# taz.de -- Drogenschmuggel aus Syrien: Assads Sucht-Potenzial | |
> Syrien flutet die Region mit Captagon und immer häufiger auch mit Waffen. | |
> Das Transitland Jordanien versucht, dem Schmuggel etwas | |
> entgegenzusetzen. | |
Bild: 84 Millionen Pillen hat die italienische Polizei 2020 beschlagnahmt. Die … | |
Am 18. Januar, früh am Morgen, erscheinen in der Dunkelheit | |
Militärflugzeuge am Himmel über dem Dorf Orman, im ländlichen, südlichen | |
Syrien. Sie feuern auf drei Häuser. Zurück bleiben Krater im Boden, Häuser | |
in Trümmern und tote Familien, unter ihnen [1][zwei kleine Mädchen]. | |
Es ist der bisherige Höhepunkt eines „unausgesprochenen Krieges“, [2][der | |
sich seit Monaten, vielleicht Jahren, an der Grenze Jordaniens] zu Syrien | |
abspielt. Dabei geht es um [3][illegalen Handel]: mit Drogen, aber auch | |
Waffen. Kein Land hat sich zum Luftschlag bekannt. Doch | |
Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, das den Vorfall | |
untersucht und rekonstruiert hat, zeigen auf die jordanische Armee. | |
Jordanien wiederum hat den Angriff weder bestätigt noch dementiert. | |
In den vergangenen Monaten hat sich die Lage an der jordanisch-syrischen | |
Grenze zugespitzt. Im Dezember hat die Armee einen der größten Drogen- und | |
Waffenschmuggelversuche aus Syrien vereitelt. Mit Raketen, Panzerfäusten | |
und Sturmgewehren bewaffnete Gruppen von Männern hatten versucht, am frühen | |
Morgen die Grenze in der östlichen Wüste zu überqueren. Als | |
Militärpatrouillen sie entdeckten, sollen sie das Feuer eröffnet haben. 14 | |
Stunden lang haben sich die Gefechte hingezogen. | |
Als sich die Männer zurückziehen, fliegt die Armee offenbar Kampfflugzeuge | |
über die syrische Grenze, zerbombt Häuser von mutmaßlichen Schmugglern bei | |
Suweida und Dara'a. Das legen Medienberichte nahe. | |
## Jetzt gilt: Shoot to kill | |
Seit vergangenem Jahr scheint Jordanien mehrere Luftangriffe in Syrien | |
durchgeführt zu haben, hat sich jedoch selten offiziell dazu geäußert. | |
Dabei dürften auch Unbeteiligte gestorben sein. Human Rights Watch | |
konstatiert: „Die Luftschläge, die Frauen und Kinder getötet haben, | |
scheinen außergerichtlichen Hinrichtungen gleichzukommen.“ | |
Die Auseinandersetzungen an der 375 Kilometer langen syrisch-jordanischen | |
Grenze haben an Intensität gewonnen. Bereits 2022 hatte das jordanische | |
Militär seine Einsatzregeln geändert, nachdem [4][einer ihrer Soldaten | |
getötet] worden war. Seitdem gilt Shoot-to-kill: Jetzt schießen die | |
Soldaten, um zu töten. | |
Mitte Februar wurden fünf mutmaßliche Schmuggler umgebracht. Meistens | |
kommen Drogen wie Captagon über die Grenze: [5][2023 hat das Militär 19 | |
Millionen Pillen konfisziert], 2021 waren es 15,5 Millionen. Bei der | |
Schlacht im Dezember waren es 4,9 Millionen, schreibt die | |
Nachrichtenagentur Petra. | |
Captagon ist eine synthetische Droge, ein Amphetamin. Es macht wach, | |
munter, mutiger. Das Kokain des armen Mannes: So nennt man es hier, auf den | |
Straßen. Früher bei Dschihadisten beliebt, heute bei Lkw-Fahrern, | |
ausgelaugten Fabrikarbeitern und Partygängern. Über die ganze arabische | |
