| # taz.de -- Gesundheit im 17. und 18. Jahrhundert: Die blassen Kinder der Reich… | |
| > Zur Oberschicht zu zählen, war im 17. und 18. Jahrhundert keine Garantie | |
| > für bessere Gesundheit. Diese Erkenntnis bringt eine Grabung in | |
| > Wolfenbüttel. | |
| Bild: Anderer Fundort, gleiche Arbeit: Bettina Jungklaus 2020 mit einem Kiefer … | |
| Osnabrück taz | Eine der häufigsten Assoziationen bei diesem Namen ist: | |
| Jägermeister. Der Kräuterlikör mit dem Hirsch auf dem Etikett wird hier | |
| produziert, an der gleichnamigen Straße. Aber seit Jüngstem ist die | |
| niedersächsische Kreisstadt Wolfenbüttel auch für 89 Tote bekannt. | |
| Sie stammen aus einer Rettungsgrabung an der Nordseite der dortigen | |
| protestantischen Hauptkirche Beatae Mariae Virginis. Baumaßnahmen an | |
| Kornmarkt und Reichsstraße, für Bus-Einstiegsplattformen, neue Gehwege, | |
| Straßenarbeiten und Leitungsgräben, hatten umfangreiche Erdarbeiten | |
| notwendig gemacht. Das Modernisierungsareal umfasste Teile des alten | |
| Friedhofs, ein Bodendenkmal. Also wurde exhumiert. | |
| „Die anthropologischen Untersuchungen stehen kurz vor dem Abschluss“, sagt | |
| Osteoanthropologin [1][Bettina Jungklaus]. Mit ihrem Spezialistenteam war | |
| sie im Auftrag eines Braunschweiger Grabungs-Dienstleisters als | |
| Grabungsleiterin vor Ort. „Im Moment nehmen wir die letzten genetischen | |
| Zuordnungen vor“, sagt sie. | |
| Die eigentlichen Grabungskampagnen sind schon lange her. Ende April bis | |
| Anfang Juli 2015 und Mitte Juni bis Ende September 2016 wurde in | |
| Wolfenbüttel gegraben, auf insgesamt rund 5.600 Quadratmetern. Schwerpunkt | |
| waren die Bestattungen. | |
| ## Bekannte Tote | |
| Derzeit lagern die 89 Skelette noch bei Grabungsleiterin Jungklaus. Ist die | |
| Arbeit an ihnen getan, werden sie vermutlich nicht neu bestattet, sondern | |
| kommen in ein Magazin. Dann beginnt die schriftliche Auswertung. 2024 werde | |
| sie fertig sein, prognostiziert Jungklaus. Sie wird zweiteilig: Jungklaus | |
| zielt auf FachwissenschaftlerInnen, aber auch auf Laienpublikum. Der Grund | |
| dafür ist die Bedeutung der Funde: Die Grabung in Wolfenbüttel ist | |
| einzigartig. | |
| Was archäologisch zutage gefördert wurde, steht nämlich nicht allein. Auch | |
| alte Schriftquellen liegen vor. Hinzu kommt die anthropologische Analyse. | |
| Eine seltene Kombination, die zu einer „unglaublichen historischen Tiefe“ | |
| führt, sagt Jungklaus. | |
| „Wir wissen, wer die Toten sind“, erklärt sie. „Aus Archivmaterial kennen | |
| wir ihre Namen, ihre Berufe, wissen viel über ihr Leben, ihre Familien. Das | |
| reicht bis zu Details wie dem Teegeschirr, das mit in die Ehe gebracht | |
| wurde.“ Das Gesamtbild, das dadurch entstehe, sei faszinierend. „Das gibt | |
| es so kein zweites Mal“, sagt Jungklaus. „Das ist wirklich ungeheuer | |
| spannend!“ Nur wenige der Toten sind noch unidentifiziert. | |
| „Das ist ein absoluter Sonderfall!“, bestätigt Melanie Wiegert-Richter, | |
| Geschäftsführerin der Grabungsfirma. Vor allem freut sie, dass im Laufe der | |
| Arbeit aus einer Rettungsgrabung ein Forschungsprojekt geworden ist, | |
| gefördert durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und | |
| Kultur. Denn die Genehmigung, ein Kulturdenkmal ganz oder in Teilen zu | |
