# taz.de -- Im Westjordanland gestrandet: Unsichere Zukunft | |
> Vor dem Hamas-Angriff arbeiteten 18.000 Menschen aus Gaza in Israel. | |
> Viele sind nun im Westjordanlan. Sie haben wenig – aber viel zu erzählen. | |
Bild: Hunderte Palästinenser mit Arbeitserlaubnis für Israel sind notdürftig… | |
RAMALLAH taz | Auf dem Hof vor dem Freizeitzentrum im Norden von Ramallah, | |
Westjordanland, spielen gerade keine Kinder, sondern liegen und sitzen | |
Erwachsene. Männer, ein paar Dutzende. Auf dünnen Matratzen auf dem | |
Asphalt, auf der Erde zwischen den Beeten. Auf Plastikstühlen, auf | |
Sitzbänken. Auf den Außenfluren, die mehr Privatsphäre bieten, die besser | |
abgeschirmt sind vor neugierigen Augen. | |
Wenn Mahmud* über sein Leben in den vergangenen drei Wochen erzählt, redet | |
er sich manchmal in Rage. Vor 24 Tagen hatte er noch einen angesehenen Job, | |
er hat sich um den schönsten Tag des Lebens israelischer Paare gekümmert. | |
Darauf geachtet, dass alles glatt läuft, zwischen Blumen, Dekorationen, | |
Düften und Glanz. Jetzt sitzt er in Sweater und Jeans auf einem alten | |
Plastikstuhl in der Ecke eines Hofs, an dessen Zäunen Hosen und T-Shirts | |
trocknen. Oben, in einem Außenflur, befindet sich sein Schlafplatz. | |
Eine Matratze, ein Kissen, Bettwäsche. Das ist alles, was Mahmud jetzt | |
besitzt. Sie liegen ordentlich arrangiert auf dem Boden. Daneben weitere | |
Matratzen, weitere Kissen und Decken, in einer Reihe, wenige Zentimeter | |
Platz zwischen der einen und der anderen Reihe und Abstand zu den Wänden, | |
von denen der Putz abgeplatzt ist. Einige Toiletten teilt sich Mahmud mit | |
Dutzenden anderen Menschen. Menschen wie er, die im Westjordanland | |
gestrandet sind und jetzt hier, in einer umfunktionierten Sporthalle, dicht | |
an dicht schlafen. | |
## Sie hausen in Hallen und provisorischen Unterkünften | |
Mahmuds Augen sind rot und müde. Seit etwa zehn Tagen haust er in dem | |
Freizeitzentrum in der De-facto-Hauptstadt des Westjordanlands. Mahmud, der | |
in Wahrheit anders heißt, kommt aus Gaza-Stadt. [1][Bis zum 7. Oktober], | |
dem Tag des Terrorangriffs der Hamas auf israelische Kibbuzim und das | |
Supernova-Musikfestival, war er einer der über 18.000 Gazaner*innen, die | |
auf israelischem Boden legal gearbeitet haben. Manager einer Hochzeitshalle | |
in einem Hotel, in einer israelischen Stadt. Welche, will er nicht | |
verraten. Auch seinen echten Namen will er nicht preisgeben. Zu groß ist | |
die Angst, dass er erneut festgenommen wird. | |
Vor dem Konflikt erlaubte Israel einer begrenzten Anzahl von | |
Arbeiter*innen aus Gaza, legale Jobs etwa im Bauwesen, der | |
Landwirtschaft oder Hotellerie zu übernehmen. Tausende nutzten die Chance. | |
Die Arbeitslosigkeit im Gazastreifen lag schon damals bei 46 Prozent, und | |
die Gehälter können in Israel bis zu zehnmal höher sein. Doch nach dem | |
Angriff der Hamas gab es in Israel für sie keinen Platz mehr. | |
## Nach Gaza können sie im Augenblick nicht | |
Am Samstagvormittag, [2][als er über die Nachrichten vom Angriff erfährt], | |
bekommt Mahmud Angst. Angst, dass jemand kommt und sich für das Massaker | |
der Hamas an ihm rächt. „Ich bin für ein paar Tage in meinem Büro | |
geblieben, um zu sehen, was passiert.“ Mahmud will weg, weiß aber nicht, | |
wohin. Die Grenze nach Gaza ist geschlossen, eine Bleibe in Israel hat er | |
nicht. Er sucht einen sicheren Unterschlupf, den er nicht findet. Dann | |
kommt er zu einem Checkpoint, 26 Kilometer südlich von Hebron. Hier ist | |
seine Flucht zu Ende. Das israelische Militär verhaftet ihn, zusammen mit | |
anderen Gazaner*innen. | |
Mahmud erzählt, man habe ihm Handschellen und eine Augenbinde angelegt. Er | |
sagt, dass er stundenlang warten musste, ohne zu essen und trinken, und | |
erst abends in einen Bus hineingeschoben wurde. Wohin er fährt, weiß Mahmud | |
nicht. „Sie haben auf uns geschimpft, unsere Smartphones, Dokumente und | |
das, was wir dabeihatten, konfisziert. Ich wusste nicht, wieso sie mich so | |
behandeln. Ich hatte doch eine Erlaubnis, in Israel zu sein. Dann mussten | |
