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# taz.de -- 400 Jahre Prager Fenstersturz: Die Erfindung der Vergangenheit
> Die Gewaltorgie des Dreißigjährigen Krieges begann vor 400 Jahren. Hat
> das 2018 noch etwas mit uns zu tun? Ein Museumsbesuch mit Herfried
> Münkler.
Bild: Vitrine im Wittstocker Museum: Schlacht zwischen Schweden und Kaiserliche…
Wittstock taz | Schwarzer Hut, Ledermaske, ein nach vorne gebogener
Schnabel. So sahen wohl Helfer und Ärzte aus, die 1638 in Wittstock an der
Dosse Pestkranke versorgten und Tote begruben. Die Gestalt mit der
Schutzkleidung ist ein Blickfang im Museum des Dreißigjährigen Kriegs in
Wittstock, in Deutschland das einzige seiner Art. Die lebensgroße
Maskenfigur „könnte aus dem venezianischen Karneval stammen“, sagt der
Politikwissenschaftler und Militärexperte Herfried Münkler.
Es ist ein grauer Dienstag im Februar. Nur eine Handvoll Besucher
frequentiert das Museum, obwohl 2018 ein Jubiläumsjahr ist. Am 23. Mai 1618
begann mit dem Prager Fenstersturz ein Konflikt, der sich zum europäischen
Großkrieg ausweitete und in den 1630er Jahren ganze Landstriche in
Deutschland verwüstete.
Münkler, 66, Professor an der Berliner Humboldt-Universität und umtriebiger
Intellektueller, hat ein erfolgreiches Buch verfasst: „Der Dreißigjährige
Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648“. Das Skript f�…
das 900-Seiten-Werk hat er, ganz deutscher Professor, mit der Hand
geschrieben und abtippen lassen. Dass die Auflage 40.000 beträgt, lässt er
nebenbei fallen.
Das ist viel für ein Werk über einen Krieg, der im Kollektivgedächtnis der
Deutschen weitgehend verblasst ist, überblendet von den Kriegen des 20.
Jahrhunderts. Die Zeit hat Münkler mal einen „Ein-Mann-Thinktank“ genannt.
Er schreibt flüssig, ohne die Sätze mit akademischen Straßensperren zu
verbarrikadieren, und verknüpft wissenschaftliche Reputation mit einem
zielsicheren Gespür, was der Sachbuchmarkt verlangt.
Wie bei „Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“ über den Ersten Weltkri…
war er früher als die Konkurrenz auf dem Markt. Und er verknüpft gekonnt
historisch detaillierte Darstellungen mit thesenstarken Bezügen zum Jetzt.
Der Dreißigjährigen Krieg erscheint als Blaupause für den Syrienkonflikt,
mit Kriegsunternehmern wie Wallenstein oder Erich von Mansfeld und einer
unübersichtlichen Melange aus Religionskrieg und Machtinteressen.
## Dreiviertel an der Pest gestorben
Das Museum ist in dem massiven Wittstocker Bischofsturm beheimatet, der
seit dem 13. Jahrhundert Wohnsitz der Bischöfe von Havelberg war. Münkler
schaut sich ein Faksimile des Totenbuchs der Stadt an. Im Jahr 1638 starben
Dreiviertel der Wittstocker an der Pest. Danach war die Stadt fast leer. So
war es auch in anderen Städten Nordbrandenburgs, in Schwedt, Prenzlau,
Templin.
Die Pest war eine Nebenwirkung des Kriegs, der damals wie Säure die Städte
verätzte. „Die Heere waren wie Maschinen, die Epidemien verbreiteten“, sagt
Münkler in weichem, rundem, hessischem Idiom. Auch deshalb waren die
Opferzahlen so monströs. Der Dreißigjährige Krieg forderte, gemessen an der
Bevölkerungszahl, mehr Opfer als der Erste und Zweite Weltkrieg zusammen.
## Vitales, dampfendes, grausiges Morden
„Die Reduzierung der Bevölkerung ist ein Kollateraleffekt des Kriegs, nicht
das Ziel. Aber systemisch betrachtet kann man Kriege als Form der
demografischen Anpassung an die Ressourcen beschreiben. Es gab auch eine
Überbevölkerung“, sagt Münkler vor dem Totenbuch. Ein kalter, moralferner
Satz, dem alles Humanistische fehlt. Linke Studierende bescheinigten ihm
2015 in dem Blog „Münkler-Watch“ umgehend „Militarismus und Rassismus“.
