# taz.de -- Kirchenfundamente im Watt gefunden: Rungholt gab es wirklich | |
> Im Wattenmeer untersucht ein interdisziplinärer Forschungsverbund Reste | |
> einer Siedlungslandschaft. Deren Untergang war zum Teil menschengemacht. | |
Bild: Vor über 100 Jahren fand Landwirt Andreas Busch Rungholter Keramik im Wa… | |
OSNABRÜCK taz | Es gibt Orte, die sind von Legenden umwoben. Der | |
mittelalterliche Hafen und Handelsplatz Rungholt zum Beispiel, bei Pellworm | |
im nordfriesischen Wattenmeer, 1362 in einer Sturmflut versunken. Bis | |
heute, heißt es, seien die Glocken seiner Kirche unter Wasser zu hören. | |
„Heut bin ich über Rungholt gefahren / die Stadt ging unter vor fünfhundert | |
Jahren“, dichtete Detlev von Liliencron 1883, „Noch schlagen die Wellen da | |
wild und empört / wie damals, als sie die Marschen zerstört.“ Liliencron | |
verteufelt die Nordsee zur „Mordsee“. Aber was er in seiner | |
überdramatischen Ballade „Trutz, blanke Hans“ zur Abstrafung des Menschen | |
durch die Natur stilisiert und verklärt, ist keine reine Fiktion. Rungholt | |
liegt dort draußen, im Watt. Die Frage ist nur, wo. | |
Ein naturwissenschaftlich-archäologischer Verbund aus Forschenden der | |
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), der Johannes | |
Gutenberg-Universität Mainz (JGU), des Zentrums für Baltische und | |
Skandinavische Archäologie (ZBSA) und des Archäologischen Landesamts | |
Schleswig-Holstein (ALSH) hat dazu jetzt möglicherweise die Antwort | |
gefunden. | |
Seit Jahren ist er Rungholt auf der Spur. Er setzt Geophysik ein, um | |
mögliche Siedlungsspuren aufzuspüren und zu kartieren. Sedimentkerne werden | |
aus dem Boden gebohrt. Wo es sich besonders lohnt, bringt er, punktuell, | |
[1][archäologische Grabungen] nieder. Im Mai 2023 kam der Durchbruch: Bei | |
Hallig Südfall wurde eine mehrere Kilometer lange Kette von 54 Warften | |
entdeckt, künstlichen mittelalterlichen Siedlungshügeln. Eine davon trägt | |
die Fundamentreste einer großen Kirche. | |
## „Faszinierend und wunderschön“ | |
[2][Draußen im Watt zu sein], beschreibt Ruth Blankenfeldt, Archäologin am | |
ZBSA, als „faszinierend und wunderschön“. Von Nordstrand aus dauert es üb… | |
eine Stunde, bis das Team vor Ort ist, zu Fuß, mit Ballonreifen-Handwagen. | |
Und dann heißt es, schnell zu arbeiten, denn das Zeitfenster bis zur | |
nächsten Flut ist nur wenige Stunden kurz. | |
„Das ist ein Naturraum, der jeden Tag anders aussieht“, sagt Blankenfeldt | |
der taz. „Dass ich hier draußen arbeiten kann, ist ein Privileg.“ Von | |
Trinkhornbeschlägen erzählt sie und einem großen Kessel, von Importkeramik | |
und Schlittschuhen aus Knochen. | |
Ob die Kirche nun wirklich die Kirche von Rungholt ist? „Für uns steht der | |
Name ,Rungholt' für diese ganze Kulturlandschaft hier draußen“, sagt | |
Blankenfeldt. Hat sie genug Fantasie, sich den 40 m langen Kirchenbau | |
vorzustellen, wenn sie draußen im Watt steht? „Das fällt mir schwer“, gibt | |
sie zu. „Aber seine Reste sind da.“ | |
Oft ist Wattarchäologie von Zufällen abhängig. Irgendwo wird etwas | |
freigespült, irgendwer bekommt es mit, und bevor es untersucht werden kann, | |
ist vielleicht schon wieder alles zugesandet. Das ist bei den | |
Rungholt-Prospektionskampagnen anders. Das Team ist mehrfach pro Jahr vor | |
