrieg beobachtet er aus | |
der Ferne – aus Ramallah im Westjordanland. | |
wochentaz: Herr Barghouti, dass es in Gaza noch keinen Waffenstillstand | |
gibt, liegt auch daran, dass eine Strategie für den Tag danach fehlt. Wie | |
kann ein weiterer 7. Oktober verhindert werden? | |
Mustafa Barghouti: Indem man vermeidet, nur über den 7. Oktober zu | |
sprechen. | |
Das war nicht nur irgendein Tag. | |
Was ist das Problem? Dass der Stacheldraht durchbrochen wurde oder dass | |
dieser Stacheldraht existiert? Ich bin Arzt und ich konzentriere mich nicht | |
auf die Symptome, sondern auf die Ursachen. Der 7. Oktober ist ein Symptom. | |
Die Hamas selbst ist ein Symptom. Im Jahr 1948 … | |
… nein, bitte fangen Sie nicht mit 1948 an. Wir kennen die Geschichte. | |
Bleiben wir bei den aktuellen Entwicklungen. | |
Wenn Sie die falsche Frage stellen, bekommen Sie die falsche Antwort. Es | |
sieht aus, als wollte ich Fragen ausweichen, aber Sie sind es, die den | |
Antworten ausweicht. Der Rückzug [1][aus dem Gazastreifen], den [2][Ariel | |
Scharon (ehem. Regierungschef Israels, Anm. d. Red.)]2005 anordnete, war | |
nie als echter Rückzug gedacht. Israel kontrolliert weiterhin die Grenzen, | |
den Zoll, den Handel, die Steuern, die Telekommunikation, den größten Teil | |
der Stromversorgung, den Luftraum, das Standesamt: alles. Anfangs zählte es | |
die Mindestmenge an Kalorien, die zum Überleben notwendig ist, und ließ | |
keinen zusätzlichen Krümel in den Gazastreifen. Nach UN-Angaben sollte der | |
Gazastreifen schon 2020 nicht mehr lebensfähig sein. Und nun schreiben | |
wir das Jahr 2024. Es gab nicht einmal mehr Trinkwasser, nur noch | |
Meerwasser, Salzwasser. Es war klar, dass diese Barriere früher oder später | |
niedergerissen werden würde. | |
Sie vergessen die über 1.000 Israelis, die in Stücke gerissen wurden. | |
Das tue ich nicht. Und deshalb muss die Belagerung beendet werden. Niemand | |
hier will, dass sich der 7. Oktober wiederholt. | |
Sie sprachen von Ursachen und Symptomen. Was ist die Therapie? | |
Der 7. Oktober beweist nicht, dass nur Macht funktioniert, sondern das | |
Gegenteil: dass Macht nicht ausreicht. Selbst wenn man die | |
fortschrittlichste Technologie hat, wird es immer einen Gleitschirm geben, | |
den man nicht vorhergesehen hat. Der 7. Oktober zeigt, dass es Zeit ist, | |
zur Politik zurückzukehren. Der letzte Gipfel zwischen Netanjahu und Abbas | |
fand 2014 statt. | |
An Politik mangelt es in erster Linie in Ramallah. Abbas’ Amtszeit ist 2009 | |
ausgelaufen. Die Palästinenser haben zuletzt 2006 gewählt. | |
Absolut. Wir sind da, wo wir sind, auch weil die Palästinensische | |
Autonomiebehörde so ist, wie sie ist. In Oslo (steht für einen [3][1993 | |
begonnene Reihe von Friedensabkommen], Anm. d. Red.) wurde sie schlecht | |
konzipiert, und seit Oslo wurde sie noch schlechter verwaltet. Deshalb | |
fordern wir als Palästinensische Nationale Initiative Neuwahlen. Wir wollen | |
eine Übergangsregierung für den Gazastreifen und das Westjordanland | |
zusammen: eine Regierung der Nationalen Einheit, die von uns allen | |
gebilligt ist. Und so schnell wie möglich Wahlen. | |
Bedeutet nationale Einheit die Einbeziehung der Hamas? | |
Ja, natürlich. | |
Israel wird das nicht zulassen. | |
Wir sprechen von der palästinensischen Regierung, nicht von der | |
israelischen. | |
Aber glauben Sie, Israel würde die Hamas akzeptieren? | |
Darum geht es nicht. Die Hamas existiert. Sie kann nicht einfach | |
ausgelöscht werden. Denn es geht nicht nur um Jahja Sinwar (Hamas-Führer im | |
Gazastreifen, Anm. d. Red.), die Kämpfer oder Gaza. Die Hamas ist eine | |
komplexe Bewegung. Sie ist Teil unserer Gesellschaft. Sollte sie auch nur 5 | |
Prozent der Stimmen haben, hätte sie das Recht, eine Stimme zu haben. Wie | |
alle. Es geht nicht um Zahlen: Es geht um Demokratie. | |
Was ist die Hamas aus Ihrer Sicht? | |
Nehmen Sie eine beliebige Zeitung aus den 70er Jahren. Lesen Sie über die | |
Palästinensische Befreiungsorganisation und [4][Arafat]. Auch er wurde als | |
Terrorist betrachtet, genauso wird die Hamas heute gesehen. | |
Können Sie sich wirklich Hamas-Chef Ismail Hanijeh etwa als Regierungschef | |
vorstellen? | |
An der Führung beteiligt zu sein, bedeutet nicht, in der Regierung zu | |
