# taz.de -- 40 Jahre Republik Freies Wendland: Die Bretterbudenrepublik | |
> Vor 40 Jahren riefen Anti-AKW-Aktivisten im Wendland die „Republik Freies | |
> Wendland“ aus. Bis heute hat diese Mikronation Bürger*innen. | |
Bild: Öko-Utopie im Mai 1980: Bürger*innen der Republik Freies Wendland in ih… | |
Berlin taz | Es muss irgendwann Anfang der Nullerjahre gewesen sein, als | |
ich im Publikum in der voll besetzten Kesselhalle des Bremer Kulturzentrums | |
Schlachthof drei Männern auf dem Podium gelauscht und zum ersten Mal davon | |
gehörte habe: von der „Republik Freies Wendland“. Die Aktivisten auf der | |
Bühne erläuterten den Plan, den bevorstehenden Castortransport nach | |
Gorleben zu blockieren. Sie waren langhaarig und trugen Schlabberklamotten | |
– zumindest in der Erinnerung, die sich im Nachhinein mit Klischees | |
angereichert haben mag (ganz sicher waren sie nicht adrett gekleidet und | |
noch sicherer trugen sie keine Anzüge). | |
Von Schienenbesetzungen sprachen sie, zivilem Ungehorsam, von | |
Basisdemokratie und von „den Bullen“. Wenn die Polizisten einen erwischten | |
– was bei Sitzblockaden mit eingepreist war, weil man nicht weglaufen, | |
sondern sich wegtragen lassen sollte – dann müsse man denen nicht viel | |
sagen, erklärte einer der Aktivisten, nur die grobe Berufsbezeichnung, | |
seine Adresse und Staatsangehörigkeit: „Vorzugsweise erklärt ihr dann, ihr | |
seid Bürger der Republik Freies Wendland“. | |
Am Ende jenes Infoabends ging auch ich mit einem der grünen „Wendenpässe“ | |
samt gelbem Wappen besagter Republik nach Hause. Der Pass wurde dort für | |
zehn Mark verkauft. Er funktionierte wie eine Spendenquittung und war doch | |
mehr. Die Irritation haftete ihm an, Dokument eines alternativen Staates zu | |
sein, den einfach auszurufen sich die Atomkraftgegner im Wendland getraut | |
hatten. Eine Ansage. Und für mich noch vielmehr: eine Absage an die BRD. | |
Immer noch Referenz, war die Besetzung der Waldlichtung zwischen Gorleben | |
und Trebel doch schon damals Jahrzehnte her, bei der die „Republik Freies | |
Wendland“ gegründet wurde. Am Sonntag jährt sich das nun zum 40. Mal: Am 3. | |
Mai 1980 hatten Atomkraftgegner nach einer Großdemonstration am Ort der | |
„Tiefbohrstelle 1004“ begonnen, ein provisorisches Dorf zu errichten, um | |
weitere Erkundungen zum Bau eines Atommüllendlagers zu verhindern. Den | |
Protest so richtig angeschoben hatte 1979 der große Treck von Bauern aus | |
Lüchow-Dannenberg nach Hannover. Die Besetzung war in den Anfangsjahren des | |
Protests im Wendland der vorläufige Höhepunkt. | |
## Ökospinner wurden Trendsetter | |
Nach und nach entstanden über 100 Hütten aus Holz und Lehm. Es habe sich | |
eine kurzzeitige Öko-Utopie entwickelt, mit Gemüsebeeten, freilaufenden | |
Hühnern, Windrädern und Sprecherrat samt Konsensprinzip – so erinnert sich | |
Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, der dabei war. | |
„Damals galten wir als Öko-Spinner, heute ist das Common Sense“, sagt er. | |
Die „Republik“ hielt nur ein paar Wochen: Am 4. Juni 1980 rückten Polizei | |
und Bundesgrenzschutz an und räumten. | |
Doch die Idee wirkte nach. Bis heute taucht die grüne Fahne aus dem | |
Wendland bei Umweltprotesten auf, zieren Aufkleber mit dem Wappen die | |
Heckklappen von lehrertypischen Volvo-Kombis. Womöglich funktioniert, dass | |
sich die Aktivisten im Wendland vor 40 Jahren nicht mit der schlichten | |
