| # taz.de -- Besuch bei Grabungen in der Nähe von Kiel: Das große Puzzle | |
| > Wenn auf einem Bauplatz Funde zu erwarten sind, dürfen | |
| > Archäolog*innen vor den Baggern auf das Gelände. Aber ihre Zeit für | |
| > Grabungen ist knapp. | |
| Bild: Derzeit im Raum Flintbek tätig: Archäologin Katahrina Schmeiduch | |
| Flintbek taz | Katharina Schmeiduch hebt ein Plastiktütchen hoch, in dem | |
| ein Glaskügelchen von der Größe einer Murmel steckt: „Das lag heute auf | |
| meiner Kelle.“ Die grünlich-graue Perle wirkt unscheinbar, doch für die Ur- | |
| und Frühgeschichtlerin bedeutet sie einen Durchbruch: Sie hat neben den | |
| Resten einiger Häuser eine Grabstätte gefunden, und mit Hilfe der Glasperle | |
| ist es vielleicht auch möglich zu bestimmen, wann dort Menschen beerdigt | |
| wurden. Gleichzeitig bringt der Fund den ohnehin schon engen Zeitplan noch | |
| weiter ins Wanken: so viel Interessantes, so wenig Zeit. | |
| Die Grabung des Archäologischen Landesamtes bei Flintbek in | |
| Schleswig-Holstein ist nur eine von vielen, bei denen die Forschenden unter | |
| Hochdruck arbeiten, bevor die Bagger anrollen. Denn dort, wo unter der | |
| Grasnarbe die Reste einer frühgeschichtlichen Siedlung liegen, soll bald | |
| ein neues Wohngebiet entstehen. | |
| Ein Bagger steht bereits auf der Grabungsstelle nahe dem Dorf im Südwesten | |
| von Kiel, allerdings ein ganz kleiner, mit dem Stephan Isenberg den Platz | |
| räumt, bevor die Fachleute sich an die feineren Arbeiten mit Spaten und | |
| Kelle machen. „Unser Baggerfahrer der Herzen“, sagt Grabungsleiterin | |
| Schmeiduch. | |
| Isenberg ist selbstständig und oft im Auftrag des Landesamtes tätig. „Man | |
| braucht ein bisschen Erfahrung“, sagt er. Die hat er inzwischen: Seit den | |
| 1990er-Jahren arbeitet er für archäologische Teams. | |
| Zu dem Job kam er zufällig. „In meinem Heimatort fand eine Grabung statt, | |
| und der Leiter fragte meine Mutter, ob sie von jemandem wisse, der einen | |
| Bagger bedienen könne.“ Inzwischen ist er sozusagen Teil des Teams: | |
| „Manchmal sieht er was vom Führerhaus aus, das wir vom Boden aus noch gar | |
| nicht erkannt haben“, berichtet Schmeiduch. Aber beiden ist auch klar, dass | |
| durch das schwere Gerät Dinge zerstört werden könnten. | |
| Daran muss Schmeiduch denken, als sie vor der Grube steht, an deren Rand | |
| sie am Morgen die Perle fand. Gut möglich, dass der notwendige | |
| Baggereinsatz weitere Schmuckstücke zerstört hat. Obwohl: „Bis vor Kurzem | |
| war gar nicht klar, dass es hier ein Grab gibt“, sagt Schmeiduch. „Jetzt | |
| habe ich eine Perle. Was, wenn ich noch ein Collier oder noch mehr finde?“ | |
| Sie hat nur noch zwei Wochen, dann endet die Frist, die mit der Gemeinde | |
| vereinbart ist. Sehr viel zu finden, ist gar nicht das Ziel, aber passiert | |
| ist es trotzdem. | |
| Die anderen MitarbeiterInnen ihres Grabungsteams arbeiten zurzeit auf einem | |
| zweiten Acker einige Hundert Meter entfernt, an dem eigentlich nur ein paar | |
| Feuerstellen erwartet wurden. Das Team fand aber so viele Feuersteinstücke | |
| und alte Brandstellen, dass es ein alter Werkstattplatz gewesen sein muss – | |
| das vermutet Schmeiduch jedenfalls. | |
| Der Hauptfundort liegt auf einem Hügel. Auf dem nun freigelegten Stück | |
| Boden sind zahlreiche Löcher zu sehen, dort standen einmal Holzpfähle, die | |
| zu mehreren Häusern gehörten. Aufgrund der Größe glaubt Schmeiduch, dass es | |
| sich um ein Gemeinschaftshaus, einen Dorftreff gehandelt haben könnte. | |
| Der Platz bietet eine weite Aussicht, und diesen Vorzug nutzen Menschen | |
| schon seit Jahrtausenden. Seit den 1970er-Jahren sind der Ort und seine | |
| Umgebung „für eine Vielzahl sehr gut erhaltener stein- und bronzezeitlicher | |
| Gräber bekannt“, heißt es auf der [1][Homepage des Landesamtes]. Die Gegend | |
| ist Teil einer ganzen Kette von Fundstellen, die als „Flintbeker Sichel“ | |
| bezeichnet wird. | |
