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# taz.de -- Die Causa Aiwanger und ihre Folgen: Jetzt erst rechts?
> Nach dem Bekanntwerden des antisemitischen Flugblatts gibt sich Söder
> empört über seinen Vize, scheut aber Konsequenzen. Wie geht's in Bayern
> weiter?
Bild: Was soll er bloß tun? Bayerns Ministerpräsident Markus Söder
München taz | Noch nicht einmal zwei Minuten. Diesmal hat Hubert Aiwanger
das Rennen gemacht. Während Bayerns Ministerpräsident Markus Söder am
Dienstag noch sechs Minuten für seine Pressekonferenz benötigt, unterbietet
ihn sein Stellvertreter am Donnerstag noch deutlich. Was beide Auftritte in
der vergangenen Woche gemein haben: Nachfragen sind den Journalisten nicht
gestattet, ihre Statements lesen die beiden sonst so redseligen Politiker
ab – etwas, was Söder sonst selten, Aiwanger praktisch nie tut. Spätestens
da hat es auch der Letzte gemerkt: Etwas ist faul im Freistaate Bayern.
Was da faul ist, das hat ganz offensichtlich mit diesem Hubert Aiwanger zu
tun, der da am Donnerstag um 16.30 Uhr in seinem Ministerium etwas nervös
vor den Mikrofonen sitzt, noch schnell an seinem Trachtenjanker rumnestelt,
zweimal die Nase hochzieht, als schnupfte er eine Prise Tabak, und dann so
Dinge sagt wie: „Es sind Aussagen aufgetaucht, die den Eindruck vermitteln,
ich wäre als Jugendlicher auf einen menschenfeindlichen Weg geraten.“ Oder:
„Ich bereue zutiefst, wenn ich durch mein Verhalten in Bezug auf das in
Rede stehende Flugblatt oder weitere Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit
Gefühle verletzt habe.“ Aber auch: „Ich habe den Eindruck, ich soll
politisch und persönlich fertiggemacht werden.“
Die Einlassung ist knapp und nicht ganz schlüssig. Es wird nicht einmal
ersichtlich, wofür sich Aiwanger denn nun aus seiner Sicht entschuldigt.
Wofür er sich tatsächlich einer Schuld bewusst sei. Stattdessen
Erinnerungslücken und eine Gegenattacke. Man muss also wohl doch noch
einmal ausholen: Worum geht es?
Vordergründig geht es um Vorkommnisse aus dem Jahr 1987, als Aiwanger
Elftklässler am Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg war.
Vorkommnisse, deren Veröffentlichung durch die Süddeutsche Zeitung (SZ) am
vergangenen Wochenende [1][ein Beben in der Landespolitik auslösen].
## Hitlergruß und Witze über Auschwitz
Da ist dieses antisemitische Flugblatt, das damals an Aiwangers Schule die
Runde machte und das die SZ jetzt veröffentlichte, von dem wohl viele
annahmen, er selbst habe es verfasst, dessen Urheberschaft am vergangenen
Samstag jedoch sein Bruder Helmut für sich reklamiert. Hubert Aiwanger
wiederum, heute Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident
in Bayern, gibt immerhin zu, dass Exemplare des Flugblatts in seiner
Schultasche gefunden worden seien, er vielleicht welche verteilt habe. In
dem Flugblatt werden Opfer des Holocausts auf übelste Weise verhöhnt.
Dazu gesellen sich in den folgenden Tagen weitere Erzählungen über den
Aiwanger von damals. Berichte von einem, der gern Hitler imitierte, [2][den
Hitlergruß zeigte, „Mein Kampf“ las und Witze über Auschwitz riss], einen
strengen Seitenscheitel trug und einen Oberlippenbart, in dem manche ein
Hitlerbärtchen erkannt haben wollen. Es geht um Ereignisse, die über 35
Jahre her sind.
Darüber hinaus geht es allerdings um die Frage, was diese Ereignisse über
den Aiwanger von heute aussagen, wie sie sich einfügen in das Gesamtbild
eines Politikers, der seinen Hang zum Populismus immer stärker auslebt, der
etwa mit seiner Forderung für Empörung sorgte, die schweigende Mehrheit
solle sich die Demokratie zurückholen. Eines Politikers, [3][der es einem
schwer macht, das, was da in den Achtzigern stattgefunden haben mag, als
jugendliche Verirrtheit abzutun].
