# taz.de -- Forscher über das Watt: „Im Watt ist viel Flexibilität“ | |
> Karsten Reise ist einer der versiertesten Watt-Kenner der Welt. Ein | |
> Gespräch über Fußball im Schlick und sein Faible für den Wattwurm. | |
Bild: Im Schlick wird's erst richtig interessant: Karsten Reise schaut mal nach | |
taz: Herr Reise, was ist der erste Begriff, der Ihnen einfällt, wenn Sie | |
ans Wattenmeer denken? | |
Karsten Reise: Wattwurm! | |
Warum gerade der? | |
Für das Watt ist der Wurm sehr charakteristisch, und ich habe viele | |
Forschungsabenteuer mit ihm erlebt. Klar, man kann nicht mit ihm kuscheln … | |
Welche Abenteuer waren das denn? | |
Ich habe mich zum Beispiel gefragt, wie Kleintierchen, die tief im | |
schwarzen Wattboden stecken, an ihren Sauerstoff kommen. Der Wattwurm, | |
stellte sich heraus, pumpt durch seine Wohngänge aktiv Wasser von oben nach | |
unten. Das ist für sie wie eine Sauerstofftankstelle. | |
Meine erste intensivere Begegnung mit dem Watt war das Buch „Das Rätsel der | |
Sandbank“ von Robert Erskine Childers. Was war Ihre? | |
Dieses wunderbare Buch hab’ ich natürlich auch gelesen, aber das kam erst | |
später. Bei mir beginnt meine Beziehung zum Watt mit der Kindheit. Seit | |
meinem achten Lebensjahr war ich regelmäßig auf der Insel Sylt. Wir haben | |
da im Schlick Fußball gespielt. Mit richtigem Sport hatte das nicht viel zu | |
tun, da sind uns die Algen um die Ohren geflogen. Aber so was vergisst man | |
nicht. | |
Heute leben Sie dort, ganz im Norden, in List. Wie weit ist das Watt von | |
Ihrer Haustür weg? | |
Wenn ich aus dem Fenster schaue, liegt es direkt vor mir. Bis zum Meer sind | |
es 50 Meter. | |
Manche machen ja eine Philosophie daraus, wie sie ins Watt gehen: barfuß | |
oder in Strandsocken, Neoprenschuhen oder Gummistiefeln. Wie ist das bei | |
Ihnen? | |
Im Winter trage ich gefütterte Gummistiefel. Jetzt, im Sommer, gehe ich am | |
liebsten barfuß. Aber seit rund 20 Jahren ist einem das vor Sylt ziemlich | |
verleidet. Da haben sich die pazifischen Austern ausgebreitet, und deren | |
Schalenränder sind rasiermesserscharf. Wenn ich in einer solchen Gegend | |
unterwegs bin, nehme ich Neopren-Füßlinge. | |
In Ihrem neuen Buch „Das Watt: erlebt, erforscht und erzählt“, schildern | |
Sie, wie faszinierend es für Sie war, als Sie als Kind zum ersten Mal in | |
der Nordsee geschwommen sind. | |
Dieser Auftrieb, durch ihren Salzgehalt! Damals hat mich die Nordsee für | |
sich gewonnen; seither gehe ich sehr oft und gern in ihr schwimmen. Dadurch | |
habe ich auch keine Angst, wenn ich weit draußen im Watt bin und die Flut | |
schneller kommt, als mir lieb ist. Dann muss ich eben mal durch einen Priel | |
zurückschwimmen. Kein Problem. | |
Schreiben Sie gern so persönlich? | |
Ich habe viel geschrieben, meist wissenschaftliche Fachpublikationen, und | |
da gibt es sehr enge formale Vorgaben. Aus diesem Korsett wollte ich mal | |
ausbrechen. Diesmal habe ich einfach geschrieben, wie ich Lust hatte, und | |
der Verleger hat mir freie Hand gegeben. | |
Sie sind emeritierter Zoologe und Meereskundler, sind als Leiter der | |
