# taz.de -- Alte Comics leben länger: Humboldts Erbe | |
> Der Zeichner Flix lässt das Marsupilami durch die deutsche Hauptstadt der | |
> 1930er Jahre streunen. Sein schöner Schwanz verstört auch Braunhemden. | |
Bild: Mimmi und das Marsupilami besuchen die Berliner Siegessäule | |
1801, im tiefsten Urwald, irgendwo zwischen Paraguay und Kolumbien, wittert | |
der Forscher Alexander von Humboldt eine neue Spezies, als er das | |
schwarzgelb gefleckte längliche „Dings“ entdeckt. Etwa eine Schlange mit | |
Fell? Das wäre eine Sensation, so etwas ist selbst ihm noch nicht | |
untergekommen! Doch dann entpuppt sich die vermeintliche Schlange als der | |
viele Meter lange Schwanz eines größeren Tiers. „Och nööö – ein Affe!�… | |
[1][zeigt sich der von zahlreichen Entdeckungen verwöhnte Deutsche | |
enttäuscht.] Von Humboldt packt das knuffige Tierchen in eine seiner vielen | |
Kisten, um es später auszustopfen. | |
Mit seiner Einschätzung liegt er diesmal falsch: Es handelt sich um keinen | |
gewöhnlichen Affen, sondern um ein seltenes Beuteltier. Der | |
Wissenschaftler, der in Begleitung von Aimé Bonpland Südamerika bereist, | |
vergisst das „Dings“ inmitten seiner vielen „Mitbringsel“. Die Kiste la… | |
schließlich ungeöffnet im Lager des Berliner Naturkundemuseums. Erst 1931 | |
entkommt das Tier, auf wundersame Weise wiederbelebt, seinem Käfig und | |
schickt sich an, das Berlin der 30er Jahre unsicher zu machen. | |
Kann das sein? Ist das historisch? War Humboldt wirklich der Entdecker | |
jener fabelhaften, hochintelligenten Spezies, die uns heute als das | |
„Marsupilami“ bekannt ist? Bisher ging man davon aus, dass es erst 1952 von | |
zwei Abenteurern namens Spirou und Fantasio entdeckt wurde. | |
## Genealogie der Fabeltiere | |
[2][Comicfans verfügen über das nötige zoologische Spezialwissen:] | |
Natürlich handelt es sich bei dem Marsupilami, dem schwarzgelben Beuteltier | |
mit dem acht Meter langen Schwanz und einem ausgeprägten Sinn für Humor, um | |
ein Fabeltier. 1952 taucht es erstmals im „Spirou und Fantasio“-Abenteuer | |
„Eine aufregende Erbschaft“ des Belgiers [3][André Franquin (1924–97)] a… | |
der die Comicserie um den eine rote Hotelpagenlivree tragenden Spirou | |
nachhaltig prägte und dabei einen dynamischen Stil entwickelte, der Schule | |
machte. | |
Franquins Marsupilami war eine Hommage an ein anderes Comic-Fabeltier, den | |
„Jeep“ aus E. C. Segars „Popeye“, sein Name setzt sich aus dem lateinis… | |
Wort „Marsupial“ (Beuteltier) und dem französischen „ami“ (Freund) | |
zusammen. | |
Das lustig-anarchische Marsupilami fand Spirou im Dschungel Palumbiens, | |
einem fiktiven Land in Südamerika. In der Geschichte „Ein Nest im Urwald“ | |
(1960) versuchte sich Franquin gar an einer (Pseudo-)Dokumentation der | |
Tierart, die zugleich eine treffende Parodie auf Tierfilme darstellte. Im | |
Jahr 1987 entwickelte Franquin eine eigene Marsupilami-Comicreihe, die | |
durch ihren Slapstickhumor bei Kindern sehr beliebt ist (zuletzt erschien | |
bei Carlsen „Chaos in Jollywood“, gezeichnet von Batem). | |
Mehrere Zeichentrickadaptionen und ein Spielfilm (2012) folgten. Letztes | |
Jahr versuchte sich der französische Zeichner Frank Pé und der Szenarist | |
Zidrou an einer ernsteren, realistischen Neuinterpretation namens „Die | |
Bestie“ (ebenfalls bei Carlsen erschienen). | |
## Liebevolle Adaptionen | |
Die neueste Interpretation, „Das Humboldt-Tier“, stammt [4][von dem 1976 in | |
Münster geborenen deutschen Zeichner Felix Görmann alias Flix,] der bereits | |
2018 als erster deutscher Comiczeichner einen Spirou-Band zeichnen durfte, | |
„Spirou in Berlin“. Schon hier zeigte sich der Wahlberliner als pfiffiger | |
Erzähler, der in seine in der Wendezeit angesiedelten Geschichte zahlreiche | |