## Bewusste Tabubrüche
Es ist also definitiv etwas faul in Bayern – und das kurz vor der Wahl am
8. Oktober. Aktuell lässt sich nicht abschätzen, welche Auswirkungen die
Affäre auf den Wahlkampf und vor allem das Wahlergebnis haben werden. Noch
vor zwei Wochen hatte man sich im Freistaat auf einen eher langweiligen
Wahlkampf eingestellt, das Ergebnis, so waren sich die Beobachter einig,
stehe ja schon fest: die Fortsetzung der schwarz-orangefarbenen Koalition.
Die Umfragen sahen die CSU bei 38 bis 39 Prozent und damit zumindest knapp
über den desaströsen 37,2 Prozent von 2018. Um Platz zwei wurde ein
Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen AfD und Grünen erwartet – bei etwa 14 Prozent.
Danach folgten Freie Wähler mit 11 bis 14 und die SPD mit 9 bis 11 Prozent
der Stimmen. Die FDP lag irgendwo in der Nähe der Fünf-Prozent-Hürde.
CSU und Freie Wähler also. Söder und Aiwanger. Inhaltlich trennte die
beiden nicht viel. Der augenfälligste Unterschied war Aiwangers Auftreten,
das noch deutlich populistischer rüberkam als das Söders. Das Zusammenspiel
mit dem Koalitionspartner hatte aber auch seine Vorteile für Söder. Dass
der Trend für die AfD in Bayern weniger stark ist als im Bund, könnte
durchaus auch mit Aiwanger zu tun haben.
Bürgerlich, pragmatisch, unideologisch, auf dem Lande verankert und nahe
bei den Problemen der Leute. So kennt man die Freien Wähler, und so haben
sie bereits ihre Erfolge im Kommunalen eingefahren, lange bevor Aiwanger
sie 2008 in den Landtag brachte. Und diese Charakterisierung traf im Großen
und Ganzen bislang auch für den Politiker Aiwanger zu, auch wenn sich
während der Jahre in der Regierung die Frequenz der bewusst platzierten
kleinen Tabubrüche erkennbar erhöht hat.
Aiwanger wandelt, ja lustwandelt gerne auf schmalem Grat. Beispiel
Klimakrise: Wenn’s im Sommer mal kalt ist, kann man fast darauf wetten,
dass der Mann einen Spruch ablässt, mit der Erderwärmung könne es nicht so
weit her sein. Zwar bleibt er im scherzhaft Vagen, warnt aber doch vor
„Klimapanik“ und kann den Verdacht nicht ausräumen, sich einer gewissen
Wählerschaft anzudienen.
## Söder taktiert
Markus Söder gibt sich nun angesichts der Flugblatt-Affäre empört, scheut
vor Konsequenzen jedoch zurück, spielt auf Zeit. In seinem Statement nach
einer Krisensitzung mit dem Koalitionspartner am Dienstag fordert er:
[4][Aiwanger muss einen Katalog von 25 Fragen beantworten.] Welche Fragen?
Bis wann? Wie müssen die Antworten ausfallen, dass Söder den Mann weiter
für ministrabel hält? Das alles lässt Söder offen. Ein Versuch, die
Angelegenheit über den Wahltermin hinaus zu vertagen?
So moralisch zweifelhaft Söders Taktiererei ist, so nachvollziehbar ist sie
angesichts seiner frühen Festlegung auf die Freien Wähler als Partner.
Überhaupt ist es ein Geflecht von Abhängigkeiten, in dem die Akteure
feststecken: Die CSU braucht die Freien Wähler, die Freien Wähler brauchen
die CSU, sie brauchen aber auch Aiwanger, und Aiwanger wiederum braucht die
Freien Wähler – sofern er weiter Regierungsverantwortung tragen will.
Die Koalitionspartner sitzen im selben Boot. Wenn die Freien Wähler in
stürmische Gewässer geraten, ziehen sie auch die CSU mit hinein. Der
Wahlkampf beider Parteien konzentrierte sich bislang darauf, [5][die
sogenannte Bayern-Koalition als harmonischen Gegenentwurf zum
vermeintlichen Ampel-Chaos in Berlin zu verkaufen]. Ein Image, das schon
mal glaubwürdiger rüberkam.
## Entlassung hätte unkalkulierbare Folgen
Fragt sich also, wie viel die Währung Glaubwürdigkeit an der Wahlurne
zählen wird. Werden Wählerinnen und Wähler, die Aiwanger als Korrektiv zur
CSU gewählt haben, nun doch zu dieser zurückkehren? Oder gar zu einer
Ampelpartei wechseln? Werden manche Protestwähler statt der AfD nun für die
Freien Wähler stimmen? Welche Partei wird angesichts der Affäre am ehesten
Nichtwähler mobilisieren können? Eine Entlassung Aiwangers jedenfalls hätte
aktuell unkalkulierbare Folgen für Söder und seine CSU. Denn nicht alle
Wähler der Koalition teilen seine Empörung.
