# taz.de -- Umgang mit synthetischen Drogen: Jenseits von Fentanyl | |
> Neue Opioide erobern den Markt. Die Gefahren müssen analysiert und ernst | |
> genommen werden. Kriegsrhetorik allein reicht nicht. | |
Bild: Sie alle sind an einer Überdosis synthetischer Opioide gestorben sind, W… | |
Auf dem großen Marktplatz der Drogen bestimmt inzwischen die Chemie das | |
Geschehen. Die Gründe dafür sind vielfältig, die Auswirkungen lassen sich | |
an der Dynamik des Drogenkonsums ablesen. Die Reduzierung der | |
Opiumproduktion in Afghanistan durch die Taliban etwa wird sich sicherlich | |
[1][auf den Heroinkonsum in Europa auswirken], die Konsumenten auf neue | |
Märkte drängen. Welche neuen Auswirkungen werden die fentanylähnlichen | |
synthetischen Drogen haben? Müssen wir mit einer Kette von Todesfällen | |
durch Überdosierung rechnen, wie sie bereits in den USA aufgetreten ist? | |
Todesfälle durch Überdosierung sind nicht immer auf die Verwendung von | |
illegal hergestelltem Fentanyl zurückzuführen, sondern auch auf das | |
Vorhandensein anderer Substanzen: mit Fentanyl verwandte Wirkstoffe, die | |
nicht der internationalen Kontrolle unterliegen und die von Drogenhändlern | |
auf den Markt gebracht werden, um neue Formeln zu testen. | |
Im Jahr 2018 veröffentlichte das [2][UN-International Narcotic Control | |
Board (INCB)] – um Regierungen und Einzelpersonen über eine potenzielle | |
Bedrohung zu informieren – eine Liste von mit Fentanyl verwandten | |
Substanzen, von denen keine legale Verwendung bekannt ist. Im Jahr 2019 | |
begann das INCB im Rahmen des OPIOIDS-Projekts mit der Überwachung des | |
Internets, um das Auftauchen neuer Opioide auf verschiedenen | |
Online-Plattformen zu überprüfen. Bisher wurden dabei 55 Opioide | |
identifiziert, die nichts mit Fentanyl zu tun haben und deren Potenz und | |
Toxizität noch weitgehend unbekannt sind. | |
Die Wirkung von Fentanyl wird noch verheerender, wenn es mit Xylazin (oft | |
als Tranq bezeichnet) gemischt wird, einem nicht-opioiden Beruhigungs-, | |
Schmerz- und Muskelrelaxans, das erstmals 2001 in Puerto Rico als | |
Zusatzstoff entdeckt wurde. Die Mischungen mindert die Wirksamkeit von | |
Gegenmitteln wie Naloxon, die bei Überdosierungen eingesetzt werden. Nach | |
Angaben der US-Drug Enforcement Administration (DEA) ist der | |
Xylazin-Konsum in den Vereinigten Staaten zwischen 2020 und 2021 um 193 | |
Prozent gestiegen. Genau wie bei Fentanyl zunächst auf den Heroinmärkten an | |
der US-Ostküste, breitete sich dann im Süden aus und fand seinen Weg auf | |
die Drogenmärkte im Westen der USA. | |
## Gefahr durch synthetische Zusätze in herkömmlichen Drogen | |
Die Zahlen zum Konsum von Fentanyl und seinen Ablegern unter Jugendlichen | |
sind im Vergleich zu dem von Cannabis, Alkohol und Methamphetamin nicht | |
hoch. Ein großes globales Problem ist jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass | |
unbekannte Zusatzstoffe wie synthetische Opioide in herkömmlichen Drogen | |
enthalten sind. Dies führt zu einer Situation, in der die Institutionen | |
Präventions- und Sensibilisierungssysteme schaffen müssten, um die am | |
meisten gefährdeten Personen zu schützen. Es gilt, eine Art von Resilienz | |
auf der Grundlage von Wissen und Verantwortung gegenüber den oft suggestiv | |
angebotenen Substanzen zu festigen. | |
Neben der Prävention sind auch sozialpolitische Maßnahmen erforderlich, die | |
