# taz.de -- Grabungen im Zentrum von Winsen: Tonpfeifen aus dem 30jährigen Kri… | |
> Im niedersächsischen Winsen erkunden Archäologen Bodenschichten im | |
> Stadtzentrum. Ihr Interesse sind die Baustrukturen der mittelalterlichen | |
> Stadt. | |
Bild: Bis November ist noch Zeit: Grabungen auf dem Kirchvorplatz der St. Marie… | |
WINSEN taz | Mitten im Stadtzentrum von Winsen (Luhe) sitzen Menschen in | |
der prallen Sonne an runden Tischen und trinken ihren morgendlichen Kaffee | |
neben menschlichen Überresten. Jahrhunderte alte Steine und Mauerwerk ragen | |
aus dem freigelegten Areal vor der St. Marien-Kirche hervor. Hier gräbt ein | |
sechsköpfiges Team des Archäologischen Museums Hamburg seit Mitte Juni nach | |
Fundament- und Mauerresten eines alten Rathauses, eines Glockenturms und | |
eines Friedhofs. Die Archäologen hoffen, in der historischen Altstadt von | |
Winsen Erkenntnisse über die mittelalterliche Geschichte der Stadt zu | |
erlangen. | |
Dabei graben sie sich vorsichtig durch verschiedene Bodenschichten und | |
Epochen – möglichst, ohne eventuelle Funde, die unter der Erde warten | |
könnten, zu zerstören. Aber viel Zeit hat das Team nicht: Bis November | |
müssen die Grabungen abgeschlossen sein, denn die Stadt plant eine | |
Sanierung des Areals. Für das Projekt „Winsen 2030“ soll ein Wasserspiel | |
auf dem Gelände gebaut werden. | |
Bereits im vergangenen Jahr tauchten bei Bauarbeiten Überreste einer Mauer | |
des alten Winsener Rathauses auf. Daraufhin untersuchte das Archäologische | |
Museum Hamburg im März das Areal im Vorfeld – und wurde fündig: Die | |
Forscher*innen stießen auf weitere historische Mauer- und Fundamentreste | |
und Bestattungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Bei solchen historischen | |
Funden handelt es sich um sogenannte Bodendenkmale. Sie dürfen nicht | |
einfach durch Bauvorhaben zerstört werden. | |
Nur aus diesem Grund können die Archäologen überhaupt Teile des | |
historischen Bodendenkmals aus der Erde holen, wie Grabungsleiter Jochen | |
Brandt vom Archäologischen Museum Hamburg erklärt: „Würde hier nichts Neues | |
gebaut werden, müssten wir die Fundamente und Mauern unter der Erde | |
lassen.“ Das Grabungsteam geht dabei auch nur so tief, wie gebaut werden | |
soll. Die darunter liegenden Schichten bleiben unter der Erde erhalten und | |
verborgen. | |
Aber warum ist der Kirchvorplatz für Forscher*innen so spannend? „Wir | |
hoffen auf neue Erkenntnisse über die Entstehung und die Baustrukturen des | |
Mittelpunktes der mittelalterlichen Stadt Winsen,“ sagt Brandt. Einiges | |
wisse man bereits aus historischen Bauplänen und Urkunden. Allerdings | |
können diese Quellen nicht alle Rätsel lüften – auch weil das Winsener | |
Stadtarchiv im 16. Jahrhundert bei einem Brand vernichtet wurde. | |
Die Stadt Winsen ist bereits über 850 Jahre alt und spielte im Mittelalter | |
mit einem Umschlaghafen und einem Schloss, das vermutlich seit 1230 | |
besteht, eine wichtige Rolle im Landkreis Harburg. So gab es in Winsen auch | |
ein Franziskanerkloster, das aber 1528 aufgelöst wurde. Die gotische St. | |
Marien-Kirche ist im 15. Jahrhundert entstanden – und um sie herum | |
vermutlich das Rathaus, der Glockenturm und der [1][Friedhof]. | |
Archäologe Brandt sagt: „Das Rathaus war ein wichtiges Gebäude im | |
Mittelalter.“ Auch darum sei die Suche nach neuen Erkenntnissen so | |
spannend. Zumal es offenbar verschiedene Bauten gab: Das erste in | |