Halbinsel hinweg wird es konsumiert. Die Kämpfer der islamistischen Hamas | |
sollen es vor ihrem Angriff auf Israel am 7. Oktober geschluckt haben. | |
## Mitglieder des Regimes stecken mit drin | |
Das schreiben Medienberichte und berufen sich dabei auf US- und israelische | |
Militärquellen, wenngleich manche Expert*innen skeptisch sind: „Es gab | |
keine offizielle Stellungnahme, kein Bild oder toxikologischen Test, die | |
den ursprünglichen Bericht untermauert haben“, sagt etwa Caroline Rose vom | |
US-Thinktank New Lines Institute. | |
Als ziemlich erwiesen gilt hingegen der Ursprung der Pillenflut, die gerade | |
Nahost überschwemmt. Zusammen mit dem Libanon zählt vor allem Syrien zu den | |
größten Produzenten weltweit. „Eine Vielzahl von Akteuren, staatlich sowie | |
nichtstaatlich“ profitierten von diesem Schmuggel, erklärt Rose. | |
Großfamilien in Libanon und Syrien, doch auch [6][Mitglieder des syrischen | |
autoritären Regimes]. | |
Ein Name taucht immer wieder in Captagon-Berichten auf: Maher al-Assad, | |
Bruder des Präsidenten Baschar al-Assad. Maher leitet die | |
Elitemilitäreinheit [7][Fourth Armoured Division], seit 2011 hat die EU | |
Sanktionen gegen ihn verhängt für die brutale Unterdrückung der Proteste. | |
Mehrere Untersuchungen, von Medien wie der britischen BBC, aber auch des | |
US-Finanzministeriums, weisen auf eine prominente Rolle der Fourth Division | |
beim Schmuggel hin. | |
Assads Familie und die syrische Regierung haben eine Verstrickung in den | |
Drogenhandel jedoch stets bestritten. Doch manche Gebiete in den Regionen | |
unter Kontrolle des Regimes seien regelrechte „Hubs“ für die industrielle | |
Captagon-Produktion, so Rose. | |
## Billige Tabletten mit zwei Halbmonden | |
2018 haben griechische Küstenwächter ein Schiff auf dem Weg vom syrischen | |
Hafen von Latakia nach Libyen angehalten, an Bord fanden sie drei Millionen | |
Captagon-Pillen und sechs Tonnen Cannabis. Wert: 100 Millionen Euro. | |
Eigentümer des Schiffes war Taher al-Kajali, syrischer Geschäftsmann unter | |
US-Sanktionen für seine Unterstützung des Regimes. Al-Kajali hat laut | |
Medienberichten jede Verwicklung verneint und wurde damals nicht | |
verurteilt. | |
Captagon ist ein lukratives Geschäft. 57 Milliarden US-Dollar soll der | |
weltweite Handel laut der britischen Regierung wert sein. Andere | |
Expert*innen sind zurückhaltender, schätzen ihn auf etwa zehn | |
Milliarden. Die Pillen werden in Kellern und Lagern mit relativ günstigen | |
Maschinen für etwa 50 US-Cent pro Stück produziert, für den Endkunden | |
kosten sie zwischen 1 und 25 US-Dollar pro Pille, je nach Qualität und | |
Herkunftsland. | |
Und Syrien, nach mehr als einem Jahrzehnt Bürgerkrieg, Sanktionen und einer | |
zerrütteten Infrastruktur, hat einen hohen Geldbedarf. Die Iran-nahe | |
Hisbollah und weitere Milizen unterstützen laut Expert*innen ebenfalls | |
den Handel als Einkommensquelle. Sowohl der Iran als auch die Hisbollah | |
haben eine Verwicklung stets verneint. | |
Zunehmend finden die kleinen runden Pillen mit zwei Halbmonden ihren Weg | |
nach Europa. Ende Oktober haben Beamte 300 Kilo in einer Garage nahe Aachen | |
beschlagnahmt, der bislang größte Fund auf deutschem Boden. Das sorgte für | |
