# taz.de -- Causa Aiwanger: 25 Fragen – und gut ist’s? | |
> In der Flugblattaffäre sind noch immer viele Fragen offen. 25 von ihnen | |
> bekommt Hubert Aiwanger jetzt von seinem Koalitionspartner schriftlich. | |
Bild: Hausaufgaben für Aiwanger: Söder will rasch umfangreiche Antworten | |
MÜNCHEN taz | Es ist Wahlkampf in Bayern, und fast könnte man meinen: | |
business as usual bei den Regierungsparteien. Die CSU-Pressestelle | |
verschickt am Dienstagvormittag eine Einladung zu einer „Radl-Tour zum | |
Radi-Essen“ mit Parteichef Markus Söder. Gut, den bayerischen | |
Ministerpräsidenten mit vegetarischer Kost zu sehen, ist etwas Besonderes, | |
ansonsten ist es aber doch ein klassischer Söder-Wahlkampftermin. | |
Kurz zuvor hat auch das bayerische Wirtschaftsministerium kommende Termine | |
von Minister Hubert Aiwanger verschickt: Am Freitag etwa besucht er das | |
Unternehmen Proton Motor Fuel Cell in Fürstenfeldbruck, am Samstag hält er | |
eine Festrede beim Karpfhamer Fest und am Sonntag ein Grußwort bei der | |
Historischen Reiter- und Kutschengala in Oberschleißheim. | |
Doch in Wirklichkeit interessieren sich am Dienstagvormittag in Bayern | |
nicht viele für Radi und Protonen. Während die Terminankündigungen in die | |
E-Mail-Postfächer der Journalisten flattern, warten diese gespannt auf den | |
Ausgang der Krisensitzung in der Staatskanzlei, dem ersten | |
Aufeinandertreffen von Söder und Aiwanger seit Bekanntwerden der | |
Flugblattaffäre. | |
[1][In einer Sondersitzung des Koalitionsausschusses], die vor der | |
regulären Kabinettssitzung anberaumt wurde, muss sich Aiwanger | |
rechtfertigen: Was hat er mit dem Nazi-Pamphlet zu tun, dass Ende der | |
achtziger Jahre an seiner Schule und insbesondere auch in seiner | |
Schultasche auftauchte? Wer war sein Verfasser? Er selbst? Sein Bruder? | |
Beide zusammen? Hat er es weiter verteilt? Dies wären mögliche Fragen, die | |
man ihm stellen könnte. Was Hubert Aiwanger und sein Bruder Helmut in den | |
vergangenen drei Tagen dazu zum Besten gegeben haben, hat den | |
christsozialen Koalitionspartner bislang wenig überzeugt. Aber auch diese | |
Sitzung, so wird bald klar, kann die Zweifel nicht zerstreuen. | |
Es ist kurz nach 12 Uhr, [2][als dann schließlich Markus Söder im | |
Prinz-Carl-Palais gleich neben der Staatskanzlei vor die Presse tritt]. | |
Allein. Hubert Aiwanger, der sich sonst so gern kritischen Fragen stellt, | |
vor keiner Auseinandersetzung zurückscheut, ist nicht dabei. Und auch der | |
für gewöhnlich recht redselige Ministerpräsident beschränkt sich heute auf | |
das Nötigste. Nachfragen sind nicht gestattet, das kündigt Söders Sprecher | |
gleich zu Beginn an. | |
## Entlassung wäre „ein Übermaß“ | |
Es sind zwei Kernbotschaften, die Söder in den folgenden sechs Minuten ganz | |
offensichtlich rüberzubringen versucht. Zum einen: Er ist hier der Chef, | |
der hart, aber besonnen durchgreift, der sich von einem widerspenstigen | |
Aiwanger nicht auf der Nase herumtanzen lässt, sondern ihn [3][wie weiland | |
der Direktor des Burkhart-Gymnasiums in Mallersdorf-Pfaffenberg] | |
einbestellt und ihm aufzeigt, wo die roten Linien verlaufen. Zum anderen: | |
Die Koalition ist nicht in Gefahr. | |
Zunächst wiederholt Söder in seinem abgelesenen Statement, was von dem | |
Flugblatt zu halten ist, das seit Samstag nicht nur die Landespolitik | |
beschäftigt: Ekelhaft, widerlich, übelster Nazijargon – das sind die | |