wir warten. Ich wusste nicht, wo ich war, was ich dort tun sollte“, erzählt | |
er noch immer aufgebracht. Neun Tage sei er in Gewahrsam geblieben. | |
Was Mahmud besonders entrüstet, sei die Behandlung, die Demütigung. „Es gab | |
keinen Respekt seitens der Soldaten, nicht mal für Menschen, die älter | |
waren. Keinen Respekt.“ Er berichtet von Beleidigungen und Tritten. Sein | |
gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich, am neunten Tag setzen ihn die | |
Soldaten wieder in einen Bus. Man fährt ihn nach Qalandia, einem Checkpoint | |
zwischen Jerusalem und Ramallah. Ein Taxi bringt ihn ins Krankenhaus, von | |
dort aus geht es weiter in die provisorische Aufnahmeeinrichtung in | |
Ramallah. Seitdem wartet er hier. Worauf, weiß er selbst nicht so genau. | |
So erzählt es Mahmud heute. Überprüfen lassen sich die einzelnen Angaben | |
nicht. Seine Geschichte deckt sich aber mit Medienberichten und | |
Stellungnahmen von Menschenrechtsorganisationen. So schreibt die | |
israelische NGO Gisha, die israelischen Behörden hätten am 10. Oktober die | |
Arbeitserlaubnisse aller Arbeiter*innen aus Gaza annulliert, was sie | |
auf einen Schlag in irreguläre Migrant*innen verwandelt hat. Israelische | |
Streitkräfte hätten viele von ihnen dann in Gewahrsam genommen. | |
## 5.000 weitere Menschen seien ins Westjordanland geflohen | |
Wie viele genau, ist unklar. Die Nachrichtenagentur Reuters beruft sich auf | |
Quellen der Palästinensischen Autonomiebehörde und schätzt die Zahl der | |
Inhaftierten auf 5.000. Knapp 5.000 weitere Menschen seien ins | |
Westjordanland geflohen. „Einige wurden in Israel gewaltsam festgenommen, | |
andere bei Checkpoints auf dem Weg ins Westjordanland“, schreibt Gisha. | |
Augenzeug*innen beschrieben schlimme Zustände. Ähnliches berichtete | |
vor wenigen Tagen die NGO Euromed Human Rights Monitor. Demnach seien | |
Tausende festgenommene Gazaner in Israel gefoltert worden. Verhört, | |
geschlagen, Elektroschocks unterzogen, teilweise für lange Zeit ohne Essen | |
oder Medikamente festgehalten. | |
Als Mahmud spricht, sitzt ein Mann mit grauen Haaren auf einer Matratze | |
zwischen zwei Büschen, halb liegend und mit leerem Blick. Er steht mühsam | |
auf, geht auf uns zu und zeigt seine Handgelenke. Sie sind von teils | |
tiefen, noch nicht verheilten Wunden durchzogen. Das sei passiert, weil man | |
ihm lange Zeit die Hände zusammengebunden habe. Der Mann setzt sich dann | |
schweigend zurück an seinen Platz. | |
Auf Nachfrage schrieb das israelische Militär, Gazaner*innen, die sich ohne | |
Aufenthaltserlaubnis in Israel und im Westjordanland befanden und wegen des | |
Kriegs nicht nach Gaza zurückgeführt werden konnten, seien in Haftanstalten | |
gebracht worden. Die Festgenommenen seien mit Essen und Wasser versorgt | |
worden, ein medizinisches Team sei in jeder Haftanstalt anwesend gewesen. | |
Es gebe bislang keine Beschwerden wegen Misshandlungen. | |
## 4.000 Arbeiter aus Gaza sind in Ramallah angekommen | |
Auf dem Hof vor dem Freizeitzentrum surren Fliegen in der Hitze. Einige | |
Männer teilen sich Hummus, Falafel und Brot. Sie sind dankbar, dass sie | |
hier dreimal am Tag Essen bekommen, einen Platz zum Schlafen haben. 4.000 | |
Arbeiter*innen aus Gaza sind seit Beginn des Konflikts [3][in Ramallah] | |
angekommen, schreibt eine Sprecherin der Gouvernements von Ramallah und | |
al-Bireh. Zunächst habe man sie in Hotels und Notunterkünften | |
untergebracht, dann, als ihre Zahl stieg, sie teilweise außerhalb Ramallahs | |
verteilt. Im Freizeitzentrum leben derzeit 400 Menschen. „Wir werden | |
weiterhin für ihre Bedürfnisse sorgen, in Kooperation mit unseren Partnern, | |
bis die Krise vorbei ist“, sagt die Sprecherin. | |
In die Halle, wo noch weitere Menschen sitzen, werden Journalist*innen | |
nicht reingelassen. Ein Polizist verbietet dort Fotos. Man will offenbar | |
die Privatsphäre der Menschen schützen. Mehrere Journalist*innen sind | |
in den letzten Tagen gekommen. Einige Betroffene klingen müde. „Seine | |
Geschichte repräsentiert die Geschichte aller hier drinnen“, sagt ein | |