Unruhe. | |
## Pillen in der Dattelpaste | |
Denn Captagon macht nicht nur wach, sondern auch abhängig. Langfristiger | |
Missbrauch kann Herz- und Blutdruckprobleme sowie Halluzinationen | |
verursachen. Bislang gilt Europa lediglich als Transitgebiet auf dem Weg | |
nach Saudi-Arabien und in die Golfregion. Die europäische Route ist | |
allerdings nur eine von mehreren. | |
Seit Jahren überqueren Schmuggler aus Syrien die jordanische Grenze zu den | |
arabischen Golfstaaten. Manchmal sind es Menschen, die Lastkraftwagen | |
steuern, die Karosserie mit Pillen gefüllt, auf der Ladefläche mit | |
Tabletten gestopfte Holztische, Baumaterialien und Bettgestelle oder mit | |
Pillen versetzte Dattelpaste. | |
Manchmal sind es kleine Drohnen, die Drogenhändler über die Grenze fliegen. | |
Und manchmal sind es Gruppen von Menschen, die mit einer Lieferung | |
Drogenpakete auf den Schultern und Gewehren in der Hand die einsame Leere | |
der Wüste ausnutzen, um unbeobachtet über die Grenzmauer zu klettern oder | |
über Erdwälle zu fahren. Ein Bild der Verhafteten, das das Militär kürzlich | |
verbreitet hat, zeigt acht Männer mit zerzausten Haaren, ernster Miene, | |
Schmutz im Gesicht und Sand auf den Hosen. | |
Doch es sind nicht nur Drogenpakete, die die Grenze überqueren. Sondern | |
auch Waffen. In welche Hände sie gelangen, ist unklar. | |
## Ein Netzwerk von Mitverdienern | |
In einem Haus, irgendwo in der nördlichen Provinz von Mafrak, etwa 20 | |
Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, sitzen vier Männer in einem | |
Raum und unterhalten sich. Über die neuste Sorte Meth, über Lieferungen. | |
Über Geld. Einer von ihnen ist ein Zwischenhändler, ein Verteiler, alle | |
sind irgendwie im Geschäft – nur nicht offiziell. Darum reden die vier | |
Männer in Gegenwart der taz nie über sich selbst, sondern nur in dritter | |
Person. Zu groß ist die Gefahr, dass die Aufzeichnungen der Gespräche beim | |
Falschen landen. | |
Ein offiziell arbeitsloser, sportlich gebauter Mann mit hochgezogener | |
Kapuze und glitzerndem Ring am Finger sagt der taz: „Schau, es gibt große | |
Dealer, kleinere Verteiler, und Leute, die verkaufen an Menschen, die sie | |
kennen. Es ist wie ein Netz.“ Von Syrien aus landen die Tabletten, in Lkws | |
versteckt, an verschiedenen jordanischen Orten nahe der Grenze, bevor sie | |
größtenteils nach Saudi-Arabien weitertransportiert werden. Dort kann man | |
die Pillen mindestens um einen Euro teurer verkaufen. | |
Der Bezirk Mafrak ist dabei ein wichtiger Knotenpunkt. Von diesem Handel, | |
vom Drogenhandel, profitieren nicht nur die Produzenten in den jeweiligen | |
Staaten, sondern auch lokale Stämme, die den Handel betreiben und | |
überwachen, korrupte Beamte und die einzelnen Dealer. Das bestätigen | |
mehrere Quellen. „Es ist wie ein Kreis“, sagt einer der vier Männer. Er hat | |
ein jungenhaftes Gesicht. | |
Die Menschen, die in der syrischen Wüste das Drogengeschäft überwachen | |
seien teilweise bidun, wie sie auf Arabisch genannt werden, übersetzt etwa | |
Menschen ohne Identität. Staatenlose, die in Häusern mitten in der | |
syrischen Wüste geboren werden und deren Geburt nicht registriert wird. Sie | |
