| # taz.de -- Zwischenstopp in Charleroi: Ich bin auch kein anderer | |
| > Ein paar Stunden in der belgischen Ex-Industriemetropole Charleroi | |
| > genügen unserem Autor, um festzustellen: Er will so schnell wie möglich | |
| > weg. | |
| Bild: Froh wieder auf auf dem Rückweg nach Hause zu sein – nach einem Besuch… | |
| Frühmorgens machten wir uns austernsatt auf die Rückreise nach Berlin, über | |
| den weißen Türmen von La Rochelle lag dramatisch Morgenrot. Zehn Stunden | |
| später rollten wir über bröckelnde Viadukte in unserer günstig gelegenen | |
| Zwischenstation Charleroi ein. | |
| Über die einst wohlhabende, [1][heute schon mal als hässlichste Stadt der | |
| Welt gebrandmarkte Metropole] des frankofonen Belgiens [2][hat unser toller | |
| Benelux-Korrespondenten Tobias Müller 2017 in der taz geschrieben]: „Es | |
| gibt Besucher, die nach einem Tag in Charleroi geradezu wohlig die | |
| Rückreise antreten, an irgendeinen Ort, an dem ihnen das Erbe der | |
| Industrialisierung weniger rabiat ins Gesicht springt.“ | |
| Und wenn es mir auch nicht gefällt und meine Freundin sich seitdem über | |
| mich lustig macht: Ich gehöre insofern zu dieser Gruppe als ich schon nach | |
| ein paar Stunden genug hatte. | |
| Noch nie habe ich mich an einem Ort so unwohl gefühlt wie in Charleroi. | |
| Noch nie hab ich am Abend in einer fremden Stadt, die doch zu erkunden | |
| wäre, so nachhaltig hysterisch darauf gedrängt, schnellstmöglich das | |
| sichere Quartier aufzusuchen, die sehr empfehlenswerte Jugendherberge am | |
| Quai Arthur Rimbaud. Und noch nie war ich erleichterter, einen Ort hinter | |
| mir zulassen, als bei der endlich geglückten Ausfahrt aus dem stinkenden | |
| und auch sonst apokalyptischen Parkhaus Q-Park Inno Centre Ville. | |
| ## „Die verhaften hier gerade jemanden“ | |
| Nun kann ich mir einreden, ich sei eben nicht allein unterwegs gewesen und | |
| könnte meinen Vater zitieren, der zu sagen pflegte: „Ich war immer liberal | |
| – bis ich Kinder bekam.“ Als ich allerdings mitten auf der beeindruckend | |
| deprimierenden Place Vert schrecklich deutsch und laut meine Tochter | |
| anschrie, sie solle endlich herkommen, sagte die nur: „Gleich Papa, die | |
| verhaften hier gerade jemanden, das will ich sehen.“ | |
| Charleroi hat etwas in mir angesprochen, mit dem ich mich sonst nicht so | |
| gerne unterhalte: Meine kleinbürgerliche Angst vor der Unordnung, meine | |
| ästhetische Abscheu vor Verfall und Verwahrlosung, meine kindliche | |
| Hilflosigkeit angesichts eines Szenarios, dessen Regeln ich nicht kenne und | |
| auch gar nicht kennenlernen will. | |
| Kurz: Mein Charleroi, in dem ich mich nur lächerliche 14 Stunden aufhielt | |
| und das, wie ich inzwischen nicht nur beim Kollegen Müller gelernt habe, | |
| sich längst zum postindustriell-touristischen Hipsterziel zu entwickeln | |
| verspricht, war keine reale Stadt mit ihrer konkreten, [3][glorreichen und | |
| tragischen Geschichte (Stichwort: „Deindustrialisierung“)], ihren | |
| vorhandenen Verlockungen und den keineswegs in Abrede zu stellenden | |
| Gefahren. | |
| Charleroi war mein Albtraum, meine Projektionsfläche, war, wenn man so | |
| will, mein Neukölln – mit dem entscheidenden Unterschied, dass ich in | |
| Neukölln 20 Jahre zu Hause war. In Charleroi war ich eben, um mit dem | |
| zeitweiligen Charleroier Arthur Rimbaud zu sprechen, „Je est un autre“, | |
| auch kein anderer als all die anderen, die derzeit neurotische Ängste | |
| haben, mit ihren hausieren gehen und sich politisch vor- und verführen | |
| lassen. Wenn ich mich von ihnen unterscheide, dann einzig darin: Mich | |
| interessieren meine Ängste. Ich stelle sie infrage, denn ich möchte ihnen | |
| nicht auf Dauer unterworfen sein. | |
| Deswegen will ich so bald wie möglich wieder nach Charleroi. Denn dieser | |
| Ort stellt mir Fragen, auf die ich Antworten brauche, insbesondere die, ob | |
| Charleroi unsere Vergangenheit ist – oder unsere Zukunft. | |
| 4 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.faz.net/aktuell/stil/drinnen-draussen/besuch-in-der-haesslichst… | |
| [2] /Urban-Safari-in-Charleroi/!5377734 | |
| [3] https://www.penguin.de/ebook/Die-Komoedie-von-Charleroi/Pierre-Drieu-la-Roc… | |
| ## AUTOREN | |
| Ambros Waibel | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Das bisschen Haushalt | |
| Industrialisierung | |
| Urlaub | |
| Kolumne Das bisschen Haushalt | |
| Kolumne Das bisschen Haushalt | |
| Autoverkehr | |
| Sehnsucht Sommer | |
| wochentaz | |
| Brüssel | |
| Reiseland Belgien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Reckendorfhaus in Berlin: Was die Straße nahe der taz erzählt | |
| Gegenüber dem taz-Gebäude befand sich früher das Haus des jüdischen | |
| Verlegers H. Reckendorf. Seine Geschichte begleitet unseren Autor bei der | |
| Arbeit. | |
| Tipps für die Haushaltsführung: Nicht ohne Emotionen | |
| Wer seine Wohnung nicht zu einem Dreckloch verkommen lassen will, muss sich | |
| an fünf Regeln halten. Aber Vorsicht, Konflikte im Paarbereich sind | |
| vorprogrammiert. | |
| Heimatverrichtungsbox Auto: Heimat mit Motor | |
| Während unser Kolumnist an der Ampel warten muss, bemerkt er: Autos sind | |
| für einige Heimat. Sie sind Rauchstube, Hobbyraum und Abenteuerland | |
| zugleich. | |
| Ein Deutscher im Urlaub: Souvenirs aus Italien | |
| Am Pool liegen, im Hotel schlafen, im Restaurant essen. Schön. Aber wer | |
| Urlaub macht, muss auch enttäuscht werden. Sonst gibt's zu Hause nichts zu | |
| erzählen. | |
| Musée des Beaux Arts in Charleroi: Pilgerreise nach Charleroi | |
| Lucky Luke, das Marsupilami und die Schlümpfe wurden in der belgischen | |
| Industriestadt erfunden. Das Museum zeigt die Entwicklung des Comics. | |
| Königreich für EinsteigerInnen: Das große Belgien-Abc | |
| Warum werden Pommes in Belgien nicht diskriminiert? Wieso funktioniert das | |
| Land auch ohne Regierung? Und ist es wirklich hässlich? | |
| Urban Safari in Charleroi: Ästhetische Tiefschläge | |
| Ein Performance-Künstler organisiert Urban Safaris durch das | |
| postindustrielle Charleroi. Imposant sind vor allem die verlassenen | |
| Industrieanlagen. |