# taz.de -- Dokumentation „Der Atem des Meeres“: Fremde vertraute Welt | |
> Der Filmemacher Pieter-Rim de Kroon hat einen außergewöhnlichen Film über | |
> das Watt gedreht – mit eindrucksvollen Bildern und ganz ohne Kommentar. | |
Bild: Brillante Bilder: Zum Kinostart von „Der Atem des Meeres“ ist auch ei… | |
Wie zerstörerisch Wasser sein kann, wenn das Gleichgewicht der Ökosysteme | |
gestört ist, hat gerade die Flutkatastrophe in Westdeutschland deutlich | |
gemacht. Wie komplex und feingliedrig solch ein Ökosystem sein kann, zeigt | |
der niederländische Filmemacher Pieter-Rim de Kroon in seinem | |
Dokumentarfilm „Der Atem des Meeres“, der am 29. Juli in die Kinos kommt. | |
16 Monate hat er dafür im Wattenmeer gedreht, dem größten Marschland des | |
Planeten, das sich von den Niederlanden bis nach Dänemark hinzieht. Und da | |
Landesgrenzen hier kaum eine Rolle spielen, ignoriert er sie völlig. Er hat | |
seinen Film so montiert, dass er mit seinen Aufnahmen hin- und herspringt, | |
und die wenigen Dialoge in den Landessprachen hat er auch nicht | |
untertitelt. | |
Dabei ist er aber durchaus neugierig darauf, wie die Menschen am und vom | |
Wattenmeer leben. Er zeigt Krebsfischer, eine Yoga-Trainerin am Strand, | |
Tourist*innen beim Wattwandern, zwei Naturschützerinnen, die Vögel | |
beringen, und Kinder beim Spielen am Strand. Er zeigt sie, aber er erklärt | |
nichts. Es gibt keinen Kommentar, keine Zwischentitel, keine zusätzlichen | |
Informationen zum Gesehenen. Denn für ihn geht es im Kino um „Gefühle und | |
Erfahrungen“, und Erklärungen zerstören dabei nur die Magie. | |
„Der Atem des Meeres“ gehört zu den Filmen, die nur im Kino ihre Kraft | |
entfalten können. Er ist so brillant fotografiert, dass zeitgleich zum | |
Kinostart auch ein Fotoband mit dem Titel „Silence of the Tides“ | |
veröffentlicht wurde, der nur aus Filmstills, also aus dem Film | |
herauskopierten Bildern besteht und dabei den Vergleich mit Büchern von | |
Naturfotograf*innen nicht scheuen muss. | |
Gleich mit den ersten Aufnahmen einer Eislandschaft im Watt, bei denen de | |
Kroon das Gemälde „Das Eismeer“ von Caspar David Friedrich zitiert, gelingt | |
es ihm, eine intensive und faszinierende Stimmung zu schaffen. Es ist eine | |
fremde Welt, die er uns zeigt. Auch wenn es im Film vertraute Bilder gibt | |
wie die von den spielenden Kindern am Strand oder Weihnachtsdekorationen | |
auf einer Insel, sind diese so sorgfältig komponiert und montiert, dass man | |
fast gezwungen wird, genauer hinzusehen. | |
Denn de Kroon arbeitet am liebsten mit einer statischen Kamera, also ohne | |
Schwenks und Fahrten. Und da er auch einen eher ruhigen Schnitt mit langen | |
Einstellungen bevorzugt, schaut man unwillkürlich genauer hin und bemerkt | |
etwa nuancierte Lichtwechsel oder Tiere, die sich weit weg am Rand des | |
Bildes bewegen. Bei Naturaufnahmen von kämpfenden Seelöwen oder Quallen, | |
Muscheln und Tintenfischen, die unter Wasser fressen und gefressen werden, | |
folgt er ihnen dagegen mit der Kamera immer so beweglich wie möglich. Da | |
ist dann der Disclaimer im Abspann „no animals were harmed in the making of | |
this film“ nicht mehr glaubwürdig. | |
De Kroon ist ein Stilist (in seiner Dokumentation „Hollands Licht“ | |
analysierte er das Licht in den Gemälden der holländischen Maler des 17. | |
