# taz.de -- Unberechenbarer Hubert Aiwanger: Am Rande des Wahnsinns | |
> Er ist der Mann, der Markus Söder schlaflose Nächte bereitet: Hubert | |
> Aiwanger. Ohne ihn kann er nicht regieren, und mit ihm ist es eine Qual. | |
Bild: Hubert Aiwanger (Freie Wähler) und Markus Söder (CSU) im Landtag bei de… | |
MÜNCHEN taz | Nehmen wir diesen Samstagnachmittag Anfang Februar in | |
Regensburg, nur so zum Beispiel: Ein paar hundert Leute haben sich am | |
Domplatz zu einer Mittelstandsdemo zusammengefunden. Die Rednerinnen und | |
Redner stehen auf der Ladefläche eines Lkw. Gegen Ende tritt einer ans | |
Mikrofon, der [1][einem örtlichen Nachrichtenportal zufolge eigentlich gar | |
nicht als Redner vorgesehen war], sich dann aber selbst eingeladen haben | |
soll: Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger. | |
Er spricht davon, dass sich Leistung wieder lohnen muss, von Fehlern im | |
System, überbordender Bürokratie, wettert gegen das geplante | |
Verbrennerverbot der EU und schimpft über deutsche Gelder, die in Radwege | |
in Peru gesteckt würden, wo sie doch in der heimischen Wirtschaft viel | |
dringender gebraucht würden. Immerhin: [2][Von angeblich Hunderten | |
Millionen Euro, die die Radwege die deutsche Steuerzahlerin gekostet | |
hätten], spricht er diesmal nicht. So weit, so harmlos. Die Rede hätte auch | |
von einem beliebigen CSU-Bierzeltredner stammen können – nur dass die | |
wenigsten von ihnen eine halbe Stunde lang völlig frei sprechen könnten. | |
Aber dann, es geht schon Richtung Ende, bringt Aiwanger doch noch einen | |
echten Aiwanger: Es gebe „Leute im System“, sagt er, „die wollen, dass die | |
kleinen Dorfwirtshäuser schließen, weil sie sagen: Ich will gar nicht mehr, | |
dass da der Stammtisch beieinandersitzt, der miteinander politisiert, | |
sondern ich will dem sagen, was er zu denken hat, über andere Kanäle.“ | |
Wer diese Leute im System sind, sagt Aiwanger, immerhin Bayerns Nummer zwei | |
und somit ganz oben im System, nicht. Nur so viel wird mal wieder deutlich: | |
Verschwörungstheoretiker gibt es definitiv im System. Zumindest einen. | |
## Aiwanger-Euphorie hat sich gelegt | |
Die Episode ist bezeichnend für den Mann, der in der letzten Zeit innerhalb | |
des demokratischen Parteienspektrums so viel provoziert wie kaum ein | |
anderer. Oft braucht es nur den gerade vom ihm so oft beschworenen gesunden | |
Menschenverstand, um den Gehalt seiner Behauptungen zu beurteilen. So | |
behauptete er jüngst auch, die Demos gegen Rechtsextremismus seien von | |
Linksextremen unterwandert, und Jusos und Grüne Jugend würden ohnehin vom | |
Verfassungsschutz beobachtet. Werden sie natürlich nicht, aber behaupten | |
kann man’s ja mal. Auch in der Tonalität geht der Chef der Freien Wähler | |
immer wieder hart an die Grenze. „Jeder Taugenichts wird von der Ampel | |
besser unterstützt als unsere Bauern“, ist so ein typischer Aiwanger-Satz. | |
Die CSU bringt Hubert Aiwanger mit seinem Verhalten mitunter an den Rand | |
des Wahnsinns – also genau in die Region, wo der Freie-Wähler-Chef selbst | |
gern seine waghalsigen Gratwanderungen unternimmt. Dass er im Wahlkampf | |
begonnen hat, immer unverhohlener am rechten Rand zu fischen und | |
ausgerechnet aus der Affäre um das eklige Nazi-Flugblatt, das er als | |
Schüler mit sich getragen hatte, Kapital zu schlagen, hat man ihm beim | |
Koalitionspartner schwer verübelt. Aiwanger hatte eine plumpe | |
Täter-Opfer-Umkehr betrieben und behauptet, die Shoah werde gegen ihn | |
instrumentalisiert, um ihn als Person zu vernichten. Bei der Landtagswahl | |
im Oktober wurden die Freie Wähler mit 15,8 Prozent der Stimmen | |