Auch wegen solch kühler Sentenzen.
Münklers Denken kreist um Macht. Seine Dissertation schrieb er über Niccolò
Machiavelli. Geschichte ist in seinen Werken ein Feld unversöhnlicher
Konflikte und Machtkämpfe. Den Dreißigjährigen Krieg zeigt er detailliert
als politisches Ränkespiel, mit wechselnden Koalitionen und als Abfolge von
Schlachten, aus militärstrategischer Perspektive, weniger aus jener der
Opfer. Münkler hat ein Faible für Militärgeschichte, ein Genre, das
hierzulande, verglichen mit angelsächsischen Ländern, unterbelichtet ist.
Die katastrophalen Erfahrungen haben nach 1945 zu einer gewissen Distanz
zur allzu kühlen, emphatielosen Beschäftigung mit Krieg geführt.
Münkler erklimmt die knarrende, steile Treppe des Museumsturms. Im 6. Stock
blickt man durch das Fenster des massiven Turms auf Bäume, Plattenbauten,
ein Gewerbegebiet und am Horizont auf einen Hügel, den Weinberg. Ein
gewöhnlicher Ausblick. Er gibt nicht preis, was dort geschah.
„Gräuliches Schießen, das Klappern der Harnische, das Krachen der Piken,
die Schreie der Verwundeten und der Vorwärtsstürmenden und dazu die
Trompeten, Trommeln und Pfeifen – das alles ergab eine grausige Musik.“
Diese Schlachtbeschreibung stammt aus Jacob Grimmelshausens Roman „Der
abenteuerliche Simplicissimus“. Exakt dort, auf der ein paar Kilometer
entfernten Anhöhe, fand am Nachmittag des 4. Oktober 1636 die
Reiterschlacht zwischen Schweden und den Kaiserlich-Sächsischen statt.
Unter der Erde dort liegen ein paar Tausend Gebeine, die Toten der Schlacht
von Wittstock.
Die schildert Grimmelshausen als vitales, dampfendes, grausiges Morden.
„Manche Pferde sah man tot unter ihren Herren zusammenbrechen, übersät mit
Wunden, die sie unverschuldet, zum Lohn für ihre treuen Dienste empfangen
hatten. Andere stürzten aus der gleichen Ursache auf ihre Reiter und hatten
so im Tod die Ehre, von denen getragen zu werden, die sie in ihrem Leben
hatten tragen müssen. Die Erde, die doch sonst die Toten deckt, war an
diesem Ort nun selbst mit Toten übersät. Da lagen Köpfe, die ihre
natürlichen Herren verloren hatten, und Leiber, denen die Köpfe fehlten.
Manchen hingen die Eingeweide aus dem Leib, anderen war der Kopf
zerschmettert und das Hirn zerspritzt. Da lagen abgeschossene Arme, an
denen sich noch die Finger regten, als wollten sie in den Kampf zurück.“
## Copy and paste in der frühen Neuzeit
Allerdings war Grimmelshausen bei der Schlacht nicht dabei. Manches hat er
aus Berichten, anderes aus einem englischen Roman aus dem 16. Jahrhundert
übernommen. Copy and paste gab es auch in der frühen Neuzeit.
Münkler kommentiert den Text auf der Stellwand aus dem Simplicissimus.
„Nichts ist, wo es hingehört: nicht die Eingeweide, nicht Reiter, nicht
Pferde. Die Toten werden nicht mehr begraben. Grimmelshausen beschreibt
Ordnungsverlust. Dieses Motiv gibt es auch in Ernst Jüngers Stahlgewittern.
Die Leichen bleiben im Stacheldraht zwischen den Schützengräben und werden
zu Mumien.“
Die beiden feindlichen Truppen, die sich Anfang Oktober Wittstock näherten,
waren zwei Städte auf Rädern. Den je ungefähr 20.000 Söldnern folgte bei
Schweden und Kaiserlichen die Infrastruktur des Krieges. Die Trosse
bestanden aus Familien der Soldaten, Gauklern, Prostituierten, Köchen,
Schlachtern, Händlern, Vieh. Die schwedische Armee, die vor Wittstock lag,
verbrauchte täglich 400 Zentner Brot, 50 Ochsen, 1.200 Fässer Bier.
