# taz.de -- Antisemitismus-Vorwurf gegen Aiwanger: Nazi-Geschmier in der Schult… | |
> Der bayerische Vize-Ministerpräsident Aiwanger hatte als Schüler eine | |
> antisemitische Hetzschrift in der Tasche. Verfasst haben will sie sein | |
> Bruder. | |
Bild: Hat einiges zu erklären: Hubert Aiwanger | |
Natürlich ist es ein „antisemitisches Flugblatt“, wie am Wochenende in den | |
Nachrichten verlautete. Und doch greift die Bezeichnung fast ein wenig kurz | |
für das Machwerk, mit dem der stellvertretende Ministerpräsident Hubert | |
Aiwanger in Verbindung gebracht wird. Deshalb ist es notwendig, aus dem | |
Pamphlet zu zitieren, das Ende der achtziger Jahre in der Schultasche des | |
damaligen Gymnasiasten gefunden wurde: Ein Bundeswettbewerb mit dem Titel | |
„Wer ist der größte Vaterlandsverräter?“ wird darin ausgerufen – in | |
Anspielung auf einen tatsächlichen Geschichtswettbewerb, an dem das | |
Burkhart-Gymnasium im niederbayerischen Mallersdorf-Pfaffenberg damals | |
teilnahm. | |
Man möge sich im „Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch�… | |
melden, heißt es im maschinengeschriebenen Flugblatt. Als ersten Preis gebe | |
es einen „Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“, als weitere Preise | |
einen „lebenslänglichen Aufenthalt im Massengrab“, einen „kostenlosen | |
Genickschuss“, und, und, und. Auch vom „Vergnügungsviertel Auschwitz“ ist | |
die Rede. | |
Übelste Verhöhnung von Holocaust-Opfern also, und alles andere als ein | |
Schulbubenstreich. Aiwanger, seines Zeichens Chef der Freien Wähler, | |
bayerischer Wirtschaftsminister und Stellvertreter von | |
[1][Ministerpräsident Markus Söder] (CSU), soll, so schrieb die Süddeutsche | |
Zeitung (SZ) in ihrer Wochenendausgabe, die Hetzschrift verfasst haben. Die | |
Zeitung beruft sich dabei auf rund zwei Dutzend Personen aus Aiwangers | |
damaligem Umfeld, darunter Lehrer und Klassenkameraden. Mehrere von ihnen | |
hätten gesagt, Aiwanger sei als Urheber des Pamphlets „zur Verantwortung | |
gezogen worden“. | |
Ein Lehrer, der dem Disziplinarausschuss angehört habe, habe der SZ gesagt, | |
er habe „Aiwanger als überführt betrachtet, da in seiner Schultasche Kopien | |
des Flugblatts entdeckt worden waren“. Ein Kollege wiederum habe darauf | |
hingewiesen, dass der knapp 17-Jährige, offenbar sogar Schülersprecher, die | |
Urheberschaft nicht bestritten habe. | |
Das tut der heute 53-Jährige dafür umso heftiger. Über die Pressestelle der | |
Freien Wähler ließ der Politiker am Samstagnachmittag verbreiten: Zum einen | |
habe er das fragliche Papier nicht verfasst und erachte den Inhalt als | |
ekelhaft und menschenverachtend. Der Verfasser sei ihm allerdings bekannt | |
und werde sich selbst erklären. „Weder damals noch heute war und ist es | |
meine Art, andere Menschen zu verpfeifen.“ | |
In seiner Schultasche seien „ein oder wenige Exemplare“ der Hetzschrift | |
gefunden worden, er sei daraufhin zum Direktor einbestellt und ihm mit der | |
Polizei gedroht worden. Alternativ sei ihm angeboten worden, ein Referat zu | |
halten. „Dies ging ich unter Druck ein.“ Ob er einzelne Exemplare des | |