Anspielungen an die frankobelgische wie an die deutsch-deutsche | |
Comic-Historie einflocht. | |
„Das Humboldt-Tier“ ist nicht weniger liebevoll gemacht: Das kauzige, | |
rauffreudige Tierchen, das bevorzugt die Laute „Huba-huba“ ausstößt und | |
durch seinen überlangen Mehrzweckschwanz mit zahlreichen Gimmicks aufwarten | |
kann, landet bei der kleinen Mimmi Löwenstein, die mit ihrer Mutter in | |
einem Berliner Mietshaus lebt – samt despotischem Hausmeister und einer | |
äußerst missgünstigen Nachbarschaft. | |
Da Mimmi nicht gerne alleine ist, nimmt der freundliche Nachbar Herr Otto | |
sie mit zu seinem neuen Arbeitsplatz im Naturkundemuseum. Ein idealer | |
Spielplatz! Als die Hobbyzoologin Mimmi dem Marsupilami begegnet, werden | |
die beiden beste Freunde – und stellen janz Berlin uff den Kopp. | |
Flix entwickelt eine warmherzige und turbulente Geschichte, in der leise | |
Sozialkritik anklingt: Mimmis alleinerziehende Mutter malocht am Berliner | |
Flughafen Tempelhof – damals der verkehrsreichste Flughafen Europas. | |
Aufgrund des fehlenden Ehemannes und wohl auch der jüdischen Abstammung | |
wegen ist sie tagtäglich dem boshaften Getuschel der Nachbarinnen | |
ausgesetzt. Mimmis vermisster Vater wird im Laufe der Handlung durch die | |
Freundschaft zum (männlichen) Marsupilami ersetzt. | |
Auf den Berliner Straßen kündigt sich bereits die düstere Zeit des | |
Nationalsozialismus an. Das Marsupilami, jederzeit für einen Schabernack | |
gut, mischt derlei unliebsame Zeitgenossen intuitiv auf, wirft etwa eine | |
Truppe Braunhemden über den Haufen, ohne dass diese verstehen können, was | |
ihnen da widerfuhr. | |
## Grüße an Kollegen | |
Dezentere Anspielungen widmet Flix seinen künstlerischen Vorfahren, die zur | |
Handlungszeit gerade aktuell waren: So erinnert ein größeres Panel, das | |
Figuren um eine Litfasssäule zeigt, an das heute legendäre Buchcover des | |
[5][Illustrators Walter Trier] zu Erich Kästners „Emil und die Detektive“, | |
und auch Erich Ohsers (genannt e. o. Plauen) aus den 30er Jahren stammende | |
„Vater und Sohn“-Geschichten sind in den detailfreudigen Panels zu | |
entdecken. | |
Passenderweise verirren sich Mimmi und das Urwaldwesen auch einmal in ein | |
Nachtlokal namens „Dschungel“ – eine Reminiszenz an das freizügige | |
Nachtleben Berlins in den 1920ern wie auch an die gleichnamige Diskothek | |
aus den 80ern. Natürlich darf auch ein der Comicfigur Spirou ähnelnder | |
Hotelpage nicht fehlen, der am „Hotel Zoo“ eine Wagentür öffnet, durch die | |
das Marsupilami schlüpft. | |
Eine gute Idee des Zeichners ist auch die Ansiedlung der Geschichte im | |
Winter, sodass er seinem Berlin stimmungsvolle Impressionen abgewinnen | |
kann: neben dem Naturkundemuseum eine vereiste Spree oder eine trubelige | |
Straße am Alexanderplatz. | |
Der Universalgelehrte Alexander von Humboldt, der im Einführungskapitel | |
eine Hauptrolle spielt, wird frech als geckenhafter Angeber dargestellt, | |
der ohne Gewissensbisse Kulturgut einsammelt, um es später in seinem Museum | |
präsentieren zu können. Damit schafft Flix den Bogen zur Berliner | |
Gegenwart, in der die Debatte über koloniale Raubkunst im Humboldt-Forum | |
weiterhin köchelt. | |
Sein abenteuerlich-witziger Comic bietet aber vor allem eins: | |
vortrefflichen Lesespaß. „Das Humboldt-Tier“ passt sich gut in den Kosmos | |
jenes belgischen Verlages Dupuis ein, der Spirou, Fantasio, das Marsupilami | |
und zahlreiche weitere Figuren wie „Die Schlümpfe“ oder „Lucky Luke“ | |
hervorbrachte, die bis heute Kinder wie Erwachsene erfreuen. | |
22 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ralph Trommer | |
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