| # taz.de -- Dokumentation „Wir alle. Das Dorf“: Wir bau’n uns unsere Utop… | |
| > In ihrem Film „Wir alle. Das Dorf“ erzählen Antonia Traulsen und Claire | |
| > Roggan von einem alternativen Bauprojekt im Wendland. | |
| Bild: Kind, Haus und Gemeinschaft im Wendland: Für manche ist es der Lebenstra… | |
| Sabrina Scheffold steht im Regen auf einem Feld, das gerade vermessen wird. | |
| Sie deutet auf ein nasses Stück Gras und verkündet stolz, dass dort einmal | |
| ihr Wohnzimmer sein wird. So beginnt die Dokumentation „Wir Alle. Das Dorf“ | |
| von Antonia Traulsen und Claire Roggan. | |
| Und so ist man von der ersten Minute an gespannt darauf, ob die Erzieherin | |
| und alleinerziehende Mutter von drei Kindern am Ende des Films tatsächlich | |
| dort in ihrer Wohnung leben wird. Diese Spannung soll hier auch nicht | |
| verdorben werden. Es sei nur soviel gesagt, dass Sabrina Scheffold sich | |
| kompromisslos in diese Utopie stürzte, dass sie ihre Wohnung kündigte, | |
| obwohl noch nicht abzusehen war, ob und wann das Haus fertig sein würde, | |
| und dass sie dann monatelang mit ihrer Familie in zwei Bauwagen auf der | |
| Baustelle wohnte. | |
| Sabrina ist die radikalste Protagonistin in diesem Film, der von der | |
| Gründung eines Dorfes im Jahr 2016 erzählt. Im Wendland bei Hitzacker, also | |
| in einer Gegend, in der sich im jahrelangen Kampf gegen das atomare | |
| Endlager in Gorleben eine Kultur des politischen Widerstands und | |
| alternativen Lebens entwickelte, soll ein „interkulturelles | |
| Generationsdorf“ gebaut werden. Ältere Menschen, Familien mit Kindern und | |
| Geflüchtete sollen in je einem Drittel der Wohnungen einziehen. Die | |
| Gründer*innen wollen ihr Dorf möglichst selber aufbauen, in die | |
| Genossenschaft kann man sich mit 500 Euro einkaufen und der Bau wird 15 | |
| Millionen Euro kosten. | |
| Ein utopisches Projekt, das von Hauke Stichling-Pehlke und Thomas | |
| Hagelstein gegründet wurde: zwei Tatmenschen voller Energie und Visionen, | |
| wie es sie in der alternativen Szene der 1980er Jahre so oft gab, dass sie | |
| fast schon zum Klischee wurden. | |
| Bei der Gründungsversammlung herrscht eine ausgelassene Aufbruchstimmung: | |
| der Traum vom Wohnen in einer Gemeinschaft und zu Mieten, die sich jede und | |
| jeder leisten kann, steckt an. Ein lesbisches Rentnerinnenpaar aus Hamburg | |
| und eine linksalternative Familie mit kleinen Kindern aus Berlin sind von | |
| Anfang an mit dabei, und die Filmemacherinnen werden sie knapp vier Jahre | |
| lang mit der Kamera begleiten. | |
| Geflüchtete sind zwar bei den „Generalversammlungen“ dabei, doch unter | |
| ihnen finden sich keine, die länger an dem Projekt mitarbeiten. Sie haben | |
| andere Sorgen: viele sind in Deutschland nur geduldet und nur wenige können | |
| sich vorstellen, im Wendland sesshaft zu werden. Sie ins Projekt zu | |
| integrieren wird das angestrebte, doch kaum erreichbare Ideal der Gründer | |
| bleiben, und so gibt es auch in der Dokumentation immer nur kleine, kurze | |
| Auftritte von Menschen mit Migrationshintergrund, die immer wieder als | |
| Realitätschecks beim Verwirklichen der Utopie wirken. | |