Wattenmeerstation Sylt des Alfred-Wegener-Instituts in den Ruhestand | |
gegangen. Aber Sie forschen weiter. | |
Ja, ich bin in der glücklichen Lage, dass ich dort noch weiterarbeiten | |
kann, mit Zugang zum Labor und allem. Die Station zu leiten, war für mich | |
ohnehin eher ein Gräuel. All das Administrative, Organisatorische! Ich war | |
froh, mich wieder ganz auf die Forschung konzentrieren zu können. | |
Viele Rätsel des Watts sind noch ungelöst, sagen Sie. Geben Sie uns ein | |
Beispiel? | |
Der Wattboden ist, wie der Meeresboden generell, unergründlich. Da gibt es | |
immer wieder neue Erkenntnisse, etwa, dass Bakterien elektrische Leitungen | |
legen können. Oft spielt bei diesen Entdeckungen der Zufall eine große | |
Rolle. Vor rund einem Jahr wollte ich weit draußen im Watt zu einer | |
Austernbank, aber auf einmal war Schlick, wo sonst Sand gewesen war, und | |
auf dem Schlick sah ich einen grünen Flaum. Ich hatte keine Ahnung, was das | |
war, also habe ich eine Probe mitgenommen. Unterm Mikroskop sah ich dann: | |
Es war eine Schlauchalge. Wo sie auftaucht, entsteht aus Sandwatt | |
Schlickwatt. Sie verdrängt auch den von mir so geliebten Wattwurm. Offenbar | |
haben wir Menschen diese Alge eingeschleppt, durch Schiffsverkehr, durch | |
Austernimporte vielleicht. Wo sie herkommt, ist bis heute rätselhaft. | |
Wenn Sie das Watt als „Abenteuer“ bezeichnen, tritt Leidenschaft zutage. | |
Sie lieben diesen Naturraum, oder? | |
Ja! Aber ich bin erst nach einem langen Umweg dahin gekommen, das auch | |
wissenschaftlich zu tun. Das war während meines Biologiestudiums, als | |
Gaststudent in den USA. | |
Apropos Schlauchalgen und Austern: Schmerzt es Sie nicht, dass sich das | |
Watt so sehr verändert, durch Einflüsse des Menschen? Müsste das | |
Wattenmeer, immerhin ja das größte Watt weltweit, nicht viel konsequenter | |
geschützt werden? | |
Der Naturschutz hat bereits sehr viel erreicht! Noch vor einem halben | |
Jahrhundert galt das Wattenmeer als völlige Ödnis, als nutz- und wertlos, | |
man dachte an Eindeichung. Seither hat ein völliges Umdenken stattgefunden. | |
Das ging von den Niederländern aus, die haben die Dänen ins Boot geholt, | |
auch uns Deutsche. Heute ist das Watt Unesco-Weltnaturerbe. | |
Woran Sie maßgeblich mitgewirkt haben. | |
Das war wirklich ein großer Erfolg. | |
Dennoch ist das Watt starken Belastungen ausgesetzt. Durch die Verklappung | |
von Millionen Tonnen Sediment und Schlick der Hamburger Elbvertiefung zum | |
Beispiel. | |
Die Vertiefung ist natürlich ein einziges Desaster! Die Elbe wird dadurch | |
total ruiniert. Für die kommenden Generationen ist das eine ganz | |
schreckliche Hypothek. Aber im politischen Überlebenskampf werden offenbar | |
nur kurzlebige Konzepte belohnt. Klar, es heißt immer, dass es keine | |
Alternative zur Vertiefung gibt. Aber das ist Quatsch; für die großen | |
Containerschiffe ließe sich zum Beispiel draußen im Meer ein schwimmender | |
Hafen bauen. Außerdem heißt es, das sei jetzt definitiv die letzte | |
Elbvertiefung gewesen. Aber das ist bestimmt genauso verlogen wie alle | |
