| # taz.de -- Mit der Familie an der dänischen Küste: Watt, wer bist du denn? | |
| > Unsere Autorin lauscht Wattgeschichten an der Nordsee. Sie lernt etwas | |
| > über tierische Superkräfte und Kackhaufen im Spaghettigewand. | |
| Bild: Die Pazifische Auster hat das Ökosystem im Wattenmeer durcheinandergewir… | |
| Wie ein fliegender Teppich tanzen die schwarzen Punkte am Abendhimmel. | |
| Hunderttausende Stare bewegen sich gemeinsam hin und her, driften | |
| auseinander, um ellipsenartig wieder übereinanderzuwalzen, ständig ändert | |
| der Schwarm seine Form. Sort Sol wird dieses ornamentale Himmelsballett auf | |
| Dänisch genannt. Schwarze Sonne. Über 30 Minuten lang organisieren sich die | |
| Stare so, um Feinde abzuwehren. | |
| Am nächsten Morgen stehe ich knöcheltief in der Nordsee und denke an das | |
| Naturschauspiel, das nachwirkt [1][wie eine Psychosubstanz]. Salziger Wind | |
| weht mir ins Gesicht. Vor mir liegt das dänische Wattenmeer: eine | |
| Matschwüste, die sich in Wellen weit in den Horizont zieht, gebremst von | |
| einem schwarzen Strich – Austernbänke, auf denen sich Robben sonnen. | |
| Wir machen Familienurlaub in Dänemark, und während die zwei Jugendlichen | |
| neben mir und ihrem Vater in den Salzwiesen rumstochern und sich gackernd | |
| die Blätter des Löffelkrauts – sie schmecken nach Wasabi – gegenseitig in | |
| die Münder schieben, frage ich mich, wie lange dieses Idyll wohl anhalten | |
| wird. | |
| Hier in Ribe, am nördlichen Ende des über 500 Kilometer langen | |
| Wattenmeergürtels vor der Nordseeküste, scheint mir die Welt noch im | |
| Gleichgewicht. In diesem Ökosystem, wo Ebbe und Flut zusammenkommen, haben | |
| über 10.000 Tier- und Pflanzenarten ihre ökologische Nische gefunden. | |
| Die Miesmuschel, die sich an Vögel haftet, um sich zu reproduzieren. Der | |
| grüne Meerringelwurm, der bis zu 200 Paddelfüße besitzt, 40 Zentimeter lang | |
| werden kann und bei Vollmond Spermien über den Meeresgrund abregnen lässt. | |
| ## Ausgeprägte Jawlines | |
| Ich könnte ewig stehen bleiben, in die Weite blicken und den | |
| [2][Watt-Geschichten lauschen], die Clemens erzählt. Dass der 19-Jährige | |
| erst seit wenigen Monaten sein Freies Soziales Jahr im Nationalpark | |
| Wadehavet macht, merkt man ihm nicht an. Geduldig beantworte er unsere | |
| Fragen, klärt unterhaltsam auf. „Bio-Leistungskurs eben“, lächelt er. | |
| Im Augenwinkel sehe ich die beiden Teenies. Ihre schon sehr erwachsenen | |
| Körper stecken in Gummihosen mit integrierten Gummistiefeln. Mit lautem | |
| Jauchzen springt der 17-Jährige hoch und landet in der überdimensionalen | |
| Pfütze. | |
| Der jüngere Bruder, von oben bis unten voller Salzwasser, zieht nach. Ein | |
| schriller Schrei, dann landet auch er im knietiefen Wasser und beginnt | |
| sogleich, in weiten Schritten hindurchzuwaten. Für den Moment sind sie | |
| wieder 5 und 2 Jahre alt: keine Sorge um die Schule, den nächsten Snap oder | |
| die Jawline. Obwohl [3][bei beiden ausgeprägt, also ultraattraktiv], muss | |
| die Kieferpartie täglich trainiert werden. | |
| Aber hier im Wattenmeer greift kein Algorithmus. Hier hat der Mond das | |
| Zepter in der Hand. Oder eben Clemens. Souverän zeichnet er Mond und Erde | |
| in den nassen Sand und erklärt, wie es zu den Gezeiten kommt. Auch zum | |
| Stich mit der Mistgabel setzt er professionell an und zieht den ersten | |
| Wattwurm aus dem Boden. „Ihhhhh“, raunt der Chor. „Joa“, gibt Clemens | |
| dezent zurück. | |
| ## Der Wattwurm ist ein echter Star | |
| Dann erzählt er von den Spaghettitürmchen auf dem Sandboden: „Der Wattwurm | |
| nimmt mit dem Rüssel Sand auf, filtert organische Stoffe heraus und | |
| scheidet den unverdaulichen Sand durch den After wieder aus – und zwar nach | |
| oben. Die Schlammkegel sind nichts anderes als Kackehaufen.“ „Ihhh“, | |
| kommentiert die Berliner Jugend erneut, obwohl sie in Sachen Hundehaufen | |
| einiges gewöhnt ist. „Und weil der Wattwurm bei Ebbe aufhört, zu atmen, ist | |
| er ein echter Star!“ | |
| Sechs Stunden Luft anhalten, das imponiert den Jungs. Weil das Hämoglobin | |
| des Wattwurms viel mehr Sauerstoff als etwa das menschliche Hämoglobin | |
| speichern kann, sind Zuchtbänke geplant. Für Blutspenden, Sauerstoffträger | |
| für Lungenkranke, aber auch Organtransplantationen könnte das aus dem | |
| Wattwurmblut gewonnene Hämoglobin verwendet werden. „Doping“, | |