Die Grünen nutzen die Affäre um Aiwanger in jedem Fall schon mal dazu, die
CSU erneut zu umgarnen. Ludwig Hartmann, ihr Fraktionsvorsitzender, fordert
nach anfänglichem Zögern nicht nur Aiwangers Rücktritt, sondern wiederholt
bei der Gelegenheit gleich mal wieder einen Spruch, den er schon bei der
letzten Wahl gern zum Besten gab: mit Schwarz-Grün könne man „das Beste aus
beiden Welten“ zusammenbringen.
Allerdings gehen die Chancen der Grünen auf eine Regierungsbeteiligung
gegen Null, solange Söder noch eine Option hat, die jetzige Regierung
fortzusetzen. Anders als noch vor fünf Jahren lockt man mit der Aussicht
auf Schwarz-Grün bei den bayerischen Wählerinnen und Wählern niemanden mehr
hinter dem Kachelofen hervor. Und auch Söder hat sich mittlerweile vehement
gegen die Grünen positioniert, seinen in der eigenen Partei nicht
unumstrittenen Kurs des Bäumeumarmens und Bienenrettens beendet und sie zum
Hauptgegner erkoren.
Sie dürften nur dann wieder ins Spiel kommen, sollte er sich tatsächlich
gezwungen sehen, Aiwanger wegen etwaiger neuer Enthüllungen zu entlassen.
Nicht viel anders sieht es mit der SPD aus, zumal Söder mit dem häufig auf
Krawall gebürsteten SPD-Chef Florian von Brunn eine herzliche Abneigung
verbindet.
## Freie Wähler stehen hinter Aiwanger
Der naheliegendste Partner anstelle der Freien Wähler wäre die FDP. Mit ihr
regierte die CSU schon im ersten Kabinett Seehofer (2008 bis 2013) einmal
zusammen, was zum Frust der Liberalen kaum jemand bemerkte. Aktuell ist
allerdings völlig unklar, ob die FDP in den Landtag kommt, und auch dann
wäre eine Mehrheit mit der CSU eher unwahrscheinlich.
Eine Variante gäbe es, die für Söder – zumindest auf kurze Sicht – elega…
wäre: Die Freien Wähler würden selbst ihren Chef selbst in die Wüste
schicken und sich in völlig neuer Formation zurück ins Bett mit der CSU
legen. Entsprechende Signale der CSU in Richtung Freie Wähler gibt es
bereits. Nur: Deren Parteispitze hat solcherlei Ansinnen schon weit von
sich gewiesen, sie weiß sehr wohl, dass sie den Wählerzuspruch zuvörderst
Aiwanger zu verdanken hat.
Zudem wäre dieses Szenario für Söder nicht ungefährlich: Aiwanger könnte
sich neue Partner suchen. Über Jahrzehnte war die CSU mit absoluten
Mehrheiten verwöhnt. Dann kamen die Freien Wähler, dann die AfD. Der
Stimmenanteil der CSU wurde entsprechend zurechtgestutzt. Käme nun – mal
ganz wild spekuliert – noch eine „Liste Aiwanger“ hinzu, würde dies wohl…
einer weiteren Fragmentierung des rechten Blocks führen.
Eine Variante light wäre ein Deal mit den Freien Wählern nach der Wahl,
wonach die Koalition fortgesetzt würde, aber ohne Aiwanger im Kabinett. Für
ihn könnte dann etwa der jetzige Fraktionschef Florian Streibl nachrücken,
er selbst wieder Fraktionschef werden. Dieses Szenario setzt allerdings
voraus, dass Aiwanger damit einverstanden wäre – woran man getrost zweifeln
darf.
Mehr als Gedankenspiele sind diese Szenarien nicht. Und bis zur Wahl sind
es noch fünf Wochen, in denen viel passieren kann. Wobei auch das nur
bedingt stimmt: Seit Montag werden in Bayern die Briefwahlunterlagen
versandt. Manch eine dürfte ihr Kreuz schon gemacht haben.
1 Sep 2023
## LINKS
[1] /Antisemitismus-Vorwurf-gegen-Aiwanger/!5953031
[2] https://www.br.de/nachrichten/bayern/ex-mitschueler-spricht-ueber-aiwanger-…
[3] /Hubert-Aiwanger-und-das-Nazi-Pamphlet/!5952941
[4] /Causa-Aiwanger/!5953207
[5] /Markus-Soeder-im-Wahlkampf/!5947595
## AUTOREN
Dominik Baur
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