anderen Male davor. | |
Ein Problem ist ja auch, dass das Unesco-Schutzgebiet nicht bis direkt ans | |
Ufer reicht. | |
Ja, da ist ein schmaler Streifen ausgespart, damit der Natur- nicht den | |
Küstenschutz durchkreuzt. Auch die großen Flußmündungen, von der Elbe bis | |
zur Ems, sind ausgeklammert, aus wirtschaftlichen Interessen. | |
Küsten- und Naturschutz beharken sich gegenseitig. | |
Oft ist das so. Aber in den letzten Jahren hat sich Bedeutendes getan. Etwa | |
an der Küste von Schleswig-Holstein, durch eine Regierungserklärung, in der | |
steht, dass sich das Land für das Watt „verantwortlich“ fühlt. Da steckt | |
viel dahinter. Vorher hat man immer nur die Deiche verstärkt, immer | |
monströser. Der Naturschutz dachte, der Küstenschutz macht die Küste kaputt | |
– was teils ja auch stimmt. Und der Küstenschutz dachte, der Naturschutz | |
ist bloß lästig. Jetzt sehen beide ihr gemeinsames Interesse. | |
Welches ist das denn? | |
Nehmen wir an, dass eine Sturmflut kommt. Bevor ihre Wellen an die Deiche | |
klatschen, gibt sie einen Großteil ihrer Wucht im Wattgürtel ab. Je mehr | |
Watt vor den Deichen, desto besser. Und je mehr Watt, desto mehr | |
Biodiversität, desto mehr Nahrung auch für die Millionen von Vögeln, die | |
hier Rast machen auf ihren Flügen von den afrikanischen | |
Überwinterungsgebieten in die arktischen Brutregionen. Schön wäre, wenn die | |
Wattufer naturfreundlicher würden durch mehr Sandaufspülungen. Oft sind die | |
ja durch Stein- und Betonbefestigungen völlig verhunzt. So würden neue | |
Buchten und Lagunen entstehen. | |
Viele erleben das Watt ja als mystischen, magischen Raum. Können Sie | |
verstehen, warum das so ist? | |
Häufig trifft man dort draußen ganz wunderbare Stimmungen an. Vor allem, | |
wenn man früh am Morgen unterwegs ist oder in der Abenddämmerung. Man nimmt | |
dann die Vogelrufe viel intensiver wahr: den sehnsuchtsvollen Ruf des | |
Goldregenpfeifers, das Flöten des Brachvogels. Das ist schon herrlich. Oft | |
hat man auch eigenartige Erlebnisse da draußen. Kürzlich habe ich zwei | |
junge Seehunde gesehen, die sich zu verbergen versuchten, als ich kam. Sie | |
wollten tauchen, aber sie befanden sich in einer Wattpfütze, die kaum | |
knietief war; irgendwas von ihnen guckte also immer raus. Das war lustig – | |
und für die beiden wohl eine Lehre fürs Leben. | |
Aber Ihr Blick bleibt auch dann der eines Wissenschaftlers? | |
Ich empfinde mich schon als beinharten Naturwissenschaftler. Esoterische | |
Ansätze habe ich nicht. Andererseits weiche ich von vielen | |
Naturwissenschaftlern ab, die die Natur als ein vorhersehbares Regelwerk | |
verstehen. Ich akzeptiere, dass Außergewöhnliches geschehen kann, indem | |
Umstände zusammentreffen, die einander sonst nicht begegnen. Das ist, als | |
ob dir auf der Autobahn ein Geisterfahrer entgegenkommt. Ist natürlich | |
nicht schön, aber dadurch ergibt sich Neues. Oft stellen solche Zufälle | |
ganz entscheidende Weichen. Gerade im Watt sieht man viel Flexibilität. | |
Alles verändert sich, ständig. | |
Nehmen wir an, nach einem menschlichen Eingriff wandelt sich das Watt. Es | |
