Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Migrationsrechtler über Asyldebatte: „Besser keine Reform als di…
> In der Asyldebatte werde vor allem über Verschärfungen diskutiert statt
> über Menschenrechte und pragmatische Lösungen, kritisiert Maximilian
> Pichl.
Bild: Erst geflüchtet, jetzt Schreiner: Omar Ceesay arbeitet an einer Kreissä…
taz: Herr Pichl, am Wochenende haben 270 Wissenschaftler*innen aus
Asyl- und Fluchtforschung, darunter auch Sie, [1][„einen Menschenrechtspakt
in der Flüchtlingspolitik“ gefordert]. Seither hat sich die Asyldebatte
weiter gedreht – in die von Ihnen erhoffte Richtung?
Maximilian Pichl: Nein, in keinster Weise. Wir und unsere inzwischen über
1.000 Unterstützer*innen sind nicht einverstanden mit einer Debatte,
in der die Menschenrechte Geflüchteter keine Rolle mehr spielen. Es macht
uns große Sorge, dass der Asylkompromiss der 1990er Jahre auf einmal als
Vorbild herangezogen wird, sowohl von FDP-Chef Christian Lindner wie
[2][auch vom Bundespräsidenten]. Damals wurden in den Rauchschwaden von
Mölln, Rostock-Lichtenhagen und Solingen radikale Einschränkungen für
Geflüchtete durchgesetzt, ohne, dass man damit die extreme Rechte
eingeschränkt hätte. Im Gegenteil: Der NSU fing später an zu morden.
Die EU-Staaten haben sich nach langem Verhandeln [3][auf die neue
Krisenverordnung geeinigt], die greifen soll, wenn sehr viele Menschen auf
einmal die EU erreichen. Ist es nicht ein gutes Zeichen, dass es Einigkeit
gibt?
Es ist im Gegenteil ein ganz schlechtes Zeichen für die Menschenrechte in
Europa. Diese Krisenverordnung zementiert, dass wir Migration immer als
Gefahr und Überforderung diskutieren werden. Da bleibt kein Raum, zu
überlegen, wie eine humane und menschenrechtsorientierte Aufnahme gelingen
kann.
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) argumentiert, Deutschland habe
noch wichtige Verbesserungen in genau dem Bereich verhandelt.
Ja, die Hürden um die Krise auszurufen wurden angezogen. Trotzdem gibt man
rechten Kräften in Europa die Möglichkeit, Druck auszuüben und die
Standards immer wieder zu senken. Die EU sagt, sie will selbst bestimmen,
wer einreist, und sich nicht erpressen lassen, [4][wie etwa an der
belarussisch-polnischen Grenze]. Aber autoritäre Staaten sehen, dass Europa
panisch reagiert und Flüchtende zur „hybriden Bedrohung“ erklärt. Die
Krisenverordnung vertieft diese Erpressbarkeit. Statt da an minimalen
Stellschrauben zu drehen, hätte Deutschland sich dem prinzipiell
entgegenstellen sollen.
Aber dann wäre die gesamte [5][Reform des europäischen Asylsystems]
gescheitert.
Wir haben das aktuelle europäische Asylsystem immer wieder kritisiert. Aber
besser keine Reform als diese. Dadurch wird weder das [6][Sterben im
Mittelmeer] aufhören, noch wird die [7][kommunale Infrastruktur entlastet]
oder die Aufnahme gelingt besser. Stattdessen werden illegale Pushbacks
zunehmen und Menschen, die Schutz suchen, werden entrechtet und unter Haft
festgesetzt.
Aber haben die Grünen nicht einen Punkt, wenn sie sagen, dass sich etwas
ändern muss?
Der allererste Schritt wäre doch, darauf zu drängen, dass geltendes Recht
und Menschenrechte eingehalten werden. Die seit Jahrzehnten stattfindenden
Pushbacks verstoßen gegen geltende Gesetze und Konventionen. Sowohl für die
EU-Kommission als auch für Deutschland hätte das eine rote Linie in den
Verhandlungen sein müssen.
Nun geht auch die innenpolitische Asyldebatte weiter. Zum Beispiel mit der
Forderung, Geflüchtete sollten Sach- statt Geldleistungen bekommen.
Das ist genau das Gegenteil der nötigen Entlastung der Kommunen.
Sachleistung sind ein enormer Verwaltungsaufwand. Ich verstehe nicht, warum
die Kommunen das nicht rundherum ablehnen. Auch Asylbewerber*innen
steht außerdem laut Bundesverfassungsgericht das soziokulturelle
Existenzminimum zu. Genau da wird bei solchen Sachleistungskonzepten aber
in der Regel gespart.
Die FDP schlägt eine Bezahlkarte vor. Wäre das weniger aufwendig, als
Lebensmittel zu verteilen?
Sie wissen doch selber, dass Deutschland nicht gerade mit seiner
Digitalisierung glänzt. Wie soll denn ein solches Bezahlsystem in allen
Kommunen bundesweit installiert werden? Zum freien Leben gehört außerdem
dazu, dass ich frei entscheiden kann, wo ich einkaufe und nicht nur den
einen Supermarkt zur Auswahl habe, der vielleicht nicht verkauft, was
meinen Essgewohnheiten entspricht.
Die FDP argumentiert, dass die Menschen mit dem Geld Schlepperschulden
zahlen oder es in ihre Heimatländer überweisen.
Man bekommt in der Debatte den Eindruck, Asylbewerber*innen bekämen
unglaublich viel Geld. Das Gegenteil ist der Fall, gerade in Zeiten der
Inflation. Rücküberweisungen haben darüber hinaus in Ländern des Globalen
Südens ein wesentlichen Anteil an der Armutsbekämpfung. Das zu unterbinden,
ohne gleichzeitig globale Armut anders zu bekämpfen, würde die
Lebensbedingungen für viele Menschen enorm verschlechtern.
Andererseits wollen alle Ampelparteien Arbeitsverbote für Geflüchtete
aufheben oder lockern. Es soll also nicht nur verschärft werden.
Das ist definitiv ein richtiger Schritt. Leider werden im gleichen Atemzug
neue Arbeitsverbote geschaffen: [8][Die Ampel will mehr sichere
Herkunftsstaaten] – und Menschen aus solchen Ländern unterliegen einem
unbefristeten Arbeitsverbot. Das ist widersprüchlich. Die Ampel hat einen
Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik versprochen. Stattdessen macht
sie eine Verschärfung nach der anderen mit. Die im Koalitionsvertrag
versprochenen Erleichterungen beim Familiennachzug hat Innenministerin
Nancy Faeser gerade einkassiert, unter großem Protest der
Kinderrechtsverbände. Vieles, was an progressiven Ideen im
Koalitionsvertrag steht, wird aufgeweicht oder gar nicht mehr verfolgt.
Aber würde es den Grünen nicht um die Ohren fliegen, aktuell solche
Erleichterungen zu fordern?
Das Recht auf Familie ist ein Menschenrecht. Wenn eine Gesellschaft sich
diesen verpflichtet, muss sie auch dafür kämpfen – selbst, wenn der Wind
rauer wird. Es gibt viele Partner, die einen anderen Kurs mittragen würden,
in der Zivilgesellschaft, in der Wissenschaft, bei
Menschenrechtsorganisationen. Diese werden im politischen Berlin aktuell
aber nicht repräsentiert. Ich erlebe gerade nur wenige politische
Akteur*innen, die offensiv Menschenrechte verteidigen.
Nun ist die Belastung in vielen Kommunen tatsächlich hoch. Wenn alles
Genannte nicht hilft – was dann?
Statt eines Sparhaushalts bräuchte es jetzt große Investitionen in
kommunale und soziale Infrastruktur. Das käme allen im Land zugute. Wir
haben es geschafft, eine Million Ukrainer*innen aufzunehmen. Wenn ein
Syrer Freunde in Hamburg hat, warum darf er dann anders als ein Ukrainer
nicht dorthin, sondern muss 500 Kilometer weiter in eine teure Unterkunft
und darf mindestens drei Monate nicht arbeiten? Wir sehen doch, dass
Pragmatismus uns weiter bringt als Verschärfungen. Zumal Abschottung und
absolute Kontrolle [9][nicht mal extrem rechten Regierungen wie in Italien
gelingen]. Das wider besseres Wissen zu versprechen und nicht einhalten zu
können, führt nur zu noch mehr Vertrauensverlust.
6 Oct 2023
## LINKS
[1] https://verfassungsblog.de/fur-einen-menschenrechtspakt-in-der-fluchtlingsp…
[2] /Steinmeiers-Aeusserung-zu-Migration/!5961122
[3] /EU-Asyl-Krisenverordnung/!5961205
[4] /Asylrecht-in-der-EU/!5946395
[5] /Reem-Alabali-Radovan-ueber-Asylreform/!5941239
[6] /Unionspolitiker-gegen-Seenotrettung/!5964307
[7] /Fluechtlingspolitik-von-SPD-bis-CDU/!5958250
[8] /Asylpolitik-in-Deutschland/!5956715
[9] /Solidaritaet-auf-Lampedusa/!5959750
## AUTOREN
Dinah Riese
## TAGS
Asylrecht
Schwerpunkt Flucht
GNS
Europäische Union
Geflüchtete
Schwerpunkt Flucht
Theater Bremen
Schwerpunkt AfD
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
IG
## ARTIKEL ZUM THEMA
Grüne Oberbürgermeisterin zu Asylpolitik: „Akzeptanz ist weiter vorhanden“
Auch Bonn stehe bei der Unterbringung Geflüchteter vor Herausforderungen,
sagt Oberbürgermeisterin Katja Dörner. Populismus sei aber keine Lösung.
Arbeit für Geflüchtete im Theater Bremen: Speisen und Menschen aus aller Welt
In der Kantine des Theaters sollen Menschen mit Flucht- oder
Migrationserfahrung deutsch lernen und für die Arbeit in der Gastronomie
geschult werden.
Die Grünen in der Migrationspolitik: Der Angst etwas entgegensetzen
Mit der Forderung, Flüchtlinge schneller arbeiten zu lassen, kommen die
Grünen wieder in die Offensive und zeigen Verantwortung, statt nur zu
klagen.
EU-Asylrecht: Die Ausnahme wird zur Regel
Schutzsuchende haben es in der EU zunehmend schwerer. Ihr bloßes Ankommen
wird bald als „Krise“ gelten, um ihnen mit allen Mitteln zu begegnen.
EU Asyl-Krisenverordnung: Weg frei für schärferes Asylrecht
Die EU-Staaten verständigen sich auf eine Asyl-Krisenverordnung. Die
Regierung zeigt sich erfreut. Kritiker befürchten eine Entrechtung
Geflüchteter.
Steinmeiers Äußerung zu Migration: Ein furchtbares Vorbild
Der Bundespräsident verschweigt die rechte Gewalt der 90er Jahre und legt
der Bundesregierung nahe, es wie damals zu machen. Das ist erschreckend.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.