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# taz.de -- Bericht vom Filmfestival San Sebastián: Pure Fiktion hält nicht m…
> Die Stierkampf-Doku „Tardes de solidad“ gewann in San Sebastián die
> Goldene Muschel. Ansonsten erscheint die Zukunft des Kinos weiblich und
> jung.
Bild: Eine blutige Kunst: Szene aus „Tardes de soledad“
Wie zur Fratze verzerrt ist Andrés Roca Reys Gesicht, so angestrengt ist er
auf sein Gegenüber fokussiert und den Moment, in dem jede falsche Bewegung,
jede kleinste Unachtsamkeit zwischen Leben und Tod entscheiden könnte. Der
27-jährige Peruaner ist einer der erfolgreichsten Toreros in Spanien, wo
der Stierkampf nach wie vor Nationalsport ist, wenn auch hochumstritten.
[1][Regisseur Albert Serra] begleitet den Starmatador im Porträtfilm
„Tardes de soledad“ (zu Deutsch etwa: Nachmittage der Einsamkeit), zeigt
ihn bei der Arbeit im Ring, beim Anlegen des reichverzierten Anzugs in der
Umkleide und mit seiner männlichen Entourage im Wagen auf dem Weg zur
nächsten Arena.
Eine zweistündige immersive Dokumentation, die den Heroismus des
Stierkämpfers und seine präzise Choreografie aus nächster Nähe ebenso
einfängt wie die Brutalität des tödlichen Duells und das tragische Leid des
Tieres.
Scheinbar neutral und kommentarlos observierend, lässt Serra dem Publikum
viel Freiraum, sich selbst ein Bild zu machen. Gerade deswegen wurde sein
Film sehr kontrovers aufgenommen auf dem Festival in San Sebastián, das am
Samstag mit der Preisverleihung zu Ende ging. Und die Jury zeichnete just
„Tardes de soledad“ mit der Goldenen Muschel für den besten Beitrag aus.
Es ist nach der Berlinale im Februar, wo Serra selbst in der Jury saß und
[2][Mati Diops „Dahomey“] gewann, bereits das zweite A-Festival in diesem
Jahr, in dem als bester Film eine dokumentarische Arbeit ausgezeichnet
wird, wenn auch eine mit den Mitteln des Autorenkinos und durchaus mit
Haltung. Doch in Zeiten wie diesen scheint die pure Fiktion oft nicht
mithalten zu können.
## Verdrängte Gefühle
Dabei las sich das Programm dieser 72. Ausgabe im Vorfeld durchaus
vielversprechend. Außergewöhnlich viele namhafte Altmeister des
europäischen Autorenkinos liefen im Wettbewerb. Wirklich überzeugend waren
dann aber nur wenige.
Die Zukunft des Kinos in San Sebastián ist weiblich und jung. Die
herausragenden Filme dieses Jahrgangs stammen von Regisseurinnen, allen
voran die [3][Spanierin Pilar Palomero] mit ihrem dritten Spielfilm „Los
Destellos“ (Die Funken) über eine Frau, die nach der Trennung vom Vater
ihrer Tochter vor 15 Jahren in einer neuen Beziehung lebt.
Als ihr Ex schwer erkrankt, bittet die inzwischen erwachsene Tochter sie,
ihn regelmäßig zu besuchen. Zögerlich beginnt sie, ihn auf seinem letzten
Weg zu begleiten. Ein leiser, zärtlicher Film über verdrängte Gefühle und
das Abschiednehmen, ehrlich und unprätentiös.
Wie ihre Kolleginnen Carla Simón („Alcarrás – Die letzte Ernte“) und
Estibaliz Urresola Solaguren („20.000 Arten von Bienen“) verortet die 1980
geborene Palomero ihre Filme in ganz spezifischen Landstrichen, legt großen
Wert auf Geräusche, Texturen und kleine Gesten, die Szenen so organisch und
lebensnah wirken lassen.
Mit ihrem Debüt „Las niñas“ wurde sie 2020 in der Berlinale-Sektion
Generation entdeckt, ihr zweiter Film „La Maternal“ lief vor zwei Jahren in
San Sebastián. Wie damals wurde nun die Hauptdarstellerin ausgezeichnet.
Patricia López Arnaiz, eine der interessantesten Schauspielerinnen ihrer
Generation, ist als Isabel eine stille Wucht, sie trägt nahezu jede Szene
des Films. Doch „Los Destellos“ hätte mehr verdient.
## Differenzierte Charakterstudie
Nicht minder beeindruckend war „On Falling“, das Regiedebüt der 30-jährig…
Portugiesin Laura Carreira über eine junge Migrantin, die in einem
Vertriebszentrum in Schottland arbeitet und zwischen prekärem Job und
Isolation nach zwischenmenschlicher Bindung sucht und daran zunehmend
verzweifelt. Produziert von Ken Loachs Sixteen Films gelingt Carreira ein
realistischer Blick auf den Alltag in der Gig Economy, der weit weniger
didaktisch und schwarzweiß als bei Loach ist, sondern vor allem als
differenzierte Charakterstudie funktioniert.
Dafür erhielt Carreira den Regiepreis, den sie sich ex aequo mit dem
Argentinier Pedro Martín Calero und dessen Horrorfilm „El llanto“ teilte.
