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# taz.de -- Musée des Beaux Arts in Charleroi: Pilgerreise nach Charleroi
> Lucky Luke, das Marsupilami und die Schlümpfe wurden in der belgischen
> Industriestadt erfunden. Das Museum zeigt die Entwicklung des Comics.
Bild: In der einst „hässlichsten Stadt der Welt“ herrschte und herrscht ei…
Die belgische 200.000 Einwohner-Stadt Charleroi, die eine knappe Stunde von
Brüssel entfernt in der französischsprachigen Wallonie liegt und einer der
Geburtsorte des modernen europäischen Comics ist, hat lange Jahre des
wirtschaftlichen Niedergangs hinter sich. Dabei boomte hier im 19.
Jahrhundert die Industrie – in Charleroi wurden Eisen, Stahl und Flachglas
produziert, das Sodawasser erfunden, Bergwerke förderten Unmengen von
Braun- und Steinkohle.
„Pays noir“ – „schwarzes Land“ nennen sich die Überreste des
Industriegürtels in der Umgebung. Das ehemalige Bergwerk „Bois du Cazier“
erinnert noch an alte Größe. Heute beherbergt es ein Industriemuseum und
eine imposante Kollektion von Glaskunst. Eine Katastrophe besiegelte sein
Schicksal: Im August 1956 starben 262 Kohlekumpel bei einem Grubenunglück.
Seit der Schließung der letzten großen Fabriken um 1970 ist [1][Charleroi
von Arbeitslosigkeit und Leerstand] geprägt. Die niederländische
Zeitschrift de Volkskrant kürte die Stadt am Fluss Sambre 2008 zur
„hässlichsten Stadt der Welt“. Ein Image, gegen das sie bis heute ankämpf…
Doch eine Wende deutet sich an: Zentrale Plätze werden neu gestaltet,
Jugendstil- und Art-Déco-Gebäude restauriert, eine neue Messe ist in
Planung. Originelle Street-Art schmückt viele Fassaden und erinnert etwa
augenzwinkernd an das ehemalige Rotlichtviertel.
## Musée des Beaux Arts
Nun wurde das neue Musée des Beaux Arts (Museum der Schönen Künste)
eröffnet und zog in die frisch hergerichteten ehemaligen Stallungen der
Gendarmerie ein. Das sehr lichte Backsteingebäude fügt sich bestens in das
umgebende Architekturensemble ein – gleich neben dem schicken neuen
Glasturm (Sitz der städtischen Polizei) des Architekten Jean Nouvel und
nahe der renommierten „Charleroi danse“-Tanzcompagnie.
Die Industriegeschichte der Stadt schlägt sich in der sehenswerten
Kunstsammlung nieder. Bereits im 19. Jahrhundert waren düstere, von
rauchenden Fabriken dominierte Landschaften und malochende Arbeiter
(darunter viele Frauen) beliebte Motive für stimmungsvolle Gemälde, etwa
von Maximilien Luce oder Pierre Paulus. Frühe surrealistische Bilder René
Magrittes sind weitere Höhepunkte der Sammlung.
Jenseits von verfallenen Fabriken gibt es eine farbenfrohe, ja, lustige
Facette der Stadt, die das Museum nun in den Mittelpunkt seiner
Eröffnungsausstellung stellt und die bereits scharenweise Kinder anlockte:
Der Verlag Dupuis hat hier europäische Comic-Geschichte geschrieben und
eine „fabrique de héros“, eine Heldenfabrik, geschaffen, wie der
Ausstellungstitel treffend lautet.
In Marcinelle, einer erst 1977 eingemeindeten Vorstadt, eröffnete der
Unternehmer Jean Dupuis 1911 in der Rue Jules Destrée seine kleine
Druckerei, in der er Etiketten für Arzneimittel herstellte.
## Le journal de Spirou
Bald entwickelte er Ambitionen für Magazine, die der modernen Zeit
entsprechen sollten: 1922 erschien die erste Ausgabe der Frauenzeitschrift
Belles Soirées, 1924 folgte Le Moustique, eine unterhaltende
Radio-Zeitschrift, schließlich 1938 das Comicmagazin für Kinder Le journal
de Spirou. Letzteres sollte die erste und wichtigste Comic-Zeitschrift
Belgiens werden, die bis heute nahezu ununterbrochen erscheint.
Die Ausstellung gibt Einblicke in die Familiengeschichte, die diesen Erfolg
ermöglichte: Ein Notizheft von Paul Dupuis – einem der Söhne des Gründers
Jean – enthält etwa Hinweise zur Namensfindung des Magazins, 1937, während
des Familienrats. Heraus kam [2][„Spirou“ – die wallonischen Begriffe für
„Lausbub“] wie auch „Eichhörnchen“ sind in ihm enthalten. Die Titelfig…
der in eine rote Livree gehüllte junge Hotelpage Spirou mit dem
Eichhörnchen Pips als treuem Begleiter – sollte neben „Tim und Struppi“ …
belgischen Comic-Ikone schlechthin werden.