sind damit quasi für den Job geboren – oder dazu verdammt. | |
## Im Dunst der Wüste | |
Manchmal sind es syrische Lkw-Fahrer, die mit dem Schmuggelgeschäft ihre | |
schmalen Gehälter aufrunden. Manchmal Mitglieder beduinischer Familien. | |
Mehrere Tausend Euro pro Monat kann der Job einbringen. Manchmal ließen | |
sich Schmuggler mit kleineren Päckchen erwischen, damit andere, größere | |
durchkämen. Manchmal warte man auf den richtigen Moment: einen korrupten | |
Beamten, einen Sandsturm. | |
Der feine Sand der Wüste, dieser rosarote Dunst, der bei jeder Brise | |
aufwirbelt und zu Sonnenuntergang die spärlichen Häuser am Horizont wie | |
dünner Nebel einhüllt, bis Himmel und Erde kaum mehr zu unterscheiden sind, | |
dieser Nebel hilft dem Geschäft. Er bietet optimale Bedingungen, um die | |
Grenze ungesehen zu überschreiten. | |
Raketenwerfer, Schützenminen, Sprengstoff tragen die Drogenhändler manchmal | |
auch bei sich. „Hier in Jordanien besitzen viele Menschen Waffen. Auf dem | |
Schwarzmarkt kommen sie auch aus Syrien. Meistens bleiben sie aber in | |
Jordanien“, sagt der Mann im Hoodie. Es gab jedoch Fälle, in denen sich die | |
Waffen von Jordanien aus weiter einen Weg bis in die Westbank bahnten. Der | |
prominenteste Fall war ein jordanischer Parlamentarier, Imad al-Adwan, der | |
2023 mit über 200 Pistolen und Gewehren im Gepäck ins Westjordanland reisen | |
wollte. | |
Sicherheitsexperten sind besorgt. So wie Said Ejadat, Direktor des Zentrums | |
für Strategische Studien der Jordanischen Universität in Amman. Man habe | |
eine neue Welle des Drogen- und Waffenschmuggels aus Syrien gesehen, der | |
die geografische Position Jordaniens und die Lage in Gaza nutzt, erläutert | |
er. „Diese Gruppen dachten, dies könnte der richtige Zeitpunkt sein.“ | |
## Waffen fürs Westjordanland? | |
Während der Weg der Drogen relativ klar ist, ist bei den Waffen vieles | |
unklar. „Wir kennen die exakte Menge nicht, wir wissen nicht, wer der | |
Endkäufer ist“, sagt Ejadat. Die Möglichkeit, dass die Waffen im | |
Westjordanland oder in Gaza landeten, habe zugenommen, schätzt er. Beides, | |
Waffen sowie Drogen, seien für die gesamte Region gefährlich. „Jordanien | |
kämpft einen Krieg, um die Stabilität der Region zu schützen.“ Wie lange | |
das funktionieren wird, ist aktuell die Frage. | |
[8][„Mit synthetischen Drogen wie Captagon] und Crystal Meth entstehen | |
neue, langfristige Herausforderungen für das Gesundheitswesen in der | |
Region“, sagt Expertin Caroline Rose. Und das betrifft nicht nur die | |
Golfländer. War Jordanien schon immer Transitland, entwickelt es sich | |
zunehmend selbst zum Markt für den Stoff. Es wird geschätzt, dass etwa ein | |
Fünftel aller Lieferungen in Jordanien selbst bleibt. | |
Es ist spät in der Nacht, eigentlich schon früh am Morgen, als der Wagen, | |
in dem Ahmad* sitzt, über die verwaisten Fahrspuren der Abdoun-Brücke düst. | |
Links und rechts ziehen die Lichter der Stadt vorbei wie kleine | |
Glühwürmchen. | |
Ahmads Ziel ist eine Techno-Party in Westamman, dem wohlhabenden Gebiet der | |
Stadt. In seiner Tasche liegt eine Zigarette, die er mit Marihuana versetzt | |