Deklaration ihrer „Republik“ begnügten, sondern sie mit allerlei Staffage | |
dekorierten, die auch bei anderen Staaten als Insignien die Macht | |
manifestieren sollen. Neben Fahne, Wappen, Pass und Stempel gab es am | |
Eingang des Hüttendorfes eine Grenzstation mit Schlagbaum. Sogar so etwas | |
wie einen Gründungsmythos hatte die Republik, wie ihn die Soziologie für | |
viele Nationbuilding-Prozesse ausmacht: Die Besetzung schloss sich an eine | |
Großdemonstration an unter dem Motto „Kampftag der Wenden“, eine alte | |
Bezeichnung für Slawen in Deutschland, von der der Name des Wendlands | |
abgeleitet ist. | |
Nun kann man sich Fragen, warum die kritischen Aktivisten unbedingt eine | |
Republik ausrufen mussten, wo sie doch auch eine Kommune hätten gründen | |
können. Aber ohnehin macht ja all das noch keinen richtigen Staat. Oder | |
doch? Denn was unterscheidet einen „echten“ von einem Fantasiestaat, wenn | |
man feststellt, dass auch die heutigen Nationen historisch gewachsen sind – | |
real abstrakte Gebilde, die sich im Zweifel durch die Hand der Polizei | |
manifestieren, die die Gesetze durchdrückt? | |
Ein Staat, so meinte der italienische Philosoph Antonio Gramsci, sei | |
„Hegemonie, gepanzert mit Zwang“. Der Marxist betont demnach das | |
Gewaltmonopol und die staatliche Befähigung, dieses durchzusetzen. Klar: | |
Das war die Sache der Umweltaktivisten nicht. Der Bremer Historiker Moritz | |
Zeiler, Autor einer Einführung in die materialistische Staatskritik, weist | |
aber darauf hin, dass bei Gramscis Staatsdefinition neben der Repression | |
auch die Legitimation von Herrschaft wichtig sei. „Das meint eine Bejahung | |
und Duldung des Staates sowohl von innen wie auch von außen“, erklärt | |
Zeiler. | |
Für einen Staat reicht es also nicht, dass sich ein paar Hippies im | |
Wendland Pässe drucken und als potenzielles Staatsvolk die selbst | |
gegebenen Regeln akzeptieren. Aber: Die Akzeptanz nach innen ist durchaus | |
ein Anfang. Gleichwohl fehlte – das wurde spätestens mit der Räumung klar �… | |
ein Mindestmaß an äußerer Akzeptanz für den Wendland-Staat. Diplomatische | |
Beziehungen: Fehlanzeige. | |
## Vorwurf des Hochverrats | |
Obwohl nach der Räumung in einigen Städten immerhin „Botschaften“ der | |
Republik entstanden – ein Jahr lang wurde unter diesem Motto eine Besetzung | |
samt Hütte am Bremer Kennedy-Platz geduldet und über den | |
„Bretterbudenstaat“ debattiert, wie ihn der Weser-Kurier nannte. | |
Tatsächlich sollen Aktivisten mit den Wendland-Pässen sogar bis auf die | |
griechischen Inseln gereist sein, so lautet eine der Legenden. 2010 stellte | |
Elke Mundhenk, grüne Bürgermeisterin von Dannenberg, dem Whistleblower | |
Edward Snowden einen Wendenpass aus – medial begleitet vom Norddeutschen | |
Rundfunk, der die Bürgermeisterin ganz selbstverständlich als „Bürgerin der | |
von Atomkraftgegnern ins Leben gerufenen Republik“ vorstellte und über den | |
„[1][Deutschen Pass für Edward Snowden]“ gewohnt seriös berichtete. | |
1980 wäre die Bürgermeisterin damit nicht durchgekommen. [2][Wie die taz | |
berichtete], hielt der damalige niedersächsische CDU-Innenminister Egbert | |
Möcklinghoff die Ausrufung der „Republik Freies Wendland“ für „Hochverr… | |
gegen die Bundesrepublik Deutschland“, weil ein Teil des Territoriums der | |
BRD abgespalten werde. | |
## Kinderkram oder Hochverrat? | |
Aber war es das nicht auch? Heute erklären Verwaltungsjuristen, | |