Der nutzte die Gelegenheit, in seiner Dankesrede an die Situation in seiner
Heimat zu erinnern, wo der regierende Rechtspopulist Javier Milei gerade
auch im Kulturbereich marodiert.
Der Spezialpreis der Jury wiederum ging an das Schauspielensemble um
[4][Pamela Anderson] und Jamie Lee Curtis in Gia Coppolas „The Last
Showgirl“ über eine in die Jahre gekommene Tänzerin einer Las Vegas
Revueshow, die sich dagegen wehrt, dass ihre Karriere zu Ende sein soll.
Eine melancholische, nie voyeuristische Auseinandersetzung über das
Älterwerden in der Unterhaltungsbranche, mit der sich Pamela Anderson vom
Image des ewigen Ex-„Baywatch“-Sexsymbols freispielt.
Gleich zwei Preise erhielt François Ozons Tragikomödie „Quand vient
l’automne“ (Wenn der Herbst kommt), der von zwei Rentnerinnen im Burgund
erzählt, deren ruhiges Dorfleben unerwartet turbulent wird, als sie sich
mit ihren missratenen erwachsenen Kindern auseinandersetzen müssen. Hat
Michelle womöglich ihre alleinerziehende Tochter vorsätzlich mit einem
Pilzgericht vergiftet, um so mehr Zeit mit ihrem Enkel verbringen zu
können?
## Vom Sterben erzählen
Ozon wurde zusammen mit Philippe Piezz für das beste Drehbuch
ausgezeichnet, Pierre Lottin für die beste Nebenrolle als aus der Haft
entlassener Sohn, dessen Motive in dieser hakenschlagenden Geschichte so
wenig klar sind wie die der liebenswürdigen alten Damen.
Ganz explizit vom Sterben erzählt der 91-jährige [5][Costa-Gavras] in „Le
dernier souffle“ (Der letzte Atemzug) über einen populären Philosophen und
dessen Palliativarzt, die sich über Care-Arbeit am Ende des Lebens,
würdevolles Abschiednehmen und den Umgang mit dem Tod unterhalten. In
sokratischer Tradition lässt Costa-Gavras dabei unterschiedlichste Ideen
und Meinungen zu Wort kommen, von Spiritualität, Sterbehilfe und
Angehörigen, die nicht loslassen können.
Von bitteren Wahrheiten handelt auch „Hard Truths“ des britischen
Altmeisters Mike Leigh, 81, über den tristen Alltag einer Londoner
Arbeiterfamilie und der ungebändigten Wut einer Hausfrau und Mutter
(Marianne Jean-Baptiste).
Dagegen erscheint das Spielfilmdebüt des preisgekrönten Dokumentarfilmers
Joshua Oppenheimer („The Act of Killing“) fast wie eine Wohlfühlkomödie,
wenn im Dystopie-Musical „The End“ die wohlhabende Familie um Tilda Swinton
im unterirdischen Bunker in bester Broadwaytradition über die Apokalypse
zu singen beginnt.
Ein klaustrophobes Kammerspiel liefert auch der Berliner Edward Berger mit
seinem US-britischen Vatikanthriller „Conclave“ nach dem Bestseller von
Robert Harris. Gedreht in Rom noch vor den Oscars für „Im Westen Nichts
Neues“, inszeniert er darin die Wahl eines neuen Kirchenoberhaupts nach dem
Tod des Papstes, abgeschirmt von der Außenwelt, als Mikrokosmos, in dem
sich die gesellschaftliche Spaltung der Gegenwart widerspiegelt. Ralph
Fiennes dürfte als zweifelnder Kardinal eine Oscarnominierung sicher sein.
## Großes Staraufgebot
Wie hier glänzte das Festival in diesem Jahr mit einem Staraufgebot, das
nach der Pandemie und dem Schauspielestreik immer wieder für
Fanansammlungen am Roten Teppich sorgte, um ein Autogramm oder ein Selfie
zu ergattern. Alleine drei Ehrenpreise gingen an Cate Blanchett, Javier
Bardem und [6][Pedro Almodóvar.] Kein Tag ohne Hollywoodstars, von Johnny
Depp über Andrew Garfield bis Charlotte Rampling.
Zugleich wurden sie oft kategorisch abgeschirmt, Interviews und der
kritische Austausch mit den Medien scheinen zunehmend unerwünscht und
lästig. Die internationale Presse hat gegen diese Einschränkung ihrer
Arbeit, wie Anfang des Monats bereits in Venedig, zu Recht protestiert.
29 Sep 2024
## LINKS
[1] /Albert-Serra-ueber-seinen-Film-Liberte/!5622480
[2] /Goldener-Baer-fuer-Doku-ueber-Restitution/!5991919
[3] /Frauenbuendnisse-in-der-Filmgeschichte/!5927385
[4] /Ungeschminkt-auf-dem-roten-Teppich/!5976533
[5] /Symbol-fuer-Frieden-und-gegen-Diktatur/!5851615
[6] /Pedro-Almodovar-wird-75/!6035602
## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
## TAGS
Filmfestival
Kino
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Schwerpunkt LGBTQIA
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