Flugblatts weitergegeben habe, sei ihm nicht mehr erinnerlich. | |
Kurz nach Aiwangers Statement bekannte dann im Telefonat mit der Passauer | |
Neuen Presse ein anderer damaliger Schüler des Gymnasiums, das Papier | |
verfasst zu haben: Helmut Aiwanger, der ein Jahr ältere Bruder des heutigen | |
Ministers. Er sei wütend gewesen, weil er sitzengeblieben war und die | |
Klasse wiederholen hatte müssen. | |
Hatte Hubert Aiwanger das Flugblatt also nicht verfasst? War Aiwanger in | |
der Sache tatsächlich das Opfer, das bedroht und „unter Druck“ gesetzt | |
wurde, wie er es darstellt? Der Ehrenmann, der niemanden verpfeift? Bislang | |
gibt es auf keine der Fragen eine befriedigende Antwort. | |
Als Helmut Aiwanger, über den weiter nichts bekannt ist, sich zu Wort | |
meldete, war die Diskussion um die politische Zukunft seines Bruders längst | |
in vollem Gange. [2][Die Oppositionsführer Katharina Schulze] und Ludwig | |
Hartmann (beide Grüne) forderten für den Fall, dass sich die Vorwürfe | |
bewahrheiten sollten, die Entlassung Aiwangers durch Regierungschef Söder. | |
SPD-Chef Florian von Brunn verlangte diese unverzüglich. Söder selbst | |
forderte zunächst lediglich Aufklärung von Aiwanger. „Es sind schlimme | |
Vorwürfe im Raum. Dieses Flugblatt ist menschenverachtend, geradezu eklig.“ | |
Die Freie-Wähler-Fraktion wiederum sprang Aiwanger umgehend zur Seite. Der | |
Parlamentarische Geschäftsführer Fabian Mehring sprach von einer Kampagne | |
sechs Wochen vor den Landtagswahlen – „nachdem wir Freie Wähler auf der | |
politischen Erfolgswelle schwimmen“. | |
Letzteres stimmt freilich. Auf dem Land, erwarten führende CSU-Politiker, | |
werde es mit den Freien Wählern einen Kampf „Bauernhof um Bauernhof“ geben. | |
Bei 11 bis 14 Prozent der Stimmen sahen die Umfragen die Freien Wähler | |
zuletzt, während deren Frontmann Aiwanger hemdsärmlig und schweißgebadet | |
durch die bayerischen Bierzelte zieht. Wie ein Popstar wird er dort | |
empfangen. | |
Während ihm jenseits der Bierzelte nicht selten Populismus vorgeworfen | |
wird, feiert man ihn hier als „einen von uns“. Und in der Tat: Bei der | |
Landbevölkerung kann sich Aiwanger wesentlich überzeugender als „Mann des | |
Volkes“ in Szene setzen als beispielsweise Ministerpräsident Markus Söder. | |
Aiwanger stammt von einem Bauernhof im niederbayerischen Rahstorf. Ob es | |
stimmt, dass er – wie die SZ ebenfalls unter Berufung auf anonyme Quellen | |
berichtet und Aiwanger bestreitet – vor dem Spiegel Hitler-Reden | |
einstudiert und „Mein Kampf“ gelesen haben soll, sei dahingestellt. Aktiv | |
war er damals lediglich in der katholischen Landjugend, deren Vorsitzender | |
er sieben Jahre lang war. | |
Später dann studierte er Agrarwissenschaften, wurde Schweinebauer. 2002 | |
trat er den Freien Wählern bei – einer Partei, die irgendwie nie so recht | |
Partei sein wollte. Ihre Bedeutung zogen die Freien Wähler aus der | |
Kommunalpolitik, wo sie in Bayern schon seit Jahrzehnten eine wichtige | |
Rolle spielen – vor allem auf dem Land. Dort sitzen sie in zahlreichen | |
Gemeinderäten, stellen Bürgermeister und Landräte. Viele ihrer Vertreter | |