Jahrhunderts) – aber kein Purist. Er manipuliert seine Bilder, vor allem | |
aber seinen Ton. Mit dem dreidimensionalen Tonsystem Dolby Atmos lässt er | |
es ordentlich knallen und nimmt dabei keine Rücksicht darauf, wie plausibel | |
etwa die Klänge bei Unterwasserkämpfen sind, die an Horrorfilme erinnern | |
und offensichtlich im Studio des Sounddesigners entstanden sind. | |
Manchmal übertreibt de Kroon dabei auch ein wenig, wenn er etwa die Bilder | |
von Soldaten, die in einer Übung einen Strand stürmen, nicht nur mit lautem | |
Gewehrfeuer, sondern auch noch mit Querschlägern, also den Tönen von echter | |
verschossener Munition untermalt. | |
Minimalistisch ist de Kroon dagegen beim Einsatz von Filmmusik. Er | |
verzichtet ganz auf die Arbeit von Filmmusiker*innen, nutzt aber | |
Improvisationen, die die Kirchenorganistin Birgit Wildeman auf der alten | |
Arp-Schnitger-Orgel auf der nordfriesischen Insel Pellworm einspielte. | |
Einmal hört man auch ein wenig Schlagermusik aus einem Radio und die | |
Blaskapelle von Texel spielt auf ihrem von einem Trecker gezogenen | |
Umzugswagen eine ihrer Fanfaren. Man sieht also bei jeder Note Musik im | |
Film, wo sie herkommt. | |
Denn de Kroon will nichts dem Wattenmeer Fremdes in seinem Film haben, | |
zeigt aber dafür auch solche extremen Eindringlinge und Fremdkörper wie das | |
niederländische Militär, das Angriffsflüge von Düsenbombern im Wattenmeer | |
abhält. De Kroon filmte hier im Cockpit den Piloten und den Gegenschuss auf | |
das Ziel am Strand: einen alten Panzer, der mit viel Karacho und in | |
Zeitlupe von einer Bombe zerfetzt wird. | |
Das Wattenmeer ist bei ihm also keine heile Welt, sondern eine bedrohte | |
Weltnaturlandschaft, die zwar in Naturschutzgebieten bewahrt wird, aber | |
durch den Einfluss der Menschen immer extremer verändert wird. Er zeigt | |
aber auch Menschen, die im Einklang mit der Natur leben, und dabei ist es | |
kein Widerspruch, wenn sie die neuste Computertechnik nutzen. Eine | |
Forscherin fängt Zugvögel ein und schnallt ihnen kleine Sender an, sodass | |
sie genau ihre Reise bis zu den Nistplätzen in Grönland verfolgen kann. | |
Zwischen den Halligen fährt der Postbote Hanni mit Draisine auf den Gleisen | |
auf einem Damm hin und her, um die Post zu liefern. Mit seinem zotteligen | |
Bart entspricht er fast schon zu sehr dem Klischee vom knorrigen, | |
einsilbigen Inselmenschen, aber seine Bahnfahrt ist trotz all der Schiffe | |
und Boote im Film dessen schönstes Kinobild. | |
Flut und Ebbe sind für de Kroon das dramaturgische Leitmotiv des Films | |
–eben der „Atem des Meeres“. Mal überhöht er es symbolisch, wenn er etwa | |
die Pastorin von Pellworm zuerst bei einer Begräbnisfeier und später bei | |
einer Taufe zeigt. Das Kernstück seines Films ist aber eine Sequenz, in der | |
die sechs Stunden eines Gezeitenzyklus in 40 Sekunden komprimiert werden. | |
Nicht als Zeitraffer – wie aus vielen Naturfilmen gewohnt –, sondern | |
digital so geschickt bearbeitet, dass das Wasser scheinbar ganz natürlich | |
und ohne sichtbare Überblendungen steigt und fällt. Film ist für de Kroon | |
„80 Prozent Realität und 20 Prozent Imagination“. Wenn es ihm gelingt, die | |
beiden nahtlos miteinander zu verbinden, hat sein Film die Poesie von | |
großem Kino. | |
29 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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