„Der Tross“, so Münkler, „marschierte nicht in einer Reihe auf Wittstock
zu, um kein leichtes militärisches Ziel zu sein. Er näherte sich in der
Breite von zehn Kilometern der Stadt.“ Die beide Trosse warteten abseits
den Ausgang der Schlacht ab. Die Verlierer wurden geplündert, das war die
Regel. Die Hygiene war katastrophal. Zehntausende verrichteten ihre
Notdurft im Freien, Trosse und Heere waren Treibhäuser für Infektionen.
## Staubige Schlacht, unklare Sieger
Die Schlacht begann spät, erst mittags. Es dauerte, bis sich die Truppen
formiert hatten. Um die 33 Kanonen der kaiserlich-sächsischen Armee
feuerbereit in Stellungen zu bringen, mussten 3.000 Soldaten anpacken und
600 Pferde ziehen.
Der Kampf beginnt. Es ist dreckig, staubig. Auch von dem berühmten
Feldherrenhügel aus ist die Sicht mies. Es ist dröhnend laut, nicht nur
wegen der Schreie der Verwundeten, auch wegen der Pauken, die die Kanonaden
koordinieren. „Die Stoßtruppen, die als Erste eingesetzt werden“, so
Münkler, „sind besonders gefährdet. Die Chance zu überleben, liegt im
Nahkampf und bei Artilleriebeschuss bei 50 Prozent.“
Als die Sonne untergeht, weiß noch niemand, wer Sieger, wer Verlierer ist.
Um 19.17 Uhr wird es stockfinster, der Mond über Wittstock verschwindet.
Die Generäle verfügen auf beiden Seiten nur über spärliche Informationen.
Der Rest ist Nervensache. Wer zu früh das Schlachtfeld räumt, kann den Sieg
verschenken, wer es zu spät tut, das Heer verlieren.
„Wittstock“, so Münkler, „war eine außergewöhnlich komplexe Schlacht. …
Heere waren etwa gleich groß. Die Kaiserlichen waren im Vorteil, weil sie
früher dort waren, bereits Hügel besetzten und Verschanzungen angelegt
hatten. Feldmarschall Johan Banér teilte seine schwedischen Truppen in drei
Gruppen und griff im Rückraum an. Das war ausgesprochen riskant, alles hing
vom Zeitregime an, ob die Angriffe im exakt richtigen Moment erfolgten. Das
hat funktioniert.“
## Miese Zähne, kaputte Gelenke
Die Kaiserlich-Sächsischen Truppen ziehen nachts ab. Banérs Truppen
plündern die Toten auf dem Schlachtfeld aus. Verwundete, die Glück haben,
landen bei Feldschern, notdürftig ausgebildeten Medizinern, die nach der
Schlacht am Fließband Arme und Beine absägen. Wer weniger Glück hat,
verblutet oder stirbt an eiternden Wunden.
Im Jahr 2007 wurde am Weinberg zufällig ein Massengrab mit den Gebeinen von
125 Soldaten entdeckt, die akribisch untersucht wurden. Seitdem, sagte
Antje Zeiger, Direktorin des Wittstocker Museums, „wissen wir viel mehr
über die Schlacht, etwa dass im schwedischen Söldnerheer nicht nur Finnen,
Letten, Schotten, sondern auch viele Deutsche waren“. Und dass der normale
Soldat miese Zähne hatte, anders als die Bauern genug Proteine bekam,
kaputte Gelenke vom Marschieren hatte, im Schnitt 28 Jahre alt wurde und
1,70 groß war. Und an Kopfverletzungen oder gesplitterten Knochen
verendete.
Das Museum zeigt kompakt auf sieben Etagen Gründe und Chronik des Kriegs,
der ein Knäuel von einzelnen, sich überkreuzenden Kriegen war, und
kombiniert das Allgemeine mit dem Besonderen, dem Genius Loci. So sieht man
eine 15 Kilo schwere Kanonenkugel, die am 4. Oktober 1636 abgefeuert wurde,
metallene Sturmhauben der Infanterie, Musketen, Schanzkörbe aus Weiden und
einen Kürassierharnisch, mit dem sich die Reiterei vor Pikenieren schützte.
Und eine scharfe Säge für Amputationen, hübsch mit Ornamenten verziert.
Nach 1630 wurde die Gewalt grenzenlos. Die Heere plünderten, und gerade
weil die Soldateska in mehrfach heimgesuchten Orten nichts Essbares mehr
fand, stieg das Gewaltlevel. Die Soldaten bekamen kaum noch Sold, Bauern
schlossen sich in ihrer Not zu Mobs zusammen, die Soldaten massakrierten.