sind unzufriedene ehemalige Christsoziale. Als „Fleisch vom Fleisch der | |
CSU“ werden sie gern bezeichnet, die inhaltlichen Unterschiede der beiden | |
konservativen Parteien sind überschaubar. | |
Ihre Stärken habe die Freien Wähler bei Themen, die ihre Klientel vor Ort | |
ganz unmittelbar betreffen. Den Landtagswahlkampf 2018 bestritten sie zu | |
einem großen Teil mit der Forderung nach einer Abschaffung der | |
Straßenausbaubeitragssatzung, kurz: „Strabs“. Anfangs wurden sie dafür von | |
der CSU belächelt, dann saßen sie neben ihr in der Regierung. | |
Außerhalb des Freistaats spielen die Freien Wähler keine allzu große Rolle, | |
Rheinland-Pfalz ist neben Bayern das einzige Land, in dessen Landtag die | |
Partei – seit 2021 – sitzt. Dass die Freien Wähler in Bayern den Schritt | |
auf die Landesbühne überhaupt gewagt und dann auch geschafft haben, ist | |
nahezu ausschließlich Aiwangers Werk. 2006 wurde der damals noch weitgehend | |
unbekannte Politiker auf der Delegiertenversammlung in Garching in einer | |
Stichwahl zum Landesvorsitzenden gewählt. Während die Freien Wähler auf | |
Landesebene ihre Eigenständigkeit behielten, wurde der Landesverband | |
innerhalb kürzester Zeit zur One-Man-Show. | |
Niemand drängt sich auch nur im Ansatz als mögliche Nachfolgerin oder | |
möglicher Nachfolger auf. Würde die Partei ihres Vorsitzenden verlustig | |
gehen, müsste sie sich komplett neu aufstellen. 2008 führte Aiwanger seine | |
Partei in den Landtag, 2018 in die gemeinsame Regierung mit der CSU. Dort | |
ereilte sie dann nicht das Schicksal anderer Juniorpartner wie etwa der | |
FDP, die sich zwischen 2008 und 2013 im Bündnis mit der CSU hat aufreiben | |
lassen. | |
Aiwanger war von jeher einer, der gern Grenzen austestete. „Ich verteidige | |
da die normale Welt gegen die in meinen Augen verrückte Welt. Da stelle ich | |
mich in den Weg.“ So formulierte er es mal im Münchner Merkur. Vorläufiger | |
Höhepunkt dieses Kampfs gegen die verrückte Welt war eine Kundgebung | |
[3][Mitte Juni in Erding], wo er vor rund 13.000 Demonstranten forderte, | |
die „schweigende große Mehrheit dieses Landes“ müsse sich „die Demokrat… | |
wieder zurückholen“. [4][Bester AfD-Duktus.] | |
Vor diesem Hintergrund wiegen die neuen Vorwürfe schwerer, als sie das | |
eventuell bei einem des Rechtspopulismus völlig unverdächtigen Politiker | |
täten. Wie sie sich auf den Wahlkampf auswirken, ist jedoch nicht im | |
Geringsten vorauszusehen. Folgen potenzielle Wähler Aiwangers Theorie der | |
Schmutzkampagne und wählen nun erst recht Freie Wähler? Oder schrecken sie | |
sie ab? Verschiebungen sind vor allem zwischen Freien Wählern und CSU, aber | |
auch zwischen Freien Wählern und AfD denkbar. | |
In einer besonders unglücklichen Lage befindet sich nun Markus Söder. | |
Bislang hat sich der CSU-Chef dezidiert für eine Fortsetzung der Koalition | |
mit den Freien Wählern ausgesprochen. Eine Entlassung Aiwangers und damit | |
den Bruch der Regierung wird er auf jeden Fall verhindern wollen. | |
Andererseits könnte es ihm auch manche Wählerin übelnehmen, wenn er die | |