hat. So wie andere junge Erwachsene konsumiert Ahmad, der in Wahrheit | |
anders heißt, gelegentlich leichte Drogen. Mit Freunden. Zum Abhängen. | |
„Einmal in der Woche Marihuana, maximal drei, Captagon einmal alle zwei | |
Monate, auf Partys“, sagt der 30-Jährige. „Niemals allein.“ | |
## Captagon zum Feiern | |
Aus dem Radio strömt ein chilliger Elektrobeat. „Ich bin nicht abhängig. | |
Aber ich finde, Treffen mit Freunden sind damit lustiger, alberner. Besser | |
halt.“ Ahmad will anonym bleiben. Aus Angst, dass er Ärger mit der Justiz | |
bekommt. In Jordanien drohen bei Drogenkonsum im schlimmsten Fall drei | |
Jahre Haft und mehrere Tausend Euro Strafe. | |
Es ist unklar, wie verbreitet die Nutzung von Freizeitdrogen in Jordanien | |
ist. Daten der Behörden zeigen jedenfalls einen steilen Zuwachs der | |
angezeigten [9][Drogenverbrechen] im Vergleich zu vor zehn Jahren. Zwischen | |
2013 und 2022 hat sich diese Zahl verdreifacht, von etwa 6.000 auf 18.000. | |
2023 lag sie bei etwa 23.000. Eine [10][Umfrage unter jordanischen | |
Studierenden] aus dem vergangenen Jahr zeigt, dass etwa 7 Prozent der | |
Befragten in ihrem Leben Drogen konsumiert haben, inklusive Tabak und | |
Alkohol. Der Anteil scheint jedoch sehr niedrig, verglichen mit früheren | |
Studien. | |
Gut ein Fünftel der Patient*innen in Entzugskliniken nutzte 2020 | |
Captagon. Jenseits der Kriminal- und Rehafälle ist es jedoch nicht leicht, | |
Daten über den Konsum zu finden. In konservativen, muslimischen | |
Gesellschaften ist dies ein Tabu, das mit Scham, Schuld und Ehrverlust | |
behaftet ist. Sicher ist, dass der Verbrauch von Captagon und Crystal Meth | |
in den letzten Jahren zugenommen hat, wenn auch Marihuana die am meisten | |
konsumierte Substanz bleibt. | |
Das bestätigt Ali al-kam, Facharzt für Psychiatrie beim privaten | |
Al-Raschid-Krankenhaus. „Die üblichsten Drogen unter unseren | |
Patient*innen sind Aufputschmittel, etwa Captagon, allein oder mit | |
anderen Stoffen, die eine beruhigende Wirkung haben.“ Er sitzt an seinem | |
Schreibtisch und blättert nachdenklich in einer Liste, fährt mit seinem | |
Stift über die Namen. | |
## Teure Entgiftung | |
Issa* zum Beispiel, 35 Jahre alt, verheiratet, Kinder, habe mit Cannabis | |
und Captagon angefangen und sei dann auf Crystal Meth umgestiegen. Eine | |
synthetisch hergestellte Droge, die kurzfristig Glück erzeugt und | |
langfristig Psychosen, Halluzinationen, Angststörungen. In Issas Fall war | |
es die Familie, die ihn eingewiesen hat, nachdem er in paranoiden | |
Eifersuchtsanfällen seiner Frau drohte. | |
In Al-Kams Klinik, eingenistet zwischen den Hügeln der Hauptstadt, kommen | |
vor allem wohlhabende Patient*innen, um sich den Drogen und, für eine | |
Weile, der Welt zu entziehen. Etwa 5.000 US-Dollar pro Monat kostet im | |
Schnitt ein Entzug. Dafür müssen sie keine „kalte“ Entgiftung erleben, sie | |
bekommen etwa bei Bedarf Methadon, damit die Schmerzen und das Verlangen | |
nicht so heftig sind. | |
In den weiß gestrichenen Fluren hängen bunte, abstrakte Bilder, in der Luft | |
liegt ein Geruch von Desinfektionsmitteln und Kaffee. Am Empfang begrüßen | |
eine lächelnde Frau in weißem Kopftuch und ein junger Mann mit sauber | |
