# taz.de -- Militärhistoriker über Kriegsvergleiche: „Der Krieg war unter K… | |
> Vor 400 Jahren begann der Dreißigjährige Krieg. Vieles erinnert an Syrien | |
> 2018, aber die Unterschiede sind gravierend, meint Peter H. Wilson. | |
Bild: Syrien, 20. Februar 2018 – ein Mitarbeiter der Organisation Syrischer R… | |
Peter H. Wilson kommt etwas zu spät zum Interview in einem Café am | |
Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg. Berlin ist ihm fremd, er hat sich im Ort | |
geirrt. Wilson spricht leise und formuliert bedächtig, seine Rhetorik hat | |
nichts Auftrumpfendes. Er versteht sich weniger als Intellektueller, der | |
Thesen und Narrative entwirft, denn als Historiker, der für Fakten | |
zuständig ist. | |
taz am wochenende: Herr Wilson, berührt der Dreißigjährige Krieg noch unser | |
Selbstverständnis? | |
Peter H. Wilson: Der Dreißigjährige Krieg ist abgespeichert als schlimme | |
Epoche, ohne dass man viel darüber weiß. Die Ereignisse und Akteure sind | |
weitgehend unbekannt. Wenn, dann kennt man etwas Literatur, Schiller und | |
Brecht. | |
Also ist es vorvergangene Geschichte. Seit wann eigentlich? | |
Das war vor hundert Jahren noch anders. Damals galt der Dreißigjährige | |
Krieg als Universalbegründung für die Zersplitterung Deutschlands vor 1870 | |
und dafür, dass die Deutschen eine verspätete Nation waren. Das stimmte | |
historisch so nicht, aber dies war die Meistererzählung der Nationalisten | |
des 19. Jahrhunderts: Weil es das Gefühl gab, damals Opfer gewesen zu sein, | |
musste das Deutsche Reich besonders wachsam und mächtig sein. | |
Einer der letzten deutschen Politiker, der dieses Opferbild nutzte, war | |
Albert Speer. Er verglich 1945 die Verwüstungen des Bombenkrieges mit denen | |
des Dreißigjährigen Krieges. Warum tat er das? | |
Weil der Dreißigjährige Krieg damals ein allgemein akzeptierter Maßstab für | |
Vernichtung von zivilem Leben war. Und weil Deutschland in diesem Narrativ, | |
das zum Beispiel Gustav Freytag populär gemacht hatte, das Opfer | |
ausländischer Invasoren war. | |
War der Dreißigjährige Krieg denn die Gewaltexplosion gegen die | |
Zivilbevölkerung? Ist das reale Historie – oder eine zugespitzte | |
Opfermetaphorik bürgerlich-nationaler Geschichtsschreibung des 19. | |
Jahrhunderts? | |
Beides. Wir haben es mit einem eskalierenden Konflikt zu tun, der 1618 als | |
regionaler Streit zwischen dem Kaiser und Böhmen beginnt und der zu einem | |
europäischen Großkonflikt anschwillt, in den Spanien, Schweden und | |
Frankreich involviert sind. Es ist aber falsch zu denken, dass von der | |
Ostsee bis an die Alpen 30 Jahre lang ununterbrochen Krieg herrschte. | |
Manche Regionen waren jahrelang unberührt von Gewalt. In den ersten 15 | |
Jahren waren einzelne Gegenden, etwa Brandenburg und Württemberg, | |
betroffen. Der Krieg war begrenzt und politisch unter Kontrolle. Es gab | |
zwar Gewaltexzesse gegen Zivilisten, Morde, Vergewaltigungen, Plünderungen, | |
besonders nach der Belagerung von Städten, die Widerstand leisteten. Aber | |
das war die brutale Praxis, die wir in Kriegen in Estland im späten 16. | |
Jahrhundert oder den französischen Religionskriegen auch finden. Besonders | |
war nur die lange Dauer dieses Krieges, nicht aber verselbstständigte | |
Gewalt. | |
Wirklich? 1638 erscheint Philip Vincents Buch „Lamentations of Germany“, | |
das das Grauen des Krieges drastisch schildert. Schon den Zeitgenossen war | |
also bewusst, dass dies doch ein außergewöhnlich brutaler Krieg war. | |
Ja, und Vincents Buch sorgte in England dafür, dass sich die englischen | |
Bürgerkriegsparteien aufgerufen fühlten, solche Eskalationen zu vermeiden. | |
Ein echter Erfolg der Kriegsberichterstattung. | |
In der Tat. Aber trotzdem: Es gab Exzesse, insbesondere in der zweiten | |
Kriegshälfte, insbesondere in Brandenburg, Pommern und der Donauregion, die | |
von Heeren wieder und wieder verwüstet wurden. Aber das war nicht der | |
Normalmodus des gesamten Krieges. | |
Was ist mit den marodierenden Banden? Waren die nur die spektakuläre | |
Ausnahme? | |
Eher ja. Typisch waren die gewaltigen vagabundierenden Heere, die Bauern | |
und Städten gewaltsam enorme Abgaben abpressten. Aber das waren kämpfende | |