| schlussfolgert der 17-Jährige und sieht sich bereits im Gelben Trikot durch | |
| die Gegend radeln. | |
| Derweil studiert der Jüngere die Austern, die den Meeresboden bedecken. Er, | |
| der Tiere liebt, hat schon einmal welche in Südafrika probiert. | |
| Runtergewürgt hat er den dicken weißen Schließmuskel, mit | |
| Worcestershiresauce. Dann noch einen, weil er dachte, es würde besser. | |
| Wurde es aber nicht. Am Oyster Trail werden die Austern dort in aller Früh | |
| von Schwarzen Hausangestellten aus dem Indischen Ozean gepflückt und den | |
| Touristen zum Frühstück präsentiert. | |
| Wie sehr die Verhältnisse auch hier in Dänemarks Südwesten nicht stimmen, | |
| zeigen mit einem Blick auf den Boden die handgroßen Austern, die dicht | |
| aneinandergekettet blau-weiß im Wasser schimmern. Seit die Pazifische | |
| Auster vor 40 Jahren einige Seemeilen vor Sylt zu Kulturzwecken ausgesetzt | |
| wurde, [4][hat sie sich rapide vermehrt und verdrängt Miesmuschel & Co]. | |
| Ihr harter Panzer ist das Problem. Die natürlichen Fressfeinde fehlen. „Der | |
| Austernfischer schafft das nicht“, sagt Clemens. | |
| Über 10 Millionen Zugvögel nutzen das Watt als Rastplatz. In den Dünen | |
| brüten Singvögel, Greifvögel und Eulen. Dennoch: Gegen die Delikatesse der | |
| Reichen ist niemand gewappnet. | |
| ## Kuraufenthalte als Asthmatikerin | |
| „Wer also der Nordsee etwas Gutes tun will, muss Austern sammeln, nicht nur | |
| zur Feinschmeckersaison von Dezember bis April!“, erklärt Clemens. In | |
| unsere Jackentaschen, in denen bereits Herzmuscheln, Schnecken und Seetang | |
| kleben, stecken wir die triefenden Kolosse. | |
| Mittlerweile hat sich das Wetter geändert. Die Laune auch. Es nieselt. Und | |
| der lautgestellte Videoanruf der Kinder mit der Freundesgruppe hat für | |
| einen Familiencrash gesorgt. Die Eltern sind derart konservativ, dass sie | |
| sich nicht vorstellen können, dass jede Impression sofort geteilt werden | |
| muss. | |
| Ich werfe einen bedauernswerten Blick hinüber zu Clemens und denke mir, | |
| dass Familien wirklich die nervigsten Gäste sind. Überhaupt ist es | |
| mühselig, über den Meeresboden zu gehen. Auch wenn das Meer in Ribe bei | |
| Hochwasser nur 90 Zentimeter steigt: Die massiven Muschelbänke, die wenige | |
| hundert Meter entfernt zu sein scheinen und unser Ziel waren, werden wir | |
| wohl nicht erreichen, bevor die Flut kommt. | |
| Ich erinnere mich an meine vielen Kuraufenthalte auf einer Nordseeinsel, wo | |
| ich gemeinsam mit anderen Asthmatikern stundenlang am Strand entlangging, | |
| ohne dass irgendjemand jemals das Gefühl hatte, irgendwann anzukommen. | |
| Vielleicht ein Grund, weshalb die „Willst du mit mir gehen?“-Frage oft auf | |
| Strandspaziergängen gestellt wurde. Mit Marcus aus Bamberg. Und Christian | |
| aus Koblenz. War das Panik oder Langeweile? | |
| ## „Im Nu ist die Orientierung weg.“ | |
| Mittlerweile haben sich die Priele gefüllt. In kleinen Strudeln tanzt das | |
| Wasser um die Gummistiefel. Das Friesenmädchen in mir checkt die Lage. Wo | |
| ist noch mal Norden, wo der Strand? „Pipikack“, trompetet der Vater der | |
| Söhne plötzlich neben mir. „Dit hätten wa ooch alleene jekonnt!“ und mei… | |
| die Wattwanderung. Auf Clemens’ Gesicht macht sich ein verschmitztes | |
| Lächeln breit. „Wollen wir zum Abschied noch ein Spiel spielen?“, fragt er. | |
| Einstimmiges Nicken. | |
| Clemens deutet mit seinem Finger auf die zehn Meter hohe Säule, die am | |
| Strand steht und auf der alle Sturmfluten seit 1634 markiert sind. „Ihr | |
| geht mit geschlossenen Augen hundert Schritte in diese Richtung.“ Als ich | |
| bei Schritt 94 die Augen öffne, liegen die Jungs bereits grölend am Boden. | |
| Jeder ist in eine andere Richtung gewandert. Der Vater steht kurz vor der | |
| Wasserkante. | |
| Clemens grinst – und erklärt, dass man sich so ähnlich auch bei Nebel | |
| bewegen würde. „Im Nu ist die Orientierung weg.“ Zum Abschied ruft er uns | |
| hinterher: „Immer schön zusammenbleiben!“ Da sitzen die Jungs schon auf der | |
| Bank aufm Deich, umgeben von dicken Schafen, und checken ihre Nachrichten. | |
| Der eine brüllt wieder auf: Er wurde für die „Ice Bucket Challenge“ | |
| erwählt. | |
| 25 May 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lena Reich | |
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