denjenigen zugute kommen, die bereits durch den Konsum neuer Drogen | |
gefährdet sind. Wir müssen verstehen, warum [3][immer mehr junge Menschen | |
das Bedürfnis haben, sich wegzuballern], neue kulturelle Angebote | |
entwickeln, eine alternative Lebensweise finden. Dem jüngsten | |
UN-Jugendbericht zufolge hat sich in den letzten Jahren ein zweigeteiltes | |
Muster des Drogenkonsums unter Jugendlichen herausgebildet: das derjenigen, | |
die in schwierigen Verhältnissen leben (auch in Entwicklungsländern), und | |
das der „normalen“ Jugendlichen, die im Allgemeinen mehr Möglichkeiten, | |
Optionen und Unterstützung haben und den Drogenkonsum als eine Auszeit vom | |
normalen Leben betrachten. | |
Die Grenzen sind mitunter fließend; gemeinsam ist ihnen offensichtlich der | |
mit dem Konsum verbundene Schaden. Das Spektrum der von den Jugendlichen | |
berichteten Probleme umfasst krisenhafte familiäre Beziehungen, schlechtere | |
schulische Leistungen, Unfälle, Gewalt und Krankheiten. | |
Heute scheint es eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass die | |
Drogenbekämpfung von der Prävention und der Behandlung von Menschen, die | |
diese Substanzen konsumieren, getrennt werden muss. Jedoch wird der Kampf | |
gegen den illegalen Drogenhandel nach wie vor für politische und mediale | |
Zwecke instrumentalisiert. Diese Instrumentalisierung hat die Verwendung | |
einer suggestiven Sprache gefestigt, von den Strafverfolgungsbehörden | |
häufig verwendet, um die auf das Gesamtgeschehen letztlich einflusslosen | |
Erfolge von Polizeieinsätzen zu verherrlichen, die auf einzelne Teile des | |
illegalen Drogenmarktes abzielen, ohne dessen Komplexität zu untergraben – | |
so beim Captagon. | |
## Größter Produzent: Syrien, größter Abnehmer: Saudi-Arabien | |
Captagon – der frühere Handelsname für Fenetyllin – wirkt als | |
Psychostimulans, fördert die Konzentration, unterdrückt den Appetit und | |
mildert Angstzustände. [4][Syrien gilt als das Land mit der größten | |
Produktion]. Heutiges Captagon enthält weniger Fenetyllin als ursprünglich, | |
dafür einen Cocktail aus gebräuchlicheren Substanzen; darunter Koffein, | |
Amphetamine und Theophyllin. Vorsynthetisierte Verbindungen werden auf dem | |
Landweg nach Syrien transportiert, dort eingekapselt und mit einem Halbmond | |
markiert. | |
Die Tabletten gibt es in zwei Farben: gelb für minderwertige Qualität, weiß | |
für die höherwertigere, normalerweise für den Export bestimmt. Größte | |
Exportmärkte sind insbesondere Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen | |
Emirate, wo es als Freizeitdroge gilt und für rund 20 US-Dollar pro | |
Tablette verkauft wird. Auf dem syrischen Inlandsmarkt liegt der Preis | |
zwischen 50 Cent und einem Dollar. | |
Im Juli 2020 gaben die italienischen Behörden bekannt, sie hätten 84 | |
Millionen Captagon-Tabletten in drei Containern an Bord eines Schiffes aus | |
Syrien beschlagnahmt. Obwohl es sich bei der Polizeiaktion um eine der | |
wichtigsten Beschlagnahmungen synthetischer Drogen handelte, zeigte die Art | |
und Weise, wie die Informationen verbreitet wurden einmal mehr: Bei der | |
Darstellung des Krieges gegen die Drogen gewinnt allzu oft die Legende die | |
Oberhand über die Realität. Denn die italienischen Behörden teilten mit, | |
das beschlagnahmte Captagon sei zur Finanzierung des „Islamischen Staats“ | |
(IS) bestimmt gewesen. | |
Es ist nicht verwunderlich, dass es zu einer solchen Verzerrung kommt. Die | |
Propaganda des viel gepriesenen „Kriegs gegen die Drogen“ hat dazu geführt, | |
dass die tatsächliche strukturelle Dynamik des Drogenhandels und seine | |
Auswirkungen auf die internationalen Wirtschafts- und Sozialsysteme | |
verschleiert werden. | |
## Captagon-Labor von Hisbollah-Mitgliedern | |
In jüngster Zeit ist der reiche Drogenmarkt beispielsweise zu einer | |
Finanzierungsquelle für das Assad-Regime geworden, für den angesichts der | |
heimischen Wirtschaftskrise die Drogeneinnahmen ein wichtiges Mittel | |
geworden sind, um sich an der Macht zu halten. Das syrische Marktnetz | |
stützt sich auf die operative Unterstützung internationaler Verbündeter wie | |
der iranischen Islamischen Revolutionsgarde, der Hisbollah und der | |
Wagner-Gruppe. Bereits 2012 beschlagnahmten die libanesischen Behörden ein | |
von Hisbollah-Mitgliedern betriebenes Captagon-Labor. | |
Die Ausbreitung dieses Marktes ist das Ergebnis einer komplexen | |
soziopolitischen Situation, einer humanitären und institutionellen Krise, | |
die zu Armut, Gewalt und Drogenkonsum geführt hat. Es gibt in der Tat | |
zahlreiche Belege dafür, dass politische und wirtschaftliche Instabilität, | |
bewaffnete Konflikte und die Mobilität der Bevölkerung die Anfälligkeit für | |
den Drogenkonsum erhöhen. | |
Verfolgt man den langen Weg der internationalen Vereinbarungen seit der | |
ersten internationalen Konferenz in Shanghai im Jahr 1909 („Internationale | |
Opiumkommission“), ist festzustellen, dass sich der Schwerpunkt von der | |
Bekämpfung des Drogenhandels und der strafrechtlichen Verantwortung der | |
Konsumenten hin zu mehr Sensibilität für persönliche Betreuung und | |
öffentliche Gesundheit verlagert hat. Außerhalb des engen Rahmens zwischen | |
legalem und illegalem Drogenkonsum hat man sich stärker auf die | |
Lebensbedingungen der Drogenkonsumenten konzentriert und einen kulturellen | |
Ansatz gewählt, der den Menschen und sein Verhalten in den Mittelpunkt | |
stellt. | |
In einigen Ländern haben neuere Präventionsmaßnahmen den Anwendungsbereich | |
zur Schadens- und Risikominderung erweitert und damit den neuen Kontexten | |
von Konsum und Abhängigkeit Rechnung getragen. Vor diesem Hintergrund ist | |
es leicht zu verstehen, dass das Auftreten einer neuen Notlage wie der | |
Verbreitung synthetischer Drogen und der Todesfälle durch Überdosierung von | |
synthetischen Opiaten innerhalb dieser Strategie gelöst werden muss. Nicht | |
mit der Rhetorik eines Krieges gegen einzelne Teile des Marktes oder | |
Produktionssysteme, die nicht immer illegal sind. | |
Der Konsum noch unbekannter und zunächst harmlos erscheinender Drogen | |
stellt oft den ersten Schritt dar in Richtung Sucht und Tod: Eine Falle, in | |
die auch viele Menschen geraten, die gar nicht die Absicht haben, Drogen zu | |
nehmen. Unter ihnen sind besonders vulnerable Gruppen. Wir müssen die neuen | |
Gefahren analysieren und ernst nehmen, wenn wir ihnen ehrlich helfen | |
wollen. | |
4 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Fentanyl-Konsum-in-Europa/!5955059 | |
[2] https://www.incb.org/ | |
[3] /Neue-Jugenddroge-Benzodiazepine/!5791470 | |
[4] /Drogenkonsum-in-Syrien-und-Libanon/!5838700 | |
## AUTOREN | |
Claudio La Camera | |
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