Hoheitszeichen von Fantasie-Staaten herzustellen sei kein Hochverrat, | |
sondern Kinderkram. Erst, wenn ein Dokument den Anschein erwecke, | |
Hoheitszeichen eines echten Staates zu sein, werde es illegal. Andere | |
Regeln gelten aber beispielsweise in Bezug auf das Überkleben des | |
EU-Wappens auf Nummernschildern, wie es im Wendland mit dem eigenen | |
Republik-Wappen zu beobachten war. Offiziell entspricht das Kraftfahrzeug | |
damit laut Fahrzeug-Zulassungsverordnung nicht mehr den gesetzlichen | |
Bestimmungen und müsste stillgelegt werden. All das war den | |
protesterprobten Wendländern natürlich egal. | |
So differenziert ausformuliert allerdings sind diese Bestimmungen heute, | |
weil die Ausrufung eigener Fantasiestaaten in den letzten Jahren eine | |
Hochkonjunktur erlebte – allerdings von rechts. Behörden haben es | |
mittlerweile regelmäßig mit sogenannten Reichsbürgern zu tun, meist, wenn | |
die sich weigern, Steuern oder Abgaben an die Bundesrepublik zu zahlen. | |
Reichsbürger ist ein Sammelbegriff für eine Gruppe, unter denen | |
unterschiedliche rechte Steuerschuldner, Selbstverwalter und | |
Verschwörungsideologen zusammengefasst werden, die alle gemeinsam haben, | |
dass sie die Bundesrepublik nicht akzeptieren. 1.350 von bundesweit 19.000 | |
dieser Spinner zählt das Landesamt für Verfassungsschutz allein für | |
Niedersachsen. | |
## Fantasievoller Widerstand | |
Manche weigern sich, zur angeblichen „BRD-GmbH“ zu gehören – und geben i… | |
„Personal“-Ausweise zurück. Andere meinen, das Deutsche Reich müsste in | |
seinen Grenzen von anno dazumal fortbestehen. Und wieder andere gründen | |
eben einfach ihre eigenen Staaten, wie das „Fürstentum Germania“, bei dem | |
der Worpsweder Braun-Esoteriker Jo Conrad dabei war, oder das „Königreich | |
Deutschland“ des selbsternannten Monarchen Peter Fitzek im | |
sachsen-anhaltinischen Wittenberg. Auch Fitzek hatte ein Gelände mit | |
Schlagbaum, hatte Wappen und eigene Nummernschilder. | |
Gleichwohl wäre es falsch, die rechten Fantasienationen mit der Öko-Utopie | |
im Wendland gleichzusetzen. Denn die Reichsbürger sind manchmal | |
gewalttätig, oft antisemitische Hetzer und immer auch | |
Verschwörungsideologen. Der wichtigste Unterschied aber ist ihr | |
Realitätsverlust – und ihre Ironiefreiheit. Reichsbürger meinen es ernst. | |
Im Wendland ging es mit der Republik um das Gegenteil: „Es war natürlich | |
eine Karikatur“, sagt Umweltaktivist Ehmke. „Es war ein großes Theaterstü… | |
und ging um fantasievollen Widerstand. Schlagbaum und Pass sollten ein | |
großer Spaß sein.“ Die Polizei habe man ärgern wollen, ansonsten ging es um | |
Öffnung. „Tausende kamen zu Besuch.“ | |
Damals sei allen klar gewesen, dass man mit Strafverfahren habe rechnen | |
müssen. Man habe das bei Gesetzesüberschreitungen bewusst in Kauf genommen. | |
„Es ging uns um eine notwendige Korrektur politischer Fehlentwicklungen | |
durch Aktionen zivilen Ungehorsams“, sagt Ehmke. Dass man, wo man anders | |
nicht weiterkommt, irgendwann entschlossene Aktionen brauche, sehe man | |
heute bei Fridays for Future. Für Ehmke ein Erbe des Protests, der bei | |
Gorleben einen seiner Anfänge nahm. | |
1 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://web.archive.org/web/20151226134230/http://www.ndr.de/nachrichten/ni… | |
[2] /30-Wendland-Jahrestag/!5141577 | |
## AUTOREN | |
Jean-Philipp Baeck | |
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