sitzen. Die Hamas ist immer sehr pragmatisch gewesen. Sie ist bereit, einen | |
Schritt zurück zu machen, wenn es zu einem Schritt nach vorne führt. | |
Sie wissen aber auch, dass die Hamas die Wahlen vermutlich gewinnen würde. | |
Aber sie wird keine Mehrheit haben. Stimmen sind ja keine Sitze: Sie werden | |
durch das Wahlgesetz in Sitze umgewandelt. 2021 haben wir ein | |
Verhältniswahlsystem eingeführt, um zu Koalitionsregierungen zu kommen und | |
Fehden zu vermeiden. Die Auseinandersetzung mit der Besatzung ist | |
kompliziert genug. Wer auch immer gewinnt, wir werden zusammen regieren. | |
Und wie wollen Sie mit Ihrem Ansatz die Sicherheit Israels gewährleisten? | |
Wie wird Israel unsere Sicherheit gewährleisten? | |
Die Hamas erkennt die Grenzen von 1967 nicht an. Ihr Palästina reicht vom | |
Jordan bis zum Mittelmeer. Da ist kein Platz für Israel. | |
Wer sagt das? Die Grenzen von 1967 werden im [5][Abkommen von 2006] | |
erwähnt, das zu unserer ersten Regierung der Nationalen Einheit führte. | |
Seither werden sie in allen unseren Abkommen erwähnt, bis hin zum Abkommen | |
über das neue Wahlgesetz und die Neuwahlen. Und Hanijeh hat bestätigt, dass | |
die Hamas ihre Haltung nicht geändert hat. Es ist vielmehr Netanjahu, der | |
die Grenzen nicht anerkennt, der Israel vom Fluss bis zum Meer sieht. | |
[6][Im September zeigte er bei der UNO eine Karte, auf der alles Israel | |
war, sogar das Westjordanland und der Gazastreifen.] Niemand erhob | |
Einwände. | |
Ich hatte nach der Sicherheit gefragt. | |
Sicherheit wird durch das Ende der Besatzung entstehen. Punkt. Nach 1948 | |
blieben uns nur noch 22 Prozent unseres Landes, und schließlich, nach | |
1967, einigten wir uns darauf, nicht mehr zu beanspruchen. Wir haben | |
unseren Anteil bereits geleistet. Aber jetzt sind die israelischen Siedler | |
überall und wir haben nur noch 18 Prozent dieser 22 Prozent. Die letzte | |
Siedlung wurde am 5. Dezember genehmigt. In der Hitze des Krieges. Lasst | |
uns in Frieden und ihr werdet in Frieden leben. | |
Netanjahu sagt, er werde den Gazastreifen nicht verlassen, bevor die Hamas | |
ausgelöscht ist. | |
Über 70 Prozent der Häuser liegen in Trümmern. Sein Ziel ist ein anderes: | |
Er will die Palästinenser zwingen, wegzuziehen. | |
[7][Israel wird vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) des Völkermords | |
beschuldigt]. Glauben Sie, dass dies das richtige Wort ist, um diesen Krieg | |
zu beschreiben? | |
Das ist eine Frage an Sie. | |
Wie meinen Sie das? | |
Darf ich [8][Elie Wiesel] zitieren? In jedem Krieg gibt es drei Kategorien. | |
Die Mörder, die Opfer und diejenigen, die daneben stehen und zusehen. Eines | |
Tages wird man Sie fragen: Wo waren Sie? | |
Allerdings hat der IGH keine Macht – [9][selbst wenn er Israel verurteilen | |
sollte]. | |
Macht hat viele Formen. Die meisten Regierungen sind auf der Seite Israels, | |
aber die öffentliche Meinung ist mehrheitlich auf der Seite des | |
Gazastreifens. Vor zehn Jahren mussten Journalisten von der „sogenannten | |
Besatzung“ schreiben. [10][Heute schreiben sie über Apartheid.] Es gibt die | |
Macht der Waffen und die der Ideen. Die Macht der Vernunft. Ich bin | |
geboren, als Schwarze in den USA in die hinteren Reihen der Busse verbannt | |
wurden, und ich habe erlebt, wie ein Schwarzer Präsident wurde. | |
Was erwarten Sie von Europa? | |
Nichts. | |
Nicht einmal Sanktionen? | |
Sie haben tausende Sanktionen gegen Putin verhängt, aber gleichzeitig | |
machen Sie hier Urlaub in den Airbnbs in den Siedlungen (im Westjordanland, | |
Anm. d. Red.). Sie haben keine Glaubwürdigkeit mehr. | |
27 Jan 2024 | |
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[1] /Vorgeschichte-des-Angriffs-auf-Israel/!5966215 | |
[2] /Ariel-Scharon/!t5050917 | |
[3] /30-Jahre-Osloer-Abkommen/!5954918 | |
[4] /Jassir-Arafat/!t5016346 | |
[5] https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/future-palestinian-unit… | |
[6] /Gruende-fuer-Angriff-auf-Israel/!5962210 | |
[7] /Anklage-wegen-Voelkermord/!5981347 | |
[8] https://www.americanrhetoric.com/speeches/ewieselperilsofindifference.html | |
[9] /Internationaler-Gerichtshof-zu-Gaza/!5988200 | |
[10] /Vorwurf-der-Apartheid-an-Israel/!5832739 | |
## AUTOREN | |
Francesca Borri | |
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