zweitstärkste Kraft im Bayerischen Landtag. | |
Inzwischen hat sich die Aiwanger-Euphorie zwar etwas gelegt, beim | |
Bayerntrend, der großen Umfrage des Bayerischen Rundfunks, kamen die Freien | |
Wähler zuletzt nur noch auf 13 Prozent, doch den Argwohn des | |
Koalitionspartners hat das nicht unbedingt vermindert. Auf Dauer, darüber | |
ist man sich in der CSU einig, will man sich von Aiwanger nicht auf der | |
Nase herumtanzen lassen. Bloß: Wie kriegt man diesen Mann unter Kontrolle? | |
## Szenen einer Zwangsehe | |
Eingebrockt hat man sich die Sache freilich selbst. Ministerpräsident | |
Markus Söder hatte Aiwanger ja quasi einen Freifahrtschein ausgestellt, | |
indem er sich vor den Wahlen bedingungslos auf die Freien Wähler als | |
Koalitionspartner festgelegt hatte. Nach der Wahl drohte Söder dann, wenn | |
die Freien Wähler mit der CSU koalieren wollten, müssten sie jetzt Farbe | |
bekennen: Sind sie fest verankert im bürgerlichen Lager, stehen sie noch | |
diesseits der Brandmauer zur AfD? | |
Da Söder aber gleichzeitig ankündigte, weiter mit den Freien Wählern zu | |
koalieren und dass eine andere Formation überhaupt nicht in Frage komme, | |
überraschte es nur wenige, dass sich Aiwanger von einer solchen Drohung | |
nicht sonderlich beeindrucken ließ und fröhlich weiter agierte wie bisher. | |
Das persönliche Verhältnis zwischen Söder und Aiwanger ist mittlerweile | |
zwar restlos zerrüttet, aber aus ihrer Zwangsehe scheinen die beiden nicht | |
mehr rauszukommen. | |
Freundliche Einhegeversuche der CSU haben bisher wenig gefruchtet. Und seit | |
sich Aiwanger auch noch zum Bauernführer aufschwingt und sich anschickt, | |
der CSU in dieser Klientel ihre Wähler abspenstig zu machen, ist es mit der | |
vornehmen Zurückhaltung gänzlich dahin. Dass die Jagd auf Aiwanger keine | |
Ende nehme, konstatiert die Passauer Neue Presse schon voller Bedauern: „Im | |
Gegenteil: Die Zahl derer, die ihn politisch erlegen wollen, nimmt gerade | |
deutlich zu.“ | |
Was zumindest stimmt: Der Ton auf christsozialer Seite wird schärfer. Vor | |
allem Wissenschaftsminister Markus Blume und Fraktionschef Klaus Holetschek | |
lassen keine Gelegenheit verstreichen, eine Spitze gegen den | |
stellvertretenden Ministerpräsidenten zu platzieren. Bei Aiwanger habe er | |
„immer noch ein wenig das Gefühl, dass er auch nach fünf Jahren als | |
Wirtschaftsminister mit den Zuständigkeiten nicht ganz vertraut ist“, sagte | |
Blume etwa der Mittelbayerischen Zeitung. Wirtschaft sei mehr als Land- und | |
Gastwirtschaft. Und er hoffe, dass Aiwangers Begeisterung für Technologie | |
nicht irgendwo zwischen Traktor und Mähdrescher endet. Worte, die durchaus | |
bemerkenswert sind innerhalb einer Koalition, die sich gern als | |
Gegenentwurf zur zerstrittenen Ampel präsentiert. | |
## „Ministrieren statt demonstrieren“ | |
Inzwischen hat man sich in der CSU vornehmlich auf die angeblich fehlende | |
wirtschaftspolitische Kompetenz des Ministers eingeschossen. Wenn man ihn | |
bei Ministerratssitzungen mit Sachfragen zu Wirtschaftsthemen konfrontiere, | |
behaupten CSU-Kollegen im vertraulichen Gespräch, komme Aiwanger regelmäßig | |
ins Rudern, blättere ausführlich in seinem Aktenordner und antworte | |
ausweichend. Auch einen Fünf-Punkte-Plan der CSU-Fraktion zum | |
Wirtschaftsaufschwung kann man schon als beabsichtigte Demütigung Aiwangers | |
verstehen. Darin wird der Minister zu halbjährlichen Rechenschaftsberichten | |
aufgefordert. | |
Darüber hinaus geht es auch um konkrete Vorwürfe: So könnte Aiwanger aus | |
dem Senat der Max-Planck-Gesellschaft fliegen, nachdem er bisher alle | |
Sitzungen verpasst hat. Aiwanger hält dagegen, es habe eben ständig | |
