# taz.de -- Filmfestival San Sebastián: Eine Hebamme auf der Flucht | |
> Die 71. Ausgabe des Filmfestivals San Sebastián war das Jahr der Frauen. | |
> Der Hauptpreis ging an „O Corno“ von Regisseurin Jaione Camborda. | |
Bild: „O Corno“: Maria (Janet Novás) hilft Frauen bei Schwangerschaftsabbr… | |
A Illa de Arousa ist eine Insel in einer tief ins Landesinnere | |
vordringenden Meeresbucht Galiziens im Nordwesten Spaniens. Anfang der | |
1970er Jahre ist das Leben geprägt von Fischerei und Landwirtschaft, weit | |
abgelegen vom Festland, das noch nicht wie heute durch eine Brücke | |
verbunden ist. | |
Um wegzukommen, braucht Maria ein Boot. Sie ist die Hebamme des Dorfes, | |
unterstützt mit stoischer Geduld Frauen, ihre Babys zu Hause zur Welt zu | |
bringen, einen Arzt gibt es nicht. Zugleich hilft sie diskret bei | |
ungewollten Schwangerschaften, ist die letzte Rettung in einer Zeit, in der | |
Abtreibungen im vom Franco-Regime und der katholischen Kirche dominierten | |
Spanien verboten und gesellschaftliches Tabu sind. | |
Als sich eine verzweifelte Schülerin an sie wendet, zögert sie zunächst, | |
ihr den Trunk zu brauen, mit dem der riskante Abbruch eingeleitet wird. | |
Wenig später stirbt das Mädchen an den Komplikationen des Eingriffs und | |
Maria gerät unter Verdacht. Sie muss sich ins benachbarte Portugal absetzen | |
und findet auf ihrem Weg immer wieder Hilfe anderer Frauen am Rande der | |
Gesellschaft, einer Tavernenbesitzerin etwa oder einer afrikanischen | |
Prostituierten. | |
In eindringlichen, ruhigen Bildern erzählt die Regisseurin Jaione Camborda | |
in ihrem zweiten Spielfilm „O Corno“ von dieser Frau, die zur Flucht | |
gezwungen ist, um ihr Leben und ihre Freiheit zu retten. Damit wurde die | |
40-jährige Baskin am Samstagabend auf dem Filmfest in San Sebastián bei der | |
Preisgala mit der Goldenen Muschel ausgezeichnet. | |
## Vitalität des Gegenwartskinos | |
Camborda, die in Prag und München Film studiert hat, ist die erste | |
spanische Regisseurin in der Festivalgeschichte, die den Hauptpreis des | |
internationalen Wettbewerbs erhält. Ihr tief in der galizischen Landschaft | |
und Kultur verwurzeltes Drama ist ein erneuter Beweis für die Vitalität des | |
spanischen Gegenwartskinos. | |
Und das sorgt vor allem durch junge Regisseurinnen und ihren sehr | |
persönlichen, regional verorteten Filmen international für Aufsehen. Wie | |
[1][Carla Simóns „Alcarràs“] über eine Familie von Obstplantagenbauern in | |
Katalonien, der 2022 auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet | |
wurde. | |
Die 71. Ausgabe von San Sebastián war das Jahr der Frauen. Der Preis der | |
Jury unter Vorsitz der [2][französischen Filmemacherin Claire Denis] ging | |
an das intensive Drama „Kalak“ der schwedischen Regisseurin Isabella Eklöf, | |
das um einen Mann kreist, der in seiner Jugend vom Vater missbraucht wurde. | |
Mit seiner Frau und dem kleinen Sohn ist er in ein abgelegenes Dorf in | |
Grönland gezogen, wo er sich in Affären mit anderen Frauen flüchtet, um | |
sich dem eigenen Trauma nicht zu stellen. | |
Für die beste Regie wurden die beiden Taiwanesinnen Tzu-Hui Peng und | |
Ping-Wen Wang ausgezeichnet, die in ihrem auf 16 mm gedrehten Spielfilm | |
„Journey in Spring“ von einem alten Mann erzählen, der sich jahrelang auf | |
seine Ehefrau verlassen hat und deren plötzlichen Tod zu verdrängen | |
versucht. Ihr Langfilmdebüt ist ein intimes Familiendrama, das subtil | |
Geschlechterrollen in Taiwans Gesellschaft verhandelt. | |
## Ein Forum für den Täter | |
[3][Und Isabel Coixet verfilmt] mit „Un amor“ den Bestsellerroman „Eine | |
Liebe“ der spanischen Schriftstellerin Sara Mesa als Porträt einer jungen | |
Übersetzerin, die in einem Dorf im Nirgendwo einen Neuanfang versucht und | |
sich in eine obsessive Affäre mit einem Handwerker stürzt. Hovik | |
Keuchkerian verkörpert diesen Einsiedler als brütenden Koloss, der | |
jederzeit auszubrechen droht, und wurde dafür zu Recht als bester | |
Nebendarsteller geehrt. | |
Wie bei der Berlinale werden die Schauspielpreise inzwischen genderneutral | |
vergeben. In diesem Jahr gingen sie allesamt an Männer. Für die beste | |
Leistung in einer Hauptrolle wurden ex aequo Tatsuya Fuji als dementer | |
Vater in dem fragmentarisch inszenierten Wettbewerbsbeitrag „Great Absence“ | |
des Japaners Kei Chikaura, sowie an Marcelo Subiotto als neurotischer | |
Professor in der argentinischen Universitätskomödie „Puan“ ausgezeichnet. | |
Das Regiepaar María Alché und Benjamín Nayshat erhielten für die | |
vielschichtig-humorvolle Auseinandersetzung um akademische Strukturen, | |
männliche Eitelkeit und die gesellschaftspolitischen Probleme des Landes | |
außerdem den Drehbuchpreis. | |
Für eine Kontroverse sorgte der Dokumentarfilm „No me llame Ternera“ von | |
Jordi Évole und Màrius Sánchez. Darin wird Josu Urrutikoetxea, besser | |
bekannt unter seinem Aliasnamen Josu Ternera, einer der führenden Köpfe der | |
inzwischen aufgelösten baskischen Terrororganisation ETA, deren Attentaten | |
im Laufe eines halben Jahrhunderts etwa 830 Menschen zum Opfer fielen, über | |
seine Verantwortung befragt. | |
Dass einem Täter ein solches Forum geboten wird, kritisierten im Vorfeld | |
Überlebende und Angehörige zu Recht, doch das Interview erweist sich bei | |
aller Medienversiertheit Terneras als Selbstdemontage, bei der er sich als | |
politischer Hardliner mit wenig Reue inszeniert und immer wieder in | |
Widersprüchen verheddert. Dabei gesteht er, am tödlichen Attentat 1972 auf | |
einen Bürgermeister beteiligt gewesen zu sein, bei dem der Polizist und | |
Leibwächter Francisco Ruiz Sánchez schwer verletzt wurde und danach von der | |
Bevölkerung so angefeindet wurde, dass er das Baskenland verlassen musste. | |
Mit ihm beginnt und endet der Film, ihm gilt das letzte Wort. | |
Bei der Premiere des Films im Kursaal herrschte nach dem Abspann zunächst | |
bedrücktes Schweigen, bevor die Filmemacher unangekündigt den Überlebenden | |
begrüßten und die Menschen im Saal aufstanden und ihm in einer ergreifenden | |
Geste stehend applaudierten. Eine späte Genugtuung, die Ruiz Sánchez | |
nutzte, um mit gebrochener Stimme an Hunderte ETA-Morde zu erinnern, die | |
nach wie vor unaufgeklärt sind. | |
1 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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