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# taz.de -- Archäologe über Republik Freies Wendland: „Gasmaskenfilter und …
> Der Archäologe Attila Dézsi hat mit früheren BewohnerInnen die Reste der
> Republik Freies Wendland ausgegraben. Ein Gespräch über bleibende
> Erinnerung.
Bild: Mit Pali-Feudel und Ostfriesennerz gegen die Räumung
taz: Herr Dézsi, wann ist Ihnen die Idee gekommen, die Überreste der
[1][Republik Freies Wendland] auszugraben?
Attila Dézsi: Das war am Ende meines Master-Studiums. Da fielen zwei Dinge
zusammen: Ich habe in Wien zeitgeschichtliche Archäologie studieren können
und war mir bewusst geworden, wie sehr sie gesellschaftliche
Erinnerungsprozesse unterstützen kann. Als ich mich näher mit dem
Protestcamp beschäftigte, dachte ich, dass das eine gute Gelegenheit ist,
beides zu verbinden.
Bei der Ausgrabung waren auch ZeitzeugInnen, also BewohnerInnen von damals,
dabei. Wie war das für Sie?
Ich fand es wichtig und absolut inspirierend. Sie werden mit einer völlig
neuen Perspektive konfrontiert, das regt viel zum Nachdenken an. Ich folge
einem Ansatz, der im Englischen „community archeology“ heißt, also
Involvieren von Öffentlichkeit. Für mich ist es eine ethische Frage, es so
zu machen. Bei der Archäologie, die sich um ehemalige Konzentrationslager
kümmert, hat es absolute Priorität, dass man Glaubensvertreter der Opfer
einbezieht, oder in der US-Archäologie werden Indigene einbezogen.
Was für neue Perspektiven haben die ZeitzeugInnen bei den Ausgrabungen
gefunden?
Ein Element ist, dass sich die Leute geehrt fühlten, dass ihre Geschichte
plötzlich ausgrabungswürdig ist. Innerhalb der Community war eine große
Frage: Wollen wir das überhaupt? Sind wir reif für das Museum oder sind wir
nicht eher eine aktive Bewegung, die auf gegenwärtige politische Prozesse
blicken soll? Es gab dann Gegenstimmen, die sagten: Wir müssen auch auf
unsere Erfahrungen gucken, um zu lernen, was geklappt hat und was nicht.
Vor Ort ist den Leuten aufgefallen, dass sie den Ort nicht mehr
wiederfinden konnten. Es wusste keiner von den Zeitzeugen mehr, wo das
Protestcamp eigentlich war.
Wie haben Sie es dann gefunden?
Wir haben alle verfügbaren historischen Quellen gesammelt, Luftbilder,
Erinnerungskarten und ich habe sie mit heutigen Satellitenbildern
abgeglichen.
Haben Sie auch PolizeibeamtInnen kontaktiert, die an der Räumung beteiligt
waren?
Ich habe erst kürzlich ein Gerät auf historischen Fotografien entdeckt, von
dem ich nicht wusste, was es ist, und mich dann mit Polizisten in
Verbindung gesetzt. Die meinten, es sei ein Nebelwerfer für Gas. Das fand
ich ganz erstaunlich, weil es in den Zeitzeugenberichten überhaupt nicht
vorkam. Ich habe auch eine Nachricht von einem Polizisten bekommen, der
sagte, er habe sich durch meine Grabungen an das erinnert, was er damals
erlebt hat. Er war dafür verantwortlich, die Hütten zu räumen und zu
überprüfen, dass niemand mehr drin war, wenn die Planierwalzen darüber
fuhren. Er meinte, es hätte wieder Albträume ausgelöst, dass er diese
Verantwortung hatte.
Sind auch PolizistInnen an den Ausgrabungsort gekommen?
Ja, einer. Der war neugierig. Wir hatten eine Abfallgrube aufgedeckt, die
wahrscheinlich der Polizei zuzurechnen ist. Er meinte: „Ja, das sind die
typischen Rationen, die wir bekommen haben.“ Er konnte mir den
Entstehungszusammenhang dieser Abfallgrube erklären, das war sehr
praktisch.
Gab es Kontakt zwischen ihm und ehemaligen Camp-BewohnerInnen?