Terminkollisionen gegeben und auch seine Vorvorgängerin im Amt, die | |
beliebte CSU-Politikerin Ilse Aigner, sei bei keiner der Sitzungen | |
erschienen. CSU-Vize Manfred Weber wiederum hält Aiwanger vor, in den | |
letzten fünf Jahren ein einziges mal in Brüssel gewesen zu sein, um sich | |
dort für die bayerische Wirtschaft starkzumachen. Und als eine dringend | |
benötigte Windkraftanlage im Chemiedreieck an einem Bürgerentscheid | |
krachend scheiterte, vermutete man den Grund darin, dass sich der | |
„Windminister“ (Söder) zu wenig vor Ort gekümmert habe. | |
Vor allem aber verübelt man Aiwanger sein „Demo-Hopping“. Tatsächlich fand | |
in den vergangenen Wochen kaum eine Bauerndemonstration statt, bei der | |
Aiwanger nicht mitmarschierte. Er solle sich stattdessen lieber mal um sein | |
Ministerium kümmern, schimpfen sie in der CSU. Was aber auch wieder lustig | |
ist, wenn man sich Söders Terminkalender ansieht. Über 100 | |
Bierzeltauftritte will er beispielsweise im letzten Jahr absolviert haben. | |
Und auch außerhalb des Wahlkampfs verpasst er kaum einen Termin, um sich in | |
Szene zu setzen. Im Landtag sieht man ihn dagegen so selten wie keinen | |
anderen deutschen Ministerpräsidenten. | |
## Frust an der Freien-Wähler-Basis | |
Söder selbst hielt sich mit den Vorwürfen lange Zeit zurück, sagte es | |
gewissermaßen nur durch den Blume, beim politischen Aschermittwoch in | |
Passau mischte dann aber auch er mit. „Ministrieren geht vor | |
demonstrieren“, kalauerte er und forderte: „Du hast auf der Position zu | |
spielen, die dir anvertraut ist.“ Ein Wirtschaftsminister müsse sich um die | |
Wirtschaft kümmern und nicht um die Gamsjagd oder um die Wildfütterung. Ein | |
Vorwurf, der freilich ebenfalls nicht einer gewissen Komik entbehrt. | |
Schließlich war Söder bereits Minister für allerhand, zuletzt lange | |
Finanzminister. In dieser Zeit fiel er durch mancherlei auf, aber nie | |
dadurch, dass er sich in seinen Äußerungen und Auftritten auf seine | |
jeweilige Ressortzuständigkeit beschränkt hätte. | |
Nun sind jedoch auch die Freien Wähler nicht restlos begeistert vom Kurs | |
ihres Anführers. Ein großer Teil von ihnen sieht sich weit entfernt von | |
allen rechten Ecken des Politbetriebs: Leute wie Fraktionschef Florian | |
Streibl beschreiben die eigene Partei als bürgerlich, liberal und | |
konservativ, aber ganz klar links von der CSU. Dass Aiwanger zu dieser | |
Standortbestimmung längst nicht mehr so recht passen will, ist offenkundig. | |
Mitunter ist der Unmut darüber so groß, dass sich Mitglieder frustriert von | |
ihrer Partei abwenden. Hier ein Bürgermeister, da der Fraktionschef im | |
Gemeinderat. Bisweilen treten auch kommunale Wählergemeinschaften kollektiv | |
aus dem Landesverband aus. Ein Schritt, der bei den traditionell dezentral | |
aufgestellten und im Kommunalen verankerten Freien Wählern leichter fallen | |
dürfte als bei anderen Parteien. Die Süddeutsche Zeitung hat gerade erst in | |
Franken eine Häufung solcher „Einzelfälle“ ausgemacht und detailliert | |
aufgezählt. Und gemutmaßt, „dass Mentalitätsunterschiede eine Rolle | |
spielen. Dass sich die Menschen südlich der Donau dem Typus Aiwanger näher | |
fühlen als nördlich.“ | |
## CSU gibt sich demonstrativ gelassen | |
Auf Landesebene jedoch halten sich die Kritiker auffallend zurück, wird | |
weiterhin jeder verbale Fehltritt des Parteichefs unter den | |
Mei-der-Hubsi-halt-Teppich gekehrt. Streibl etwa hat mittlerweile schon | |
einige Übung im politischen Spagat, schafft es ohne Verrenkung, auf die | |
große Anti-rechts-Demo in München zu gehen, diese als grandioