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# taz.de -- Urban Safari in Charleroi: Ästhetische Tiefschläge
> Ein Performance-Künstler organisiert Urban Safaris durch das
> postindustrielle Charleroi. Imposant sind vor allem die verlassenen
> Industrieanlagen.
Bild: Verlassene Fabrikanlage im belgischen Charleroi
Allein dieser Name! Ausgerechnet die Sambre fließt mitten durch diese Stadt
mit ihrer furchtbaren Reputation. Französisch ausgesprochen, klingt das
beklemmend nach Düsternis und nach der Schwermut, die wohl auch auf Régina
Bertinchamps lastete. Die Mutter von René Magritte setzte 1912 im Vorort
Châtelet just in diesem Fluss einen Punkt hinter ihr Leben. Wie so viele
andere landete die Halbwaise Magritte, später Galionsfigur des
Surrealismus, danach im Schwerindustriemekka Charleroi, um sich irgendwie
durchzuschlagen.
104 Jahre später versucht sich die Sambre tief unten in ihrem betonierten
Bett an etwas wie einem Glitzern. Im Hintergrund ragen Schornsteine in den
Himmel, während Stadtautobahn und rot-gelbe Metros in einem anarchischen
Schlingerkurs durchs Bild schießen, auf porös wirkenden, gewundenen
Viadukten, die Girlanden aus Asphalt gleichen. Auf der Oberfläche des
Flusses spielt morgendliche Wintersonne.
Vielleicht ist es der falsche Tag, um die hässlichste Stadt der Welt zu
besuchen? Dieses Label geht zurück auf die Leserumfrage einer
niederländischen Zeitung. Was die Sache freilich relativiert, denn im
nördlichen Nachbarland rümpft man ob fehlender calvinistischer Ordnung
schnell die Nase.
Charleroi, mit gut 200.000 Bewohnern die größte Stadt im frankofonen
Belgien und dank der Lage inmitten des Pays Noir genannten
Steinkohlebeckens im 19. Jahrhundert eine Boomtown, ist für Liebhaber
geharkter Vorgärten zweifellos ein Affront. Nach dem Zweiten Weltkrieg
schlossen Minen und Stahlfabriken. Zurück blieb eine Industriebrache,
abgewirtschaftet und arm.
Für Nicolas Buissart, einen Performancekünstler Mitte 30, ist diese Kulisse
eine Steilvorlage. Seit einigen Jahren organisiert er sogenannte Urban
Safaris durch seine Stadt. Deren ästhetische Tiefschläge sind
Referenzrahmen und das touristische Pfund, mit dem seine Website
[1][charleroiadventure.com] in großem Stil wuchert. „Machen Sie eine Tour
durch die unglaublichste Industriestadt Europas“, heißt es dort.
Angepriesen werden: deprimierende Straßen, verlassene Fabriken, aber auch
„unbekannte Mysterien.
## Zwölf Freuden aus Brüssel
Los geht es am Ufer der Sambre, gegenüber dem Bahnhof. An diesem
Dezembersamstag empfängt Buissart eine Gruppe von 12 Freunden aus Brüssel.
Um die 30 sind sie, die meisten kennen sich vom Studium. Eine von ihnen hat
heute Geburtstag. Als Einzige stammt sie aus der Nähe von Charleroi, und um
den anderen die Stadt zu zeigen, hat sie diesen Ausflug organisiert.
Erste Station: eine freundliche Kaschemme namens Café de Paris in der
Unterstadt. Es gibt belgisches Frühstück, Kaffee und Bier. Mit Charleroi
geht es den meisten hier wie Jeanne Battello: „Ich war schon mal hier, aber
eben nicht richtig. Und so kam sie nicht weiter als zu jenem Bild, das man
auch in der 60 Kilometer entfernten Hauptstadt hat: „Prekär,
alkoholabhängig, zwielichtig, vielleicht auch etwas gefährlich.“
## Gegen die Malaise
Von Gefahr kann keine Rede sein. Die Unterstadt präsentiert sich eher als
ein Baustellenarchipel mit großflächig aufgerissenem Pflaster. Arbeiter mit
Schubkarren erschweren das Vorwärtskommen auf den schmalen Sandpfaden. Ein
Leichtes, sich hier seine Stereotype bestätigen zu lassen. Wobei: Zeugt die
Renovierungswelle nicht gerade vom Ärmelhochkrempeln, vom Ankämpfen gegen
die Malaise?
Mitten in dieser urbanen Geröllhalde liegt die Passage de la Bourse, ein
holzvertäfeltes Schmuckstück von einer Galerie mit Buchläden und
Antiquariaten. Auch hier wird renoviert und die meisten Geschäfte sind
hinter hölzernen Jalousien verborgen. Hier erzählt Nicolas Buissart von der
Geschichte der Stadt, die im September ihren 350. Geburtstag feierte. Er
tut das gestikulierend und grimassierend, unter Zuhilfenahme von
Handbewegungen und Körperdrehungen – ein Performer, und Charleroi ist seine
Bühne.
Das einzige Geschäft in der Passage, das geöffnet ist, präsentiert im
Schaufenster einen Comic mit dem Titel „Charleroi. Une ville au carrefour
de l’histoire“. Ausgerechnet zum Jubiläum fühlten sich die Carolos
genannten Bewohner wieder mal an der Kreuzung der Geschichte. Kurz zuvor
nämlich machte Caterpillar bekannt, seine Fabrik im nahen Gosselies aus
Kostengründen zu schließen. Die über 2.000 Arbeiter verlieren ihren Job.
Ein Banner am Hintereingang des Rathauses kündet davon. „Charleroi avec les
travailleurs de Caterpillar“, steht darauf. Der Bürgermeister ist seit
Kurzem weltberühmt: Paul Magnette, als wallonischer Ministerpräsident das
Gesicht der Ceta-Proteste.
Kurz durchstreift die Stadtsafari die Oberstadt. An Imbissstuben und Bars
ist kein Mangel. Viele Bordsteine und Straßen bilden topografische
Landschaften mit Rissen und Löchern.
Auch auffällig: der Palais des Beaux-Arts. Gleich dahinter liegt ein
riesiger, fast leerer Parkplatz und an dessen Ende eine Mauer. „Vorsicht,
sie ist nicht stabil, warnt Nicolas. Es folgt eine Passage: ein
abschüssiger Tunnel aus bemoostem Beton, der an einer Seite fensterähnliche
Öffnungen hat und daher auch nur zum Teil vor Nässe und Wind schützt. Trotz
allem dient er offenbar als Zufluchtsstätte. Den Boden pflastern Klamotten
und leere Verpackungen.
## Stahlschrott und Schutt
Weiter geht es unter der Stadtautobahn entlang verfallener Fassaden und
rußiger Häuserzeilen. Leichte Kost ist das nicht. Die Gruppe stiefelt
derweil über eine stillgelegte Bahnstrecke durch ein Gebüsch, das keine
Deponie ist, aber trotzdem eine bemerkenswerte Anzahl Müllsäcke aufweist,
und steht plötzlich vor einem der Big Five einer Charleroi-Safari: einer
ehemalige Fabrik – und was für einer!
Oben an der Fassade hängt noch ein Reklameposter mit einer roten
Wohnzimmergarnitur. Hinter den Mauern, deren Fenster längst herausgebrochen
sind, steht kaum noch ein Stein auf dem anderen. Die 200 Meter lange
Werkhalle einer Baufirma setzt neue Maßstäbe, wenn es um Verfall geht:
nackte Betonpfeiler, löchriges Dach und überall Schutthaufen, die wie
Stalagmiten einer Tropfsteinhöhle nach oben ragen.
Durch eine Öffnung, in der die Tür fehlt, verlassen wir die Fabrik, um
gleich einen steilen bewachsenen Abhang zu bezwingen. Auf einer Lichtung
zeugen Kondome und ihre Verpackungen vom nahen Straßenstrich. Irgendwo im
Gestrüpp steht ein Sofa herum, und wenige Meter weiter findet sich an einem
Baum tatsächlich eine Wanderwegmarkierung. Aus gutem Grund: vor uns liegt
ein neues Wahrzeichen von Charleroi: der Terril des Piges.
## Ein faszinierendes Panorama
Mehr als 50 dieser Hügel, entstanden aus dem Abfall der Steinkohleminen,
prägen inzwischen die eigentlich flache Landschaft. Der Terril des Piges,
der sich 150 Meter über die Stadt erhebt, ist einer der bekanntesten. Unter
dem Grasboden zeugt schwarzer Grund von der Vergangenheit. Ein steiler
Anstieg, dann breitet sich ein faszinierendes Panorama aus: das Pays Noir
mit all seinen Schornsteinen, manche noch qualmend, die meisten nicht mehr,
und dazwischen wie zufällig hingewürfelte Häuserzeilen aus dunklem
Backstein.
Was von oben beeindruckend aussieht, wirkt auf gleicher Höhe geradezu
spektakulär. Bald nach dem Abstieg erreichen wir wieder die Sambre, an
deren beider Ufer die stillgelegten Stahlfabriken eine wahre Wellblechwüste
bilden. Es entfaltet sich ein ganz und gar ungeschminkter
Strukturwandelporno, mit Brücken und Rohren, Schornsteinen und Außentreppen
in rotem, braunem und ockerfarbenem Rost. „In Frankreich wäre das Ganze
eingezäunt, so Nicolas, „in Deutschland abgerissen, in den Niederlanden
längst wieder aufgebaut. Hier ist es einfach da!“
Mit martialischem Krachen drängt die Gegenwart in dieses Standbild. Es
kommt aus einer gigantischen Halle, deren offene Rückwand den Blick auf
einen Berg aus Stahlschrott freigibt. Rauchschwaden ziehen darüber, und in
grünlichem Scheinwerferlicht ist vom Fluss aus eine Greifschaufel mit
sieben Armen erkennbar. Gespenstisch sieht es aus, wie sie an einer
Deckenschiene auf den Schrottberg zuschwebt, die Zähne hineinschlägt und
ihre Beute ein paar Meter weiter krachend in einen Container löscht.
## Neue Cafés am Bahnhof
Es gibt Besucher, die nach einem Tag in Charleroi geradezu wohlig die
Rückreise antreten, an irgendeinen Ort, an dem ihnen das Erbe der
Industrialisierung weniger rabiat ins Gesicht springt. Es empfiehlt sich,
vorher noch einmal unter Menschen zu gehen.
Am Bahnhof etwa fallen einige neue Cafés mit handgemalten Menutafeln auf,
die davon zeugen, dass selbst in Charleroi die Starre nicht ewig andauert.
Armut freilich ist auch hier deutlich sichtbar, nur dass die Bettler, die
im Gang auf dem Boden sitzen, niemand wegscheucht oder kontrolliert.
Und wenn man Glück hat, kann man einen Arbeiter mit Weste sehen, der einen
gehbehinderten Mann in die Sweetie Bar geleitet. Dort übernimmt ihn der
Barkeeper, hievt ihn auf einen Stuhl am Fenster und setzt ihm einen Kaffee
vor.
4 Feb 2017
## LINKS
[1] http://charleroiadventure.com
## AUTOREN
Tobias Müller
## TAGS
Reiseland Belgien
Kohleindustrie
Kolumne Das bisschen Haushalt
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