gestutztem Bart und Hemd ankommende Patient*innen und deren Angehörige. | |
Draußen ist das Wetter kalt und grau, drinnen die Atmosphäre warm und | |
pastellfarben. | |
Etwa 400 bis 500 Einweisungen pro Jahr hat die Klinik. Die Zahl hat sich in | |
den letzten neun Jahren mehr als verdoppelt. „Das liegt daran, dass die | |
Stoffe leichter zu kriegen sind, und an der wirtschaftlichen Lage: | |
Absolvent*innen finden keine Jobs“, erklärt der Arzt. Im Internet gibt | |
es Videos, die für Captagon werben. Etwa mit jungen, gut angezogenen | |
Männern auf sanften Wiesen, die Erfolg dank der Pillen versprechen. | |
„Niedriges Selbstwertgefühl“, sagt al-Kam, sei die Hauptursache für | |
Abhängigkeit. | |
## Die Familie distanzierte sich | |
Gleichzeitig ist es nicht leicht, Hilfe zu suchen. Das Stigma rund um | |
mentale Gesundheit ist in der jordanischen Gesellschaft fest verankert. | |
„Fehlende Motivation ist das Schwierigste“, sagt al-Kam. Er spricht ruhig | |
und langsam. „Mehr als zwei Drittel der Patienten erleben einen Rückfall.“ | |
Nachsorgeprogramme sind hilfreich, können jedoch bis zu zwei Jahren dauern. | |
Und nicht jeder kann sich einen Entzug leisten. Die meisten | |
Krankenversicherungen, falls die Patient*innen überhaupt eine haben, | |
tragen nicht die Kosten für psychische Behandlungen oder zumindest nicht | |
vollständig. Die private Klinik ist nicht die einzige Option. Drei | |
Rehabilitationszentren für Drogensüchtige gibt es in Jordanien. | |
Etwa sechs Kilometer weiter südlich steht ein Gebäude aus weißem Sandstein. | |
Drinnen sitzt Furkan in einem Raum und erzählt, er habe Drogen genommen, | |
seit sein Vater vor sieben Jahren starb. Gegen die Traurigkeit. Immer mehr, | |
in immer höheren Dosen. Captagon, dann Meth. Der Lohn als Verkäufer habe | |
dafür irgendwann nicht mehr gereicht, dann habe er angefangen zu dealen. An | |
Freunde, Nachbarn, „vertraute Menschen“. Einen Teil des Stoffs behielt er | |
für sich. | |
Irgendwann kamen die Halluzinationen, die Selbstmordgedanken. Er bat seine | |
Familie um Hilfe, doch die waren mit der Lage überfordert. Als er sich auf | |
Rat von Bekannten einliefern lässt, wollen ihn Mutter und Geschwister nicht | |
besuchen. „Die ersten sechs Tage waren am schlimmsten“, erzählt der | |
25-Jährige in pinkem Hemd und lächelt, der Blick etwas unstet. | |
## Nicht nur der Körper ist in Behandlung | |
Noch vor elf Tagen saß Furkan auf einem Bett in einem kahlen, blauen Zimmer | |
und versuchte, gegen die Schmerzen und das Verlangen anzukämpfen. Jetzt sei | |
er clean, nehme aber noch Medikamente. Die Familie sei inzwischen | |
überzeugt, dass es doch eine gute Idee war, dass Furkan hierher kam. Jetzt | |
besuchten sie ihn zweimal die Woche, sagt er. Seine dunklen Augen glänzen. | |
Das Behandlungszentrum „Drug Enforcement Administration Addiction Treatment | |
Center“ wurde bereits 1993 gegründet, es unterliegt der | |
Drogenbekämpfungsabteilung der Polizei. Die Behandlung hier ist kostenlos | |
und wer sich einweisen lässt, bleibt von der Strafverfolgung verschont. | |
Am Eingang des Gebäudes, umgeben von Mauern, stehen junge Soldaten, die | |