## „Die Kirche ist sehr verwüstet worden“
Pastor Emanuel Colasius aus Gottberg bei Neuruppin schrieb 1638 im
Kirchenbuch:
„Man hat kein Dorf nennen können, da es nicht gebrannt. Der Vorrat an
Gerste ist alle vom Felde von Soldaten weggerafft und ausgedrescht worden,
so dass der Landmann nichts davon gekriegt. Die Obstbäume sind ganz
abgehauen worden, welches die armen Leute sehr beklaget. Die Kirche ist
sehr verwüstet worden.“
So waren Vergewaltigung, Raub, Mord, Überfälle, Cholera, Pest, Hunger in
manchen Regionen an der Tagesordnung. Die „kleine Eiszeit“ im 17.
Jahrhundert bescherte zudem miserable Ernten. Dass diese Explosion von
Gewalt und Elend spurlos blieb, ist unrealistisch. Die Erfahrung, dass
nichts mehr sicher ist, hat das Sozialverhalten, auch das
Geschlechterverhältnis verändert. Doch eine Mentalitätsgeschichte des
Dreißigjährigen Kriegs, die solchen Tiefenwirkungen nachspürt, existiert
nicht.
Der Krieg brachte nicht nur Verwüstungswellen – er sorgte auch für einen
Aufschwung der Presse. Es gab Flugblätter, Zeitungen, religiöse Propaganda,
stets mit deftigem Spott für Verlierer. Das Journal Theatrum Europaeum,
gegründet von dem Kupferstecher Matthäus Merian, druckte Schlachtbilder und
wurde Pflichtlektüre der Gebildeten. „Der Krieg schuf einen Neugierraum“,
so Münkler. Der Qualitätsjournalismus war ein Kollateraleffekt des
Gemetzels.
Auch mit der Mode ging es kriegsbedingt bergauf. Soldaten standen außerhalb
der strikten Kleiderordnung. Wer Geld hatte, kaufte Kleider. Die
Spottzeichnung „Wie sich ein teutscher Monsieur all modo kleiden soll“
zeigt hämische Karikaturen gockelhafter Dressmen. Gerade weil das Sterben
allgegenwärtig war, brach mitunter karnevaleske Lebenslust aus, Hedonismus
aus Verzweiflung, das barocke carpe diem.
Das Museum in Wittstock ist recht neu, erst zwanzig Jahre alt. Es ist Teil
des Versuchs, die Stadt neu zu erfinden – als Ort mit Patina. Wittstock hat
akkurat renovierte Backsteinkirchen, imposante Gründerzeit- und hübsche
Fachwerkhäuser – viel Geschichte und weniger Zukunft. Wenn die
Weltgeschichte hierher kam, ging das selten gut aus. 1638 die Pest. 1945
demontierten die Sowjets die Textilindustrie. 1990 brachte die Wende
Freiheiten und machte der Industrie endgültig den Garaus. Jetzt hat
Wittstock, hübsch und leer, selbst etwas Museales.
Das Publikum kommt im Frühjahr mit Blick auf die 400 Jahre zahlreicher. Die
meisten, so Direktorin Zeiger, interessieren sich weniger für die
Schlachten und Harnische und mehr „für Alltag, Kinder, Frauen“. Mehr für
den Tross als für die Armee.
## Lehren für heute?
Kann man 2018 aus diesem Krieg etwas lernen – über die Binsenweisheit
hinaus, dass Krieg wie Feuer ist, im trockenen Wald schnell erzeugt und
schwer löschbar? Ist das Geschehen endgültig sedimentiert, bizarre
Vorgeschichte, die man nur noch als Fremdes bestaunt?
Münkler skizziert in seinem Buch zwei Antworten. Die Erinnerung an den
Dreißigjährigen Krieg ragte steil ins 19. und frühe 20. Jahrhundert, wo sie
zum ideologischen Rüstzeug des wilhelminischen Nationalismus wurde. Bis
1945 war der Krieg eine gängige Opfermetapher. Hitlers Stellvertreter
Albert Speer verglich noch am 3. Mai 1945 im Radio den Bombenkrieg mit den
Verwüstungen des 17. Jahrhunderts.