historischen Aufzeichnungen erwähnte Rathaus brannte 1585 bei einem | |
Stadtbrand ab und wurde wieder aufgebaut. 42 Jahre später, im | |
[2][Dreißigjährigen Krieg], fiel es erneut einem Feuer zum Opfer. 1629 | |
errichtete die Stadt Winsen das Rathaus abermals neu. Es blieb bis 1928 | |
erhalten. | |
Zwei Meter tief wollen die [3][Archäologen] nach den Überresten des alten | |
Rathauses graben. Bereits jetzt haben sie einige Funde gemacht. Brandt und | |
sein Team sind auf Mauerüberreste gestoßen, die sich in ihrer Bauweise von | |
den gefundenen Überresten des Baus von 1629 unterscheiden. „Das könnte | |
daraufhin deuten, dass wir hier auch etwas von dem Rathaus vor 1627 | |
gefunden haben,“ vermutet Brandt. Erst vor ein paar Tagen ist das Team auf | |
ein Feldsteinpflaster gestoßen, das innerhalb der alten Rathaus-Mauern | |
liegt. Das Team hat auch schon etliche Ton- und Keramikscherben entdeckt. | |
Was das alles zu bedeuten hat, werden die Archäologen in einer Auswertung | |
ausführlich analysieren, die im Anschluss an die Ausgrabung ansteht. Brandt | |
und sein Team säubern alle Funden gründlich und machen von allem Fotos. | |
Mithilfe moderner Grabungstechnik wollen die Forscher so viel Information | |
wie möglich gewinnen. Dafür verwenden sie eine Drohne, 3-D-Vermessung und | |
eine Software, die aus verschiedenen Messpunkten ein Bild berechnen kann. | |
Aber nicht nur das Rathaus ist von Interesse für die Forscher: Direkt neben | |
dem Rathaus stand ein 50 Meter hoher Glockenturm. Brandt erklärt, dass das | |
Bauwerk die Kirchenglocken für die St. Marien-Kirche trug, die damals noch | |
keinen eigenen Turm hatte. Um 1578 wurde der Glockenturm zum ersten Mal in | |
einer Bauakte erwähnt. „Der Turm muss damals der größte im Kreis Harburg | |
gewesen sein“, sagt der Kreisarchäologe. Aber auch der Glockenturm ist | |
mindestens dreimal abgebrannt: Neben den Bränden, die auch das Rathaus | |
ereilten, schlug 1822 ein Blitz ein. 1837 hat die Stadt den Turm dann | |
abgebrochen. | |
Zwischen Kirche und dem ehemaligen Rathaus lag ein Friedhof. 600 Jahre | |
lang, bis 1829, wurde die Fläche für Bestattungen genutzt. „Das war der | |
Bestattungsort schlechthin, man wollte als gläubiger Christ bei einer | |
[4][Kirche] beerdigt werden,“ sagt Brandt. Darum sei der Friedhof sehr voll | |
gewesen. | |
Bereits jetzt hat das Grabungs-Team dort viele Knochen, die eng beieinander | |
liegen, freilegen können. Der Grabungsleiter sagt: „Für uns ist auch hier | |
besonders die Baustruktur spannend, aber auch die Mentalitätsgeschichte | |
hinter dem Friedhof ist interessant.“ Brandt vermutet, dass die Bestatteten | |
nicht sehr tief unter der Erde gelegen haben dürften. Oft müssten die | |
Bestatter auf menschliche Überreste gestoßen sein – und das alles nur ein | |
paar Meter vom Rathaus entfernt. | |
Mit welchen weiteren Erkenntnissen die Archäologen im November den | |
Kirchvorplatz in Winsen verlassen werden und ob es dann eine Ausstellung | |
geben wird, weiß Brandt noch nicht. Aber es tauchen immer wieder neue | |
Gegenstände auf: „Wir haben viele Tonpfeifen gefunden, die vor allem | |
während des Dreißigjährigen Kriegs geraucht wurden,“ erzählt der | |
Archäologe. Während er spricht, rattert schon eine Maschine des | |
Sanierungsprojekts „Winsen 2030“ los, die um das Areal bereits mit | |
Pflastersteinarbeiten begonnen hat. | |
4 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Emily Kietsch | |
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