Vokabeln, die der Ministerpräsident bemüht. Und ganz bestimmt kein | |
Dummejungenstreich, da stecke eine „ganz andere Energie“ dahinter. Allein | |
der Verdacht, es könne von Aiwanger stammen, beschädige das Ansehen | |
Bayerns. | |
An ihm als Ministerpräsident sei es nun, verantwortungsvoll und vernünftig | |
zu entscheiden – ohne „Vorverurteilung oder gar ein Übermaß“. Die auf | |
anonyme Quellen gestützten Recherchen der Süddeutschen Zeitung (SZ) | |
reichten für eine Bewertung des Sachverhalts aber nicht aus, so Söder. | |
Aiwanger aktuell zu entlassen wäre „ein Übermaß“. | |
Es sei „wichtig, um diese Verdachtsmomente auszuräumen und jeden Verdacht | |
zweifelsfrei zu zerstreuen, Gelegenheit zur Äußerung zu geben“, sagt Söder. | |
Deshalb habe man Aiwanger heute gehört, ihn befragt. Um welche | |
Verdachtsmomente es in seinen Augen genau geht, verrät Söder nicht. Nur um | |
die Frage der Urheberschaft des Pamphlets? Welcher Verdacht müsste sich | |
bestätigen, dass sein Stellvertreter nicht mehr tragbar wäre? Dazu äußert | |
sich der Regierungschef nicht. Nur dass die heutigen Aussagen Aiwangers | |
nicht ausgereicht hätten, erzählt er. | |
## Aiwangers Ehrenkodex | |
Deshalb will Söder das Ganze nun schriftlich machen. 25 Fragen, kündigt er | |
an, werde man Aiwanger übergeben, die dieser auch versprochen habe zu | |
beantworten. Aiwanger habe sich auch bereiterklärt, „wenn noch vorhandene | |
Schulakten da sind, die zu öffnen“. Er gebe aber auch zu bedenken, dass die | |
Sache tatsächlich über 30 Jahre her sei und sich Aiwanger zumindest heute | |
deutlich von dem Flugblatt distanziere, sagte Söder noch, fügte aber gleich | |
noch hinzu, dass dies „kein Freispruch“ sei. | |
Dabei gibt es zwei Fragenblöcke in der Angelegenheit. Der eine betrifft das | |
Tun und Lassen eines 16-jährigen Gymnasiasten in der niederbayerischen | |
Provinz – also das, worauf auch Söder in seinem Statement größtenteils | |
abhebt. Wie relevant dieser Block ist, der beispielsweise die Frage | |
enthält, ob Aiwanger das Flugblatt an weitere Schüler weitergegeben hat, | |
darüber gehen die Meinungen auseinander. Für SPD-Chef Florian von Brunn | |
beispielsweise spielt das keine Rolle mehr, er findet, wer ein solches | |
Machwerk als Schüler mit sich rumgetragen hat, hat in der Regierung nichts | |
verloren. | |
Der andere Fragenblock betrifft allerdings den heutigen Hubert Aiwanger, | |
immerhin Minister und stellvertretender Ministerpräsidenten. Hier stellt | |
sich die Frage, wes Geistes Kind er ist, dann doch noch einmal deutlich | |
dringlicher. Und hier fällt beispielsweise die Aussage aus seinem | |
schriftlichen Statement ins Auge, es sei weder damals noch heute seine Art, | |
„andere Menschen zu verpfeifen“. In Aiwangers Augen mag dies ehrenhaft | |
sein, doch es geht schließlich nicht um das Verpetzen eines Freundes, der | |
bei einer Schulaufgabe geschummelt hat. In der letzten Konsequenz würde die | |
Aussage bedeuten, dass Aiwanger beispielsweise auch heute rechtsradikale | |
Umtriebe in seinem politischen Umfeld für sich behalten würde, kämen sie | |
ihm zur Kenntnis. Die Vorstellung eines Ehrenkodex nach Art der Omertà in | |
der bayerischen Politik schmerzt dann doch. | |
## Opposition will Sondersitzung des Landtags | |
Auch die Bemerkung, ihm sei „mit der Polizei gedroht“ worden, wenn er den | |
Sachverhalt nicht aufkläre. Das Einschalten der Polizei bei einer | |