Causa nun herunterspielt. | |
Aiwanger stand am Sonntag schon wieder am Rednerpult. Bei einer Feier | |
anlässlich des 125-jährigen Bestehens des Rinderzuchtverbands Franken | |
sprach er in Ansbach ein rund 30-minütiges Grußwort. Zu den | |
Antisemitismusvorwürfen sagte er bei der Gelegenheit – nichts. | |
27 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Markus-Soeder-im-Wahlkampf/!5947595 | |
[2] /Wahlkampf-mit-Argrarminister-Oezdemir/!5952140 | |
[3] /Soeder-bei-Heizungsdemo-in-Erding/!5937347 | |
[4] /Aiwanger-und-der-Populismus/!5941100 | |
## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
## TAGS | |
Hubert Aiwanger | |
Freie Wähler | |
Landtagswahl Bayern | |
Bayern | |
Antisemitismus-Vorwurf | |
GNS | |
Landtagswahl Bayern | |
Landtagswahl Bayern | |
Landtagswahl Bayern | |
Antisemitismus | |
Landtagswahl Bayern | |
Hubert Aiwanger | |
Hubert Aiwanger | |
Landtagswahl Bayern | |
Markus Söder | |
Hubert Aiwanger | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Landtagswahl in Bayern in Grafiken: Schwarzes Land mit gelben Flecken | |
Die CSU gewinnt fast alle Wahlkreise. Zwei verliert sie an die Freien | |
Wähler, zwei holt sie von den Grünen zurück. Die verlieren sogar an die | |
AfD. | |
Die Causa Aiwanger und ihre Folgen: Jetzt erst rechts? | |
Nach dem Bekanntwerden des antisemitischen Flugblatts gibt sich Söder | |
empört über seinen Vize, scheut aber Konsequenzen. Wie geht's in Bayern | |
weiter? | |
Aiwangers Entschuldigung: Reumütig geht anders | |
Hubert Aiwanger hatte viel Zeit für eine Entschuldigung – und ließ sie | |
verstreichen. Das Schauspiel, das er nun bietet, ist erbärmlich. | |
Antisemitismus in Deutschland: Tatort Straße | |
Antisemitische Angriffe haben in Deutschland traurige Kontinuität. Im | |
Bereich extremer Gewalt haben die Fälle laut Meldestellen zuletzt | |
zugenommen. | |
Causa Aiwanger: 25 Fragen – und gut ist’s? | |
In der Flugblattaffäre sind noch immer viele Fragen offen. 25 von ihnen | |
bekommt Hubert Aiwanger jetzt von seinem Koalitionspartner schriftlich. | |
Affäre um Nazi-Pamphlet: Söder bestellt Aiwanger ein | |
Ministerpräsident Söder genügt die dürre Erklärung Aiwangers in Sachen | |
Nazi-Flugblatt nicht. Jetzt muss der sich im Koalitionsausschuss | |
rechtfertigen. | |
Hubert Aiwanger und das Nazi-Pamphlet: Die Unschuld längst verloren | |
Auch wenn das widerliche Flugblatt nicht von Hubert Aiwanger verfasst | |
worden ist, bleiben zu viele Fragen. Eine Entschuldigung hingegen fehlt. | |
Wahlkampf mit Argrarminister Özdemir: Bayrische Bauern übertönen Grüne | |
Landwirtschaftsminister Özdemir und die grüne bayrische Spitzenkandidatin | |
Schulze treffen im Chiemgau wütende Landwirte und rechte Pöbler. | |
Markus Söder im Wahlkampf: Der Würstchen-Populist | |
Markus Söder schürt Ängste und nimmt es mit Fakten nicht so genau. Stellt | |
sich in Bayern im Herbst ein kleiner Trump zur Wiederwahl? | |
Aiwanger und der Populismus: Der So-isser-halt-Hubsi | |
Hoch geht es her im bayerischen Landtag: Die Grünen fordern die Entlassung | |
des populistischen Wirtschaftsministers Aiwanger – vergeblich. |