Heere, die zu politisch-militärischen Zwecken eingesetzt wurden, keine | |
Banden, die wie Räuber das Land verheerten. | |
Aber was ist mit den Bauernguerillas, die aus Notwehr gegen die Soldateska | |
kämpften? | |
Die gab es. Aber nur in Gebieten, in denen jede Ordnung zusammengebrochen | |
war. | |
Wie in Failed States? | |
Genau. | |
Kann man die Gewalt des Dreißigjährigen Kriegs sinnvoll mit der des Zweiten | |
Weltkriegs vergleichen? | |
Natürlich, wenn man sich immer die unterschiedlichen Verhältnisse | |
vergegenwärtigt. Wir wissen, dass der Krieg damals ungefähr acht Millionen | |
Tote forderte – eine enorm hohe Zahl, wenn wir die damalige | |
Bevölkerungszahl betrachten. Es gab sehr viele blutige Schlachten. Die | |
Zivilbevölkerung fiel aber weniger der Soldateska zum Opfer als vielmehr | |
der Ausbreitung der Pest durch die herumziehenden Heere sowie Hungersnöten, | |
die oft eine direkte Folge der Beschlagnahmungspraxis der Militärs waren. | |
Aber: Trotz der exorbitanten Opferzahlen war dies kein Vernichtungskrieg, | |
der dem der Wehrmacht im Osten nach 1941 vergleichbar wäre. Denn wir haben | |
es hier mit militärischen Operationen zu tun, die machtpolitischen Zielen | |
dienten, nicht der Auslöschung von Zivilbevölkerung oder des Gegners an | |
sich. | |
Warum hört der Krieg 1648 auf? Aus Erschöpfung? | |
Nein, das ist zwar eine gängige Erklärung. Aber 1648 gibt es noch 60.000 | |
schwedische Soldaten im Land. Die sind erst drei Jahre später | |
demobilisiert. Der Krieg hätte noch weitergehen können. | |
Also warum Frieden? | |
Weil die wichtigen Kombattanten – Frankreich, Schweden, der Kaiser – genug | |
gewonnen hatten. Die Schlachten der letzten fünf Jahre vor dem | |
Westfälischen Frieden dienten dazu, Erreichtes zu sichern oder die Stellung | |
bei den Verhandlungen zu verbessern. | |
1648 wird möglich, weil der Krieg für die zentralen Mächte nicht mehr | |
nützlich scheint? | |
Ja, vor allem weil der Kaiser verstanden hat, dass er keinen Siegfrieden | |
erreichen wird. Das war zuvor das zentrale Hindernis gewesen. Das | |
Wichtigste: Der Friede ist möglich, weil es einen rechtlichen Rahmen gibt, | |
den niemand infrage stellt – die Ordnung mit Reichsständen und dem Kaiser | |
an der Spitze. Man kämpfte um Deutungen der Reichsverfassung, um | |
Machtpositionen – aber innerhalb des von allen akzeptierten Systems der | |
Reichsverfassung. | |
Es gibt ja auffällige Parallelen zu den Konflikten in Syrien oder Libyen: | |
Es sind, wie der Dreißigjährige Krieg, religiös aufgeheizte Konflikte, die | |
von dritten Mächten wie Russland, den USA, Iran und Saudi-Arabien angeheizt | |
und überlagert werden. Frank-Walter Steinmeier hat, noch als Außenminister, | |
gesagt, dass der Nahe Osten einen Westfälischen Frieden brauche. | |
Politiker benutzten oft Geschichte, um Punkte zu machen. Das ist selten | |
glücklich, weil es meist Vereinfachungen sind. | |
Ist der Vergleich schief? | |
Eher ja. Das Osmanische Reich existiert ja nicht mehr. Denn das wäre in der | |
Analogiebildung die Reichsverfassung, die den Rahmen bilden würde, der die | |
Einigung erst ermöglicht. Insofern ist es 2018 schwieriger. | |
Aber wenn wir an die Kriegspraxis denken, gibt es doch Ähnlichkeiten. Im | |
Dreißigjährigen Krieg gab es Warlords wie Mansfeld oder Wallenstein, die | |
Söldnertruppen anführten. Genau dies finden wir in den entgrenzten Kriegen | |
von Libyen bis Afghanistan nun wieder. | |
Vorsicht mit den Analogien. Die Warlords in Afghanistan ersetzen eine | |
zusammengebrochene Staatlichkeit und entsprechen in diesem Bild eher | |
Fürsten. Mansfeld ist ein anderes Modell: Er kämpft für wechselnde | |
Auftraggeber, aber immer auf Seiten der Antikaiserlichen. Und er regiert | |
kein Territorium. | |
Also ist Mansfeld eher ein, modern gesagt, Chef einer outgesorcten Truppe | |
der Antikaiserlichen? | |
Ja, er hat insofern mehr mit einem privaten Militärdienstleister wie | |
Blackwater gemein als mit einem Warlord in Afghanistan. Es gibt | |
Ähnlichkeiten. Aber der Dreißigjährige Krieg ist keine Blaupause für die | |
neuen, entgrenzten Kriege. | |
25 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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