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# taz.de -- Chronik der EU-Ceta-Verhandlungen: Niemand hört den Wallonen zu
> Nach langen Gespächen stimmt die Wallonie einem Ceta-Kompromiss zu. Die
> Geschichte, wie die Wallonen unter Druck gesetzt wurden.
Bild: Dieser Demonstrant hört den Wallonen zu. Und protestiert am Donnerstag g…
Belgien ist zurück am Verhandlungstisch. Wallonien, von deutschen Medien
seit seinem Ceta-Veto wahlweise als antieuropäisch, egoistisch und
protektionistisch bezeichnet, hat einem Kompromiss zugestimmt. Die EU ist
freigekommen aus der „beschämenden“ (Tagesthemen) „Geiselhaft“ (Spiegel
Online) dieser aufständischen Asterix-Region.
So lautet der neoliberale Narrativ: ein sozialistischer
Fundamental-Oppositioneller materialisierte aus dem Nichts, um den besten
Freihandelsvertrag, den die EU je hatte (Süddeutsche Zeitung), aus
regionalpolitischer Profilierungssucht implodieren zu lassen.
Tatsächlich ist den letzten Wochen eine ganz andere Geschichte geschrieben
worden: die eines EU-Mitglieds, das sich seines verbrieften Vetorechts
bedient hat, um Ceta im Alleingang demokratischer zu gestalten – und dafür
von EU, Kanada und transnationalen Wirtschaftsverbänden massiv unter Druck
gesetzt wurde.
Wallonien kündigte sein „Nein“ lange an. Da Ceta wie TTIP geheim verhandelt
werden, erhalten alle nationalen Parlamente die Rohfassung des Vertrages
erst nach Verhandlungsabschluss 2014. Unmittelbar anschließend beginnt die
wallonische Regierung, sich intensiv und öffentlich mit Ceta zu
beschäftigen.
## Wallonien kritisiert
Insgesamt 28 Experten lädt das wallonische Parlament in die Hauptstadt
Namur ein. Fast 70 Stunden öffentliche Debatten zu Ceta finden statt. Von
einer derart detaillierten und transparenten Diskussion träumt der Deutsche
Bundestag nicht einmal. Anfang Mai 2016 publizieren die Wallonen ihre erste
Anti-Ceta-Resolution. Darin formulieren sie grundsätzliche Anforderungen an
europäische Handelsabkommen und machen deutlich, dass sie Ceta ohne
entsprechende Anpassung nicht unterzeichnen werden.
Das Problem ist nur: Fast niemand hört den Wallonen zu. Gabi Zimmer,
Vorsitzende der Linksfraktion GUE/NGL im EU-Parlament, bestätigt „Der
Widerstand der Wallonen war lange absehbar und mehr als berechtigt, aber er
wurde nicht ernst genommen.“
Anfang Juli stuft die EU-Kommission dann das Abkommen als gemischte
Vereinbarung ein. Plötzlich wird das Veto aus Namur zum Problem – hinter
den Kulissen läuft eine Disziplinierungsstrategie an.
Am 5. Oktober und 13. Oktober, dem Tag vor der endgültigen Ceta-Abstimmung
im wallonischen Parlament, legen die EU und Kanada einlenkende
Zusatzerklärungen zum Ceta-Vertrag vor, die „Joint Interpretative
Declarations“. Doch die Wallonen bleiben unbeeindruckt. Ihnen liegt ein
Gutachten vor, das bestätigt: Die juristische Verbindlichkeit dieses Codes
of Conduct ist gleich null. Nur Veränderungen im Vertragstext selbst sind
belastbar. Das Entgegenkommen ist rhetorische Augenwischerei.
## Wallonien stimmt ab
Am 13. Oktober stimmt das wallonische Parlament mit 46 zu 16 Stimmen gegen
die Ceta-Unterzeichnung. Einen Tag später kommt Kanadas ehemaliger
Handelsminister Pierre Pettigrew nach Belgien, um Ministerpräsident Paul
Magnette ins Gewissen zu reden. Nachdem dies scheitert, macht Kanada klar:
Das Problem ist nun innereuropäisch; die EU-Kommission soll hinter
Nestbeschmutzern selbst her putzen.