Die Verlegerfamilie Dupuis, katholisch-bürgerlich geprägt, doch zugleich
fortschrittlich orientiert, bewies auch in der Auswahl der Künstler ein
sehr gutes Händchen, als sie während des Krieges Joseph Gillain alias Jijé
zum Antriebsmotor für ihre Comic-Produktion erkor.
## Titelserie „Spirou und Fantasio“
Der studierte Maler erfand nicht nur zahlreiche eigene Serien wie „Jean
Valhardi“ oder „Jerry Spring“, er konnte sowohl realistische
Comicbiografien („Don Bosco“) wie auch in flottem Strich gehaltene
humoristische Abenteuer wie die Titelserie „Spirou und Fantasio“ zeichnen.
Noch wichtiger war, dass der vielseitige Comic-Autodidakt einer ganzen
Generation von Talenten das Comic-Handwerk beibrachte: darunter Maurice de
Bévère (alias Morris, „Lucky Luke“), André Franquin und Willy Maltaite
(Will, „Harry und Platte“), die ursprünglich lieber Trickfilme à la Walt
Disney machen wollten.
Die Vielzahl an Talenten und dabei entwickelten neuen Comic-Helden machte
aus dem Spirou-Magazin nach dem Krieg das kreative Zentrum einer sich erst
formierenden, eigenständigen belgischen Comic-Szene. Noch heute spricht man
von der „Marcinelle-Schule“ – einer vorwiegend humoristischen
Zeichentradition, die in Konkurrenz zur „Brüsseler Schule“ Hergés stand.
Dessen 1946 gegründetes Tintin-Magazin (das neben „Tim und Struppi“
ebenfalls viele neue Serien kreierte) pflegte einen etwas realistischeren,
klaren Stil. André Franquin mauserte sich in den 50er Jahren zum prägenden
Zeichner der Serie „Spirou“, zudem erfand er den chaotischen Büroboten
Gaston und das liebenswerte Marsupilami-Fabeltier.
## Die Schlümpfe
Sein dynamischer Strich voller Speedlines entwickelte sich zum
stilprägenden Vorbild vieler junger Zeichner bei Dupuis. Sein Kollege
Pierre Culliford alias Peyo erfand eine weitere Erfolgsserie: „Die
Schlümpfe“.
Kern der Schau ist ein langgestreckter Saal, in dem die Arbeitsabläufe des
Spirou-Magazins und damit der Comicproduktion im Allgemeinen dargestellt
werden. Von den unterschiedlichen Arbeitsweisen der Zeichner und
Szenaristen, von Drehbuch-Entwürfen, ersten Skizzen zur fertig getuschten
Seite in Schwarzweiß bis hin zu verschiedenen Techniken der Farbgebung
(erst mittels Folien, dann als Couleur directe, heute meist digital) werden
persönliche Herangehensweisen aufgezeigt und mit Originalseiten belegt.
Schließlich wird auch der Druckprozess in einer vereinfachten
Maschinenkonstruktion veranschaulicht. Eine große Bibliothek für Kinder
bildet das Ende des Saales, in der die wichtigsten Comicserien, die Dupuis
in über 80 Jahren hervorbrachte, in Albenausgaben zum Schmökern
bereitstehen.
Längst ist die Albenproduktion wirtschaftlich wichtiger geworden als die
Magazine, gibt Co-Kurator Benoît Fripiat an. An einer Wand findet sich auch
ein Guckkasten mit kleinen Löchern zu zensierten Szenen aus der langen
Geschichte des „Spirou-Magazins: „Billy the Kid“ durfte zum Beispiel als
Baby in der Wiege nicht, wie in „Lucky Luke“ von Morris vorgesehen, an
einem Revolverlauf nuckeln – die ganze Sequenz wurde gestrichen und durch
eine weniger anstößige ersetzt.
## Strenge französisch-belgische Zensur
Meist kam hier die Selbstzensur Dupuis’ zum Zuge, um die damals strenge
französisch-belgische Zensur zu umgehen. Der Kreativität und
freundschaftlichen redaktionellen Atmosphäre schadeten solche Vorfälle
nicht. Nicht nur porträtierten sich die Zeichner andauernd gegenseitig in
ihren Comics, auch Redakteure wie der auf Fotos der 60er Jahre wie ein
leicht durchgeknallter Hippie aussehende Yvan Delporte (Markenzeichen:
langer Rauschebart) wurden in zahllosen Cameo-Auftritten verewigt.
In der Vorhalle ist ein gigantisches Ungetüm namens „Gaffophon“ zu
bewundern – eine Skulptur aus der Urzeit? Es handelt sich um die
Nachbildung eines fiktiven Musikinstruments des erwähnten Büroboten und
Erfinders Gaston. André Franquins anarchischer Humor ist bis heute in
vielen Dupuis-Serien zu finden.
Wie aus einem kleinen Familienunternehmen eine „Comic-Helden-Fabrik“ werden
konnte, zeigt die reichhaltige und immer wieder zum Schmunzeln anregende
Ausstellung über den Dupuis-Verlag, die sowohl Comic-Fans wie auch Familien
anspricht. Es zeigt sich, dass sich in Charleroi durch die Besinnung auf
die eigene Vergangenheit auch ein Weg in die Zukunft finden lässt.
5 Mar 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Ralph Trommer
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