Ort. | |
Fest steht mittlerweile: Der Untergang von Rungholt war teils die Schuld | |
des Menschen. Durch Trockenlegung, Ressourcenabbau und die Folgen des | |
Deichbaus entstand eine riesige Mulde. Das eingedrungene Wasser konnte | |
nicht wieder heraus. Die mehrtägige Sturmflut „Grote Mandrenke“ vor 660 | |
Jahren fand also gute Voraussetzungen vor. | |
Dennis Wilken, Geophysiker am [3][Institut für Geowissenschaften der CAU], | |
bezeichnet die interdisziplinäre Methodik, die im Watt vor Pellworm zum | |
Einsatz kommt, als „Modellsystem auch für andere Areale“. Die | |
Siedlungsfunde sind für ihn ein „Lehrstück aus dem Mittelalter“, sagt er | |
der taz. Wenn er den Geomagnetikwagen übers Watt schiebt, sieht er nicht | |
zuletzt „Parallelen zur Gegenwart, zum nutzungsorientierten Umgang des | |
modernen Menschen mit der Natur“. | |
Eins hört er allerdings nicht gern: dass er Atlantis gefunden hat. Auf | |
dieses mythenumrankte Indiana-Jones-Wort reagiert auch Hanna Hadler | |
allergisch, Geographisches Institut der JGU. „Leider liest man das | |
manchmal“, sagt sie der taz. „Aber das ist natürlich Unsinn.“ | |
Ihre Bohrkerne, sechs Zentimeter stark, verifizieren, was auf Wilkens Scans | |
zu sehen ist, geben Aufschluss über Entwässerungssysteme und | |
Hafenstrukturen, dienen aber auch der Analyse der Mikrofauna, der | |
Rekonstruktion der Landschaft. „Fußabdrücke finden“, nennt Hadler das. Auf | |
10 Quadratkilometer ist das Fundareal angewachsen. „Und bisher ist in keine | |
Richtung ein Ende zu erkennen“, sagt Hadler. | |
## Es war eine Hauptkirche | |
Auch mit dem Namen „Rungholt“ ist sie vorsichtig. „Wir betrachten das | |
sinnbildlich“, sagt sie und lacht ein bisschen. „Wir haben ja keine | |
Steinplatte ausgegraben, auf der das steht.“ Das Fundareal bezeichnet sie | |
als „großes, wohlhabendes, großbäuerliches Siedlungsgefüge“. Die 600 | |
Quadratmeter große Kirche, der Mittelpunkt des Ganzen, sei allerdings | |
„wirklich einzigartig für dieses Gebiet, auch vom Erhaltungszustand her“. | |
Es ist eine Hauptkirche; auch mehrere kleinere sind gefunden worden. | |
Die Rungholt-Forschung ist nicht neu. Funde gab es schon vor einem | |
Jahrhundert. Aber so systematisch und technisiert wie jetzt ist das | |
unzugängliche Gebiet noch nie durchkämmt worden. Dabei muss das Team | |
vorsichtig sein. Zwar kommen nicht viele Menschen hierher. Aber jeder, der | |
hier etwas mitnimmt, auch wenn der Fund nachher gemeldet wird, GPS-Daten | |
inklusive, verfälscht das Ergebnis. „Dann fehlt uns ja der | |
Fundzusammenhang“, sagt Hadler. Besser also, niemand bekommt mit, wohin | |
genau es dort draußen geht. | |
Derzeit hofft der Forschungsverbund auf eine weitere langfristige Förderung | |
der [4][Deutschen Forschungsgemeinschaft]. „Dann könnte das Team noch | |
interdisziplinärer werden“, sagt Blankenfeldt. „Zum Beispiel hätten wir | |
gern noch eine HistorikerIn mit dabei.“ Derzeit werden die Anträge | |
geschrieben. | |
19 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Besuch-bei-Grabungen-in-der-Naehe-von-Kiel/!5946102 | |
[2] /Forscher-ueber-das-Watt/!5781512 | |
[3] https://www.ifg.uni-kiel.de/de | |
[4] /Deutsch-russische-Zusammenarbeit/!5872696 | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
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