Hetzschrift, die Holocaust-Opfer verhöhnt, heute noch als Drohung zu | |
empfinden, lässt zumindest auf ein mangelndes Problembewusstsein und | |
eigenartiges Rechtsverständnis schließen. Dasselbe gilt für die | |
Formulierung, er sei auf das Alternativangebot, ein Referat zu halten, | |
„unter Druck“ eingegangen. Eine Entschuldigung, ein Wort des Bedauerns? | |
Fehlanzeige. | |
Und dann wäre da natürlich auch die Frage: Hat Aiwanger gelogen? Die | |
Süddeutsche Zeitung behauptet, zumindest sie habe er angelogen. So habe er | |
beispielsweise die Anfrage, ob er sich in der Schule für das Flugblatt habe | |
verantworten müssen, als „Behauptung zu seiner Schulzeit“ zurückgewiesen. | |
Am Samstag dann, als die SZ-Story veröffentlicht war, räumte er dagegen | |
ein, zum Direktor einbestellt worden sein. | |
Die Opposition jedenfalls überzeugt Söders Aufklärungsstrategie noch nicht. | |
SPD-Mann von Brunn etwa spricht von einer „schwachen Entscheidung eines | |
schwachen Ministerpräsidenten“: Aiwanger habe zehn Tage Zeit gehabt, alle | |
offenen Fragen zu klären. „Die Hängepartie vergrößert den Schaden für den | |
Freistaat noch weiter. Das Mindeste wäre gewesen, dass Hubert Aiwanger sein | |
Amt ruhen lassen muss.“ | |
Und FDP-Fraktionschef Martin Hagen findet: „Die schwerwiegenden Vorwürfe | |
gegen Hubert Aiwanger sind keine exklusive Sache zwischen CSU und Freien | |
Wählern. Das betrifft ganz Bayern und darf nicht hinter verschlossenen | |
Türen verhandelt werden.“ Gemeinsam mit den Grünen wollen SPD und FDP nun | |
eine Sondersitzung im Landtag einberufen. | |
## Verschnaufpause für Söder – und Aiwanger | |
Zumindest in einer Hinsicht ähnelt Söders Statement am Dienstag der | |
vorausgegangenen Aussage Aiwangers vor den Koalitionären: Auch nach diesem | |
bleiben viele Fragen offen: Was genau wurde Aiwanger gefragt, was hat er | |
geantwortet, welche Antworten fanden die CSU-Teilnehmer unbefriedigend? Je | |
mehr Söder die Sache freilich im Vagen lässt, desto weniger muss er sich | |
später festlegen lassen – etwa auf mögliche Konsequenzen für Aiwanger. | |
Mit dem schriftlichen Fragekatalog verschafft Söder sich – aber auch seinem | |
Stellvertreter – erst mal eine Verschnaufpause nach den turbulenten letzten | |
Tagen. Ein mögliches Kalkül: Bis Aiwanger mit den Antworten rüberrückt, | |
könnten sich die Gemüter etwas abgekühlt haben, so dass sich leichter über | |
die eine oder andere ausweichend beantwortete Frage hinweggehen lässt. Kein | |
Wunder, dass Aiwanger keine Frist gesetzt wurde. Die CSU gab sich mit | |
dessen Zusage zufrieden, er werde die Antworten „rasch“ liefern. | |
Und dann? Dann werde man hoffentlich wieder vernünftig weiterarbeiten, sagt | |
Söder. Die Zusammenarbeit mit den Freien Wählern habe sich bewährt, sei | |
gut, und man wolle sie fortsetzen. „Es gibt auch keinen Anlass, etwas daran | |
zu ändern.“ Und dann noch ein unüberhörbarer Wink mit dem Zaunpfahl an den | |
abwesenden Aiwanger: „Koalitionen hängen übrigens auch nicht an einer | |
einzigen Person. Es geht mit oder ohne eine Person im Staatsamt ganz | |
genauso.“ | |
29 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Affaere-um-Nazi-Pamphlet/!5953156 | |
[2] https://yewtu.be/watch?v=7AZAt1zmkDU | |
[3] /Antisemitismus-Vorwurf-gegen-Aiwanger/!5953031 | |
## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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