Es bleiben nur noch 14 Tage bis zum EU-Kanada-Gipfel. Nun werden die
Schrauben schnell angezogen. Wallonien wird über die meisten europäischen
Kanäle als stures, verblendetes Völkchen porträtiert, das mit seinem
unbegründeten „Nein“ den Nationalisten der neuen Rechte in die Hände spie…
und den Ruf der EU als verlässlicher Verhandlungspartner im Alleingang
zerstöre.
Parallel beginnen intensive Verhandlungen, Ultimatum um Ultimatum wird
gestellt. Brüssel will nach außen kommunizieren: Wir haben die Wallonen im
Griff, wir diktieren die Bedingungen. Doch Magnette wehrt sich. Solche
Fristen seien unvereinbar mit dem demokratischen Prozess und die Fragen zu
wichtig, um unter Zeitdruck entschieden zu werden.
Gleichzeitig beklagt der Ministerpräsident am 18. Oktober „unverhüllte
Drohungen“ von Konzernen. Auch immer mehr wallonische MPs berichten hinter
vorgehaltener Hand von Kontaktaufnahmen durch Lobbyverbände, die mit dem
Ausbleiben dringend nötiger Investitionen in der wirtschaftlich gebeutelten
wallonischen Region drohen.
## Wallonien gibt nach
Der größte europäische Arbeitgeberverband „BusinessEurope“ hatte schon v…
der Vetoabstimmung in einem Brief an die wallonischen Parteivorsitzenden
verlangt, sie sollen von ihren „kurzsichtigen, politischen Erwägungen“
ablassen und „sich ihrer Verantwortung stellen“. Die Lobbyorganisation
„Canada European Roundtable for Business“ schreibt mit unverhüllter
Offenheit gleich an Magnette selbst.
Wallonische MPs berichten außerdem von Aussagen der EU-Kommission, in denen
Konsequenzen für den Fall eines weiteren Widerstandes angedeutet werden.
Darin soll es vor allem um Subventionsstreichungen gehen, etwa von Geldern
aus dem „European Globalisation Adjustment Fund“ für die mehr als 2.000 in
der Region weggefallenen Stellen, nachdem US-Baumaschinenhersteller
Caterpillar seine Fabrik bei Charleroi im September geschlossen hatte. Auch
soll eine Kürzung von Zuschüssen aus dem europäischen Fond für regionale
Entwicklung im Raum stehen. An die Öffentlichkeit gehen will damit kein
Abgeordneter. Zu groß sind die Befürchtungen vor ökonomischen Repressalien.
Zeitgleich macht der Vorsitzende der wallonischen Partei Centre Démocrate
Humaniste, Benoit Lutgen, in einem Interview mit der belgischen Zeitung Le
Soir weitere Versuche der Einflussnahme auf EU-Kommissionsebene öffentlich.
Wahrscheinlich wird nie ganz klar sein, inwieweit das Einlenken Walloniens
dem konzertierten Gegenwind geschuldet ist. Vielleicht hat Magnette auch
nur hoch gepokert. Sicher ist aber: Der wallonische Widerstand hat Ceta
bereits jetzt verbessert. Es hätte von Anfang an ein nachhaltiges
Handelsabkommen werden können, wenn alle nationalen Parlamente sich mit
derselben Beharrlichkeit dafür eingesetzt hätten.
Maude Barlow, National Chairperson der Ceta-kritischen kanadischen
Bürgerrechtsbewegung „Council of Canadians“, drückt es so aus: „Die
Wallonen sind einfach den Vertrag sehr detailliert durchgegangen und haben
gleichzeitig auf die Sorgen der Menschen gehört – das ist mehr als man von
den Regierungen Kanadas, Deutschlands und anderer Länder behaupten kann, in
denen die starke Opposition zu Ceta ignoriert wurde. Die Resilienz der
Wallonen angesichts aller Einschüchterungsversuche signalisiert der Welt,
dass gewählte politische Entscheidungsträger prinzipientreu bleiben können.
Walloniens Standpunkt gegenüber Ceta hat dem Widerstand gegen
Freihandelsabkommen neuen Aufwind verliehen. Ceta in seiner gegenwärtigen
Form wird niemals ratifiziert werden.“
28 Oct 2016
## AUTOREN
Caroline Claudius
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