| zerstören, verpflichtet den Verursacher – in diesem Fall die Stadt | |
| [2][Wolfenbüttel] durch ihr Bauprojekt – lediglich „im Rahmen des | |
| Zumutbaren“ zu fachgerechter Untersuchung, Bergung und Dokumentation. | |
| Normalerweise sind die Skelette, die Jungklaus exhumiert, namenlos. Hier | |
| waren sie es nicht. Aus Begräbnisbüchern war bekannt, wer in welcher | |
| Erbbegräbnis-Parzelle liegt. Die Mehrzahl der Toten stammt aus der frühen | |
| Neuzeit, wurde zwischen dem [3][Dreißigjährigen Krieg] und der Mitte des | |
| 18. Jahrhunderts hier bestattet. | |
| Einige stammen aus dem Spätmittelalter, aus der Zeit der Marienkirche, | |
| einer Kapelle, die der Hauptkirche vorausging. 80 Zentimeter hat die | |
| Grabung in den Boden gereicht, bis hier hinab gingen die Baumaßnahmen. „Es | |
| ist also möglich, dass es in größerer Tiefe noch mehr Bestattungen gibt“, | |
| sagt Wiegert-Richter. | |
| Alle Toten sind Angehörige der städtischen Oberschicht. Bürgermeister und | |
| Hofköche liegen hier, die Berufe reichen vom Kantor bis zum | |
| Klostersekretär. Und so viel über sie schon vorher durch die Schriftquellen | |
| bekannt war, so viel kam durch die Grabung dazu. Eine der Frauen, zeigte | |
| sich, hatte Syphilis. In den Archivquellen stand davon nichts. Einer der | |
| Männer hatte eine Arthrose der Halswirbelsäule. Weil bekannt ist, dass er | |
| Hofsekretär war, vermutlich jahrelang über Papiere gebeugt saß, lässt sich | |
| folgern, wie sie entstand. | |
| ## Das Besondere sind die Kinder | |
| Eine Schlüsselstelle war Grab 9, erzählt Melanie Wiegert-Richter. „Es ist | |
| das Grab einer schwangeren Frau, identifizierbar durch das Skelett des | |
| ungeborenen Kindes. Die Parzellennummer war bekannt. Dadurch konnte auf die | |
| Identität der Toten der Nachbargräber geschlossen werden.“ | |
| Das Besondere am Besonderen aber sind die [4][Kinder]. Ihre Skelette | |
| vermitteln eine verblüffende Botschaft: Obwohl die Kinder den höheren | |
| Schichten angehörten, wiesen sie starke Mangelerkrankungen auf, von | |
| Rachitis bis Skorbut. „Die Kindersterblichkeit war in dieser Zeit hoch“, | |
| sagt Grabungsleiterin Jungklaus. „Aber die Ergebnisse haben uns überrascht. | |
| Offenbar kamen die Kinder zu selten ins Sonnenlicht, anders als | |
| Bauernkinder, die sich viel im Freien aufgehalten haben.“ Hinzu kam falsche | |
| Ernährung. „Man wusste damals nicht, was ein Kind an Nährstoffen und | |
| Bewegung braucht“, sagt Jungklaus. Die Folgen habe man „als gottgegeben | |
| hingenommen“. | |
| Die [5][Grabung von Wolfenbüttel] sagt nicht nur etwas über 89 Tote. Gerade | |
| die Bestattungen der frühen Neuzeit eröffnen einen Blick tief hinein in die | |
| damalige Gesellschaft. Das Leben von Individuen erzählt uns hier etwas über | |
| das Leben einer ganzen Bevölkerungsschicht. Teil dieses Blicks in die | |
| Vergangenheit ist die Erkenntnis: Für Höherrangige, materiell | |
| Bessergestellte, war ihre Privilegiertheit zuweilen keine Quelle physischen | |
| Wohlbefindens. Im Grunde war es also damals wie heute. | |
| 14 May 2023 | |
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| [5] https://anthropologie-jungklaus.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Harff-Peter Schönherr | |
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