danach einfach in Ruhe zu lassen, hilft nicht, sagen Sie. Es gibt keine | |
Rückfederung in den Ursprungszustand? | |
Dass dieses Gefüge nach einer Störung zu dem zurückkehrt, was es früher mal | |
war, ist eine Illusion. Wenn wir etwas gestört haben, wird es nie wieder, | |
wie es vorher war. Alles hinterlässt Spuren. Wir können dem Watt viel mehr | |
zumuten, als wir gewöhnlicherweise denken. Wir können nur nicht erwarten, | |
dass es dann bleibt, wie es ist. | |
Detlef von Liliencron schrieb einst: „Heute bin ich über Rungholt gefahren. | |
Die Stadt ging unter vor 600 Jahren. Noch schlagen die Wellen da wild und | |
empört …“ Die Nordsee bezeichnet er als Mordsee. Was bringt das in Ihnen | |
zum Schwingen? | |
Gegenwehr! Liniencron ist typisch 19. Jahrhundert. Er hat aufgegriffen, wie | |
man damals dachte: Die Natur ist feindlich und niederträchtig, und man muss | |
sich gegen sie verteidigen. Noch heute spricht man im Küstenschutz von | |
„wehrhaften“ Deichen. Das hat durchaus militärische Konnotationen. Bis | |
heute ist das tief in der Küstenbevölkerung verwurzelt: Wenn ich einen | |
hohen Deich baue, brauche ich ans Meer nicht mehr zu denken. | |
Eine fatale Ignoranz. | |
Ich möchte Zugewandtheit zum Meer evozieren. Unsere Emissionen haben dazu | |
geführt, dass der Meeresspiegel steigen wird, über Jahrhunderte, | |
unaufhaltsam, und irgendwann können wir uns nicht mehr hinter unseren | |
Deichen verkriechen. Wenn wir das verdrängen, gehen wir baden. | |
Apropos: Geht es heute noch raus ins Watt? | |
Ich habe nachher noch eine Besprechung, und dann ist Hochwasser, dann gehe | |
ich schwimmen. Morgen früh, bei Niedrigwasser, begrüße ich draußen meine | |
Schlauchalgen und frage sie, was in ihnen vorgeht. | |
19 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
## TAGS | |
Nordsee | |
Naturschutz | |
Natur | |
Küste | |
Schleswig-Holstein | |
Archäologie | |
Fotografie | |
Robert Habeck | |
Umwelt | |
Elbvertiefung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kirchenfundamente im Watt gefunden: Rungholt gab es wirklich | |
Im Wattenmeer untersucht ein interdisziplinärer Forschungsverbund Reste | |
einer Siedlungslandschaft. Deren Untergang war zum Teil menschengemacht. | |
Dokumentation „Der Atem des Meeres“: Fremde vertraute Welt | |
Der Filmemacher Pieter-Rim de Kroon hat einen außergewöhnlichen Film über | |
das Watt gedreht – mit eindrucksvollen Bildern und ganz ohne Kommentar. | |
Wahlkampf 2021: Wattwandern mit Robert Habeck | |
Der Co-Chef der Grünen reist die Küste entlang und spricht übers Klima. Was | |
sagt er zur Flutkatastrophe? Kann er seine Partei aus dem Umfragetief | |
retten? | |
Gasbohren im Wattenmeer: Borkum will keinen Bohrturm | |
Ein niederländischer Konzern will vor der Insel Borkum Erdgas fördern – | |
Naturschutzverbände und betroffene Kommunen kritisieren das Vorhaben. | |
Folgeprobleme der Elbvertiefung: Auf Sand gebaut | |
Die vertiefte Elbfahrrinne ist nach 20 Jahren frei für den Schiffsverkehr. | |
Doch niemand will den Schlick, der beim ständigen Freibaggern anfällt. |