Das hätte ich sehr schön gefunden. Ich hatte die Grabungen so ausgelegt,
dass viele Leute mitmachen und sich begegnen können, aber das ist nicht so
gut angekommen. Es war ein Filmteam da, das aus Zeitzeugen bestand und das
den Polizisten interviewte. Er meinte: Ich wäre eigentlich gern auf eurer
Seite gewesen, aber ich musste meinen Job machen. Wir mussten diese harten
Männer sein und konnten nicht mit den Alternativen sympathisieren.
Das Camp ist von Bulldozern planiert worden – macht es das archäologisch
betrachtet einfacher oder schwieriger, noch etwas zu finden?
Beides. Was oberflächlich auflag, Zelte und Gebäude in Blockbauweise, hat
sich nicht überliefert. Die Gebäude, die etwas tiefer eingegraben waren,
sind durch die Planierraupen verfüllt worden und damit perfekt für uns
erhalten. Wir haben ein Grubenhaus ausgegraben.
Gibt es Funde, die Sie besonders gefreut haben, oder ist da alles
gleichwertig?
Erst einmal sind alle Funde Quellen und spannend für mich, sogar die
unscheinbaren werden spannender, wenn man länger darüber nachdenkt. Aber
was zum Beispiel überraschend war, waren Gasmaskenfilter und Kabelbinder in
einer Abfallgruppe, die ziemlich sicher der Polizei zuzurechnen ist.
Normalerweise ist es selten in der Archäologie, dass sich Funde eindeutig
Einzelpersonen oder Gruppen zuweisen lassen. Und in der Hütte war der
letzte Moment vor der Räumung erhalten: das war ein sehr gemütlich
eingerichtetes Haus mit Matratzen auf dem Boden, mit Regal und Kerzen und
sogar noch Kleidung. Die Leute sind wahrscheinlich im letzten Moment
rausgegangen zum Dorfplatz, um sich räumen zu lassen, das so zu sehen, war
schon auch bewegend. Und wir haben die Zeitschrift Titanic gefunden, sehr
fragmentiert, das war ein eher lustiger Moment.
Was wird aus den Funden?
Jetzt sind sie im [2][archäologischen Institut in Hamburg], bis ich das
Ganze endgültig ausgewertet habe. Dann ist die große Frage, was damit wird:
Eigentlich ist es eine archäologische Fundstelle, damit sollten die Objekte
als bewegliche Denkmäler gelten und man könnte sich vorstellen, dass sie
dauerhaft im Landesmuseum archiviert werden. Dann gibt es aber auch die
Gegenmeinung, dass es möglich sei, dass die Besitzenden noch leben und dann
müsste man es den Einzelpersonen zurückgeben. Aber ich weiß nicht, wie man
Fensterüberreste irgendeiner Person aus dem Dorf zuweisen kann.
Sie haben auch Interviews mit den ZeitzeugInnen geführt. Was können die
Funde da hinzufügen, um den Alltag in der Freien Republik zu
rekonstruieren?
Die Zeitzeugen konnten sich in den Interviews kaum an konkrete Dinge
erinnern, die damals passiert sind.
Ich hätte gedacht, dass es als Ausnahmesituation eine so prägende Zeit war,
dass sie den Leuten in Erinnerung bleibt.
Ich habe mich gefragt, was macht diese Erfahrung konkret aus? Das Camp war
nicht nur als Protest, sondern auch als Experimentierraum für neue Formen
von Zusammenleben gedacht. Aber genau das blieb ziemlich schwammig. Vor
diesem Hintergrund konnte ich die Funde ganz anders interpretieren.
Was blieb den Leuten im Gedächtnis?
Es war eine Erfahrung von politischer Selbstermächtigung, man kann sich
organisieren und gemeinsam etwas erreichen. Die Leute sind ganz schön stolz
auf das, was damals passiert ist. Sie sagen, dass der Ort gar nicht so
wichtig ist, sondern die Prozesse, die daraus entstanden sind – das macht
es für mich schwieriger, herauszufinden, was dort eigentlich passiert ist.
Und dass man eine gemeinsame Erfahrung gemacht hat, die über die eigene
Randgruppe hinausging, dass man da plötzlich mit Landwirtinnen und
Landwirten, mit Pastoren und Anwohnern in direkten Kontakt kommt und merkt,
wie man sich gegenseitig hilft, weil man verbunden ist durch die Idee des
Protests. Das hat ganz schön Eindruck hinterlassen.
2 May 2020
## LINKS
[1] /40-Jahre-Republik-Freies-Wendland/!5680285
[2] https://www.uni-hamburg.de/forschung/transfer/forschungsinformationen/diens…
## AUTOREN
Friederike Gräff
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