| Auch in der Völkerwanderungszeit – im vierten und fünften Jahrhundert nach | |
| der Zeitenwende – lebten Menschen in dieser Region. Das ist bereits seit | |
| Längerem bekannt, ein Teil der Siedlung wurde in den Jahren 2020 und 2021 | |
| archäologisch erfasst. Nun plant die Gemeinde ein neues Baugebiet auf | |
| diesem Hügel. „Da wir bereits wussten, dass hier etwas zu finden ist, war | |
| klar, dass es eine [2][Grabung] gibt“, sagt die Forscherin. Sie nimmt an, | |
| dass die nun gefundenen Häuser und das Grab den Rand des früheren Dorfes | |
| darstellen. | |
| Dass die [3][archäologischen Fachleute] den ersten Zugriff haben, wenn ein | |
| Stück Boden neu bebaut werden soll, ist in den Denkmalschutzgesetzen der | |
| Länder geregelt. Das Gesetz von Schleswig-Holstein stammt von 2014, ein | |
| Gutachten im Auftrag des Landtags bestätigte vor einigen Jahren, dass es | |
| keinen Bedarf für Änderungen gebe. | |
| Auch wenn das Gesetz erlaubt, alle künftigen Bauplätze umfangreicher zu | |
| untersuchen, werde nur dann tatsächlich gegraben, wenn es einen Verdacht | |
| auf Funde gibt, berichtet Schmeiduch. In der Regel seien größere | |
| Baumaßnahmen betroffen, hinter denen private Investoren oder, wie in | |
| Flintbek, öffentliche Träger stünden. | |
| „Wir wissen recht gut, wo im Land interessante Stellen sind“, sagt | |
| Schmeiduch. Doch die Altertümer bleiben meist im Boden: „Wir hätten gar | |
| nicht genug Geld und Leute, um alles rauszuholen, außerdem sind die | |
| Artefakte unter der Erde am besten geschützt.“ | |
| Anstehende Bauarbeiten sind daher für die Archäologie Fluch und Segen | |
| zugleich: Sie vernichten zwar ehemalige Siedlungen, Gräber oder | |
| Werkstattplätze, aber sie ermöglichen auch Grabungen, durch die die | |
| Altertümer erstmals zum Vorschein kommen und untersucht werden. Alle | |
| Arbeiten finden unter Zeitdruck statt: „Wir kalkulieren vorher, wie lange | |
| wir brauchen, und alle Beteiligten bemühen sich, das auch einzuhalten.“ | |
| ## Bestattungsplatz oder Kultstätte? | |
| In Flintbek waren acht Wochen vereinbart, ein Viertel ist noch übrig. | |
| Schmeiduch steht am Rand der Anlage, an der sie morgens die Perle gefunden | |
| hat. Im Boden zeichnet sich ein Kreis von neun Metern Durchmesser ab, ein | |
| Teil des Bodens ist mit Steinen bedeckt. Ähnliche Kreise wurden schon | |
| während der früheren Grabungen in Flintbek und im benachbarten Heikendorf | |
| gefunden, heißt es auf der Homepage des Archäologischen Landesamtes. Über | |
| die Bedeutung herrscht Rätselraten: Bestattungsplatz? Kultstätte? | |
| Herausfinden lässt sich das kaum. | |
| Die Grabung bei Flintbek ist längst nicht die einzige, die das | |
| Archäologische Landesamt zurzeit beschäftigt. Die meisten Fachleute sind | |
| gerade bei Heide im Kreis Dithmarschen, wo eine Megafabrik für | |
| E-Auto-Batterien entstehen soll. Und ausgerechnet auf dem gewählten | |
| Bauplatz ist archäologisch jede Menge los. „Gräber, die direkt zwischen den | |
| Häusern liegen, jede Menge Fundstücke“, sagt Schmeiduch. „Das wäre unter | |
| normalen Umständen ein Forschungsprojekt für Jahre.“ | |
| Aber die Grabungsteams haben nur wenige Monate Zeit, der politische Druck | |
| ist groß, mit dem Bau loszulegen. Immerhin werden in Flintbek wie bei Heide | |
| die Fundstellen dokumentiert, fotografiert und eingezeichnet. Alle | |
| Scherben, Glasperlen, Feuersteinstücke werden eingetütet und im Archiv im | |
| Landesmuseum Schloss Gottorf gelagert: „Zukünftige Forschungen können Stück | |
| für Stück das große Puzzle der Geschichte [4][Schleswig-Holsteins] | |
| vervollständigen“, heißt es auf der Homepage des Landesamtes. | |
| 25 Jul 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.schleswig-holstein.de/DE/landesregierung/ministerien-behoerden/… | |
| [2] /Ausgrabung/!t5491971 | |
| [3] /Archaeologie/!t5015357 | |
| [4] /Schleswig-Holstein/!t5008444 | |
| ## AUTOREN | |
| Esther Geißlinger | |
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