| Das ist vor allem mit viel Arbeit verbunden, und die besteht nicht darin, | |
| dass alle mal mit anpacken und an einem Tag ein Holzhaus errichten. Dieses | |
| Klischee aus amerikanischen Spielfilmen wie „Der einzige Zeuge“ wird zwar | |
| einmal kurz zitiert, wenn im Zeitraffer viele gemeinsam das Holzgerüst des | |
| ersten Hauses zusammenfügen. Aber Traulsen und Roggan arbeiten nur sparsam | |
| mit solchen romantischen Bildern von der Arbeit im Kollektiv. | |
| Stattdessen zeigen sie die Gründer Hauke und Thomas auch in Momenten, in | |
| denen sie müde und enttäuscht sind. Die Rentnerinnen Rita Lassen und Käthe | |
| Stäcker, die für die Organisation und Buchhaltung verantwortlich sind, | |
| haben sogar einen Burnout und ziehen sich eine Zeit lang ganz vom Projekt | |
| zurück. | |
| Und natürlich gibt es Widerstand von Nachbarn, lange Verfahren um die | |
| Baugenehmigung, juristische Widersprüche und böse Leserbriefe in der | |
| Lokalzeitung. Im Film wird diese Ebene mit Auszügen aus amtlichen Schreiben | |
| illustriert und wenn die Bilder nicht genug erzählen können oder längere | |
| Zeitsprünge erklärt werden müssen, liefert eine weibliche Erzählstimme, die | |
| auch „wir“ sagt, also direkt für die Filmemacherinnen spricht, die nötigen | |
| Informationen. | |
| Der Titel „Wir alle. Das Dorf“ ist auch deshalb programmatisch, weil dieses | |
| „Wir“ die Filmemacherinnen mit einbezieht. Ihr Film ist parteiisch, er | |
| wirkt zum Teil wie ein politisches Lehrstück, in dem die Widerstände | |
| bewältigt und die Widersprüche durch geduldiges Verhandeln aufgelöst | |
| werden. In diesem Sinne steht „Wir alle“ in der Tradition von politischen | |
| Filmen und Videos aus dem Wendland wie etwa „Gorleben: der Traum von einer | |
| Sache“, die sich in den 1980er- und 90er-Jahren zu einem kleinen Subgenre | |
| entwickelten. | |
| Ein warmer Gegenstrom zu diesem eher analytischen Stil des Filmemachens | |
| entsteht dadurch, dass viel aus der Perspektive einer Handvoll von | |
| Protagonist*innen erzählt wird. Eine Langzeitbeobachtung hat ja auch | |
| immer den Reiz, dass man der Zeit bei der Arbeit zusehen kann. Die Menschen | |
| verändern sich in diesen vier Jahren, die Kinder werden größer und bei der | |
| Berliner Kleinfamilie geschieht ein Drama, weswegen sie sich lange vom | |
| Projekt zurückziehen. | |
| Traulsen und Roggan rücken ihren Protagonist*innen nie zu nah auf den | |
| Pelz, und wenn das Kamerateam etwa zur Hochzeit von Rita und Käthe in einer | |
| Kneipe im Wendland eingeladen wird, bewahren sie auch dabei eine höfliche | |
| Distanz. | |
| Sabrina Scheffold ist dagegen auch bei den Dreharbeiten furchtlos. Ohne | |
| Eitelkeit lässt sie eine überraschende Nähe zu, wenn sie zeigt, wie sie das | |
| Chaos von mehreren Umzügen mit den Kindern bewältigt, mit welchem stoischen | |
| Selbstvertrauen sie mitten im Winter in die Bauwagen zieht und wie sie nie | |
| ihren Traum vom Leben im eigenen Dorf aus den Augen verliert. Sie ist die | |
| heimliche Heldin dieses Films. | |
| 23 Jul 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Wilfried Hippen | |
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