junger Mann, der ein Interview ablehnt, und blickt auf Mahmud. Die meisten | |
weigern sich inzwischen sowieso, sich fotografieren zu lassen. Viele haben | |
Angst vor Repressalien. Vor einer Zukunft, die plötzlich unsicher und | |
bedrohlich scheint. | |
## Ihre Zukunft bleibt ungewiss | |
Was mit ihnen passieren wird, ist noch unklar. Alles hängt in der Schwebe. | |
Das Büro des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu schrieb | |
kürzlich auf X (ehemals Twitter), es werde in Israel keine | |
palästinensischen Arbeiter*innen aus Gaza mehr geben. Eine | |
entsprechende Anfrage an die israelische Regierung blieb unbeantwortet. Im | |
Augenblick können diejenigen, die im Westjordanland sind, nur aus der Ferne | |
beobachten, wie ihre Familien in Gaza zu überleben versuchen. | |
Mahmud erzählt, es zuletzt sehr schwierig gewesen, seine Angehörigen zu | |
erreichen. Davor hatte er noch erfahren, dass sein Haus bei einem | |
Luftangriff getroffen worden sei; die Familie wisse nicht, wohin. „Ich | |
mache mir Sorgen um sie, sie machen sich Sorgen um mich.“ Und fügt hinzu: | |
„In meinem Leben habe ich hart gearbeitet, 30 Jahre lang, um ein Haus für | |
mich und meine Söhne zu bauen. Jetzt wurde das ganze Gebäude, fünf Etagen, | |
zerbombt. Wieso haben sie mein Haus zerstört?“ | |
Vier Söhne und eine Tochter habe er, alle bereits verheiratet, 23 Menschen | |
insgesamt. Sie sind jetzt alles, was ihm noch bleibt. Jedes Mal, wenn er | |
Nachrichten aus Gaza hört, macht sich Mahmud Sorgen, dass es sie trifft. | |
Wenn er etwas isst, fragt er sich, ob sie in Gaza genug Essen finden. Auch | |
mit seinem Bruder dort habe er mal telefoniert. Der habe ihm gesagt, es sei | |
besser, dass er im Augenblick nicht in Gaza sei. „Er sagte: Wenn wir | |
sterben und die Kinder alleine bleiben, nimm sie mit dir.“ | |
Einige Tage nach dem Interview hat die israelische Regierung einige Tausend | |
Arbeiter*innen aus Gaza in den Küstenstreifen zurückgeschickt. Wie | |
viele noch im Westjordanland sind, ist unklar. Mahmud ist immer noch hier. | |
*Name von der Red. geändert. | |
9 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Essay-zum-Angriff-der-Hamas/!5967960 | |
[2] /Angriff-auf-Israel/!5965719 | |
[3] /Jugend-im-Westjordanland/!5968371 | |
## AUTOREN | |
Serena Bilanceri | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Ramallah | |
Westjordanland | |
Palästina | |
Benjamin Netanjahu | |
Gaza-Krieg | |
Gaza | |
Recherchefonds Ausland | |
Westjordanland | |
Westjordanland | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Braindrain im Westjordanland: Jung, gebildet – und weg! | |
Gut ausgebildete Palästinenser*innen aus dem Westjordanland zieht es | |
häufig ins Ausland. Doch es gibt auch jene, die explizit bleiben wollen. | |
Gewalt im Westjordanland: Angst in den Olivenhainen | |
Seit dem 7. Oktober werden immer wieder Palästinenser von israelischen | |
Siedlern angegriffen. Die Bewohner sehen darin eine Strategie der | |
Vertreibung. | |
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++: Abbas stellt Bedingungen | |
Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas zeigt sich bereit, im Rahmen einer | |
Zwei-Staaten-Lösung die Regierungsverantwortung in Gaza zu übernehmen. | |
Gaza-Konferenz in Frankreich: Macron als Friedensbote | |
Die Pariser Gaza-Konferenz verspricht keine festen Ergebnisse. Aber sie | |
bietet Frankreichs Präsident Macron eine Bühne als Vermittler. | |
Jugend im Westjordanland: Träumen, trotz Krieg | |
Der Krieg in Gaza lässt auch die Konflikte im Westjordanland mit neuer | |
Heftigkeit aufbrechen. Wie blickt die junge Generation dort in die Zukunft? | |
Evakuierung aus dem Gazastreifen: „Natürlich möchte ich ausreisen“ | |
Über Rafah konnten weitere Menschen mit ausländischem Pass aus dem | |
Gazastreifen evakuiert werden. Doch die meisten Deutschen sitzen noch fest. | |
Generalstreik im Westjordanland: „Die Menschen in Gaza haben Rechte“ | |
Über 50 Menschen sterben bei Angriffen auf ein Flüchtlingslager in Gaza. | |
Aus Protest treten Palästinenser im Westjordanland in den Generalstreik. |