War das nur nachträgliche Erfindung? In dem Gedicht „Tränen des
Vaterlandes“ des Barockdichters Andreas Gryphius (verfasst 1637, ein Jahr
nach der Schlacht bei Wittstock) klang das so:
„Wir sind doch nunmehr ganz, / ja mehr den ganz verheeret! / Der frechen
Völker Schar, / die rasende Posaun / Das vom Blut fette Schwert, / die
donnernde Karthaun / Hat aller Schweiß, und Fleiß, / und Vorrat
aufgezehret. / Die Türme stehn in Glut, / die Kirch’ ist umgekehret. / Das
Rathaus liegt im Graus, / die Starken sind zerhaun, / Die Jungfraun sind
geschänd’t, / und wo wir hin nur schaun, / Ist Feuer, / Pest, / und Tod, /
der Herz und Geist durchfähret.“
War die Opferstilisierung des deutschen Nationalismus also nicht die
Erfindung, sondern das Echo der Vergangenheit? Münkler widerspricht.
Gryphius formulierte das Bewusstsein einer winzigen Elite. „Eine
Eigen-Fremd-Codierung entlang der Karte des Heiligen Reiches deutscher
Nation hatten nur ganz wenige. Für die Masse endete Heimat im Umkreis von
ein paar Kilometern. Dahinter begann die Fremde.“ Das nationalistische
Bürgertum im Wilhelminismus erträumte sich so gesehen einen leidenden
„Kollektivkörper Deutschland, der im 17. Jahrhundert noch gar nicht
existiert hatte“.
Aus dem Dreißigjährigen Krieg, so Münklers Pointe, konnte man um 1900 „zwei
Schlussfolgerungen ziehen: Nie mehr Krieg. Oder nie mehr Krieg in
Deutschland.“ Das Kaiserreich entschied sich 1914 für Letzteres, überfiel
das neutrale Belgien und setzte auf Offensive. Die Verwüstungen des Ersten
Weltkriegs fanden jenseits der deutschen Grenzen statt. Der Schlieffen-Plan
war insofern ein Reflex der Verängstigungen, die der Dreißigjährige Krieg
hinterlassen hatte. „Opfererzählungen“, so Münkler, „sind grundsätzlich
heikel, weil sie die Lizenz für legitime Rache beinhaltet.“
## Eine Blaupause für Syrien?
Der zweite Vorsprung, der ins Heute ragt, ist der Konflikt in Syrien.
Münkler hat schon 2002 in „Die neuen Kriege“, die ihn als Analytiker der
entstaatlichten Konflikte nach 9/11 bekannt machte, mit der Analogie zum
Dreißigjährigen Krieg jongliert. In Syrien tobt, wie nach 1618, ein
Bürgerkrieg, der religiös aufgeladen ist, mit Warlords und Söldnern und
etlichen regionalen Mächten, Türkei und Russland, Saudi-Arabien, Israel,
Iran, die involviert sind. Deshalb erscheint der Krieg in Syrien so heillos
verknotet und schier unlösbar – wie es der deutsch-europäische Krieg 1636
nach der Schlacht von Wittstock war.
Aber diese Parallele ist vielleicht zu gut, um wahr zu sein. Putin mag man
sich als kalt kalkulierenden Kardinal Richelieu noch vorstellen. Für den IS
gibt es kein Pendant. Auch das Postkoloniale blendet diese Analogie weg.
Experten für das 17. Jahrhundert, wie der Oxford-Militärhistoriker Peter
Wilson oder der Jenaer Historiker Georg Schmidt, fassen Syrienvergleiche
nur mit spitzen Fingern an.
Was bleibt? Der oberste, 7. Stock des Museumsturms zeigt den Westfälischen
Frieden 1648, das Ergebnis eines jahrelangen zähen Deals, der so verwickelt
war wie der Krieg selbst. Es galt die Interessen von 16 Staaten, von
Spanien bis Dänemark, von 140 Reichsständen – von Bischöfen und
Fürstentümern, Grafschaften und freien Städten – und zudem von Papst und
Kaiser unter einen Hut zu bringen. Schon die Frage, welche Emissäre wann
mit wem reden durften, war hart umkämpft. Und der Krieg war noch nicht
erschöpft. Die Heere existierten noch, die Schlachten hätten weitergehen
können.
In einem kurzen, leuchtenden Moment begannen die Diplomaten in Münster und
Osnabrück einfach mit den Gesprächen. Fast freihändig.
Es gibt, sagt Herfried Münkler, „nicht nur die Dynamik des Kriegs, sondern
auch die Dynamik des Verhandelns.“
23 May 2018
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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