Sturmgewehre über der Uniform. Hinter der Eingangstür wartet Oberstleutnant | |
Jasan al-Barmawi, der Leiter des Zentrums. In seinem Büro hängen Bilder des | |
jordanischen Königs in Militäruniform, hinter seinem Tisch hängen die | |
Flagge Jordaniens und das Symbol der jordanischen Armee. | |
„Bei einer Behandlung geht es nicht nur um den Körper, sondern auch um die | |
Psyche, die Umgebung und das soziale Umfeld. Kümmert man sich nur um einen | |
Aspekt, wird der Patient früher oder später zurückkehren“, betont er. | |
## Bodybuilding und Töpferkurse | |
Der Oberstleutnant trägt keine Uniform, sondern eine grüne Sportjacke. | |
Hinter den Ledersesseln stehen bunte, handgemalte Tontöpfe in einer Reihe. | |
„Die haben die Patienten getöpfert.“ Al-Barmawi listet mit einem gewissen | |
Stolz die Programme der Einrichtung auf: Sport, Billard, Fußball, Keramik, | |
Religion, Schneiderei. „Wir möchten, dass sich die Patienten zu Hause | |
fühlen.“ | |
In den schlichten Fluren öffnen sich ein Sportraum mit Kraftgeräten und | |
Plakaten von Bodybuildern, hellblau gestrichene Schlafzimmer, eine | |
Keramikausstellung, ein leeres Auditorium. Eine komplette Rehabilitation, | |
inklusive Nachsorge, nehme sechs Monate bis ein Jahr in Anspruch, sagt er. | |
Und gibt ebenfalls zu: Die Zahl der Patient*innen hätte in den letzten | |
Jahren zugenommen. Wegen der größeren Verfügbarkeit des Stoffes. Eine Pille | |
Captagon kostet auf dem jordanischen Markt 2 bis 3 Dinar, umgerechnet etwa | |
2,60 bis 3,90 Euro. Ein Gramm Crystal Meth kostet 25 bis 56 Euro. Das | |
Durchschnittseinkommen liegt bei etwa 580 Euro. Ein Patient erzählt, er | |
habe 2.000 Dinar, etwa 2.500 Euro pro Monat, für Drogen ausgegeben. | |
Was tun gegen das Drogenproblem, gegen den Schmuggel? Mehr | |
Polizeioperationen gegen Dealer und mehr Awareness-Kampagnen, sagt | |
al-Barmawi. Strafen für Dealer, nicht für Abhängige, empfehlen | |
Expert*innen. Multilaterale Koordination „unter vertrauten Ländern in der | |
Region“ sei wichtig, findet US-Forscherin Caroline Rose. Jordanien, Syrien, | |
der Irak und der Libanon wollen jetzt laut Medienberichten eine | |
„Kommunikationszelle“ errichten, um Informationen auszutauschen. Denn, wie | |
Rose betont: Wer vom Handel profitiert, sei bekannt. | |
*Name von der Redaktion geändert | |
25 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.hrw.org/news/2024/03/17/jordan-ensure-accountability-compensati… | |
[2] /Experte-zu-Eskalation-in-Nahost/!6004250 | |
[3] https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/13629395.2023.2297121 | |
[4] https://www.newarab.com/news/jordanian-officer-vows-kill-anyone-who-approac… | |
[5] https://jordantimes.com/news/local/drug-related-cases-increased-25-2023-%E2… | |
[6] https://newlinesinstitute.org/wp-content/uploads/20230525-Dossier-Syrian-Re… | |
[7] https://carnegieendowment.org/sada/88109 | |
[8] /Drogen-Krise-in-Syrien/!5989275 | |
[9] https://psd.gov.jo/media/0dtf1ga2/%D9%85%D9%82%D8%A7%D8%B1%D9%86%D8%A9-%D8%… | |
[10] https://jjournals.ju.edu.jo/index.php/jjps/article/view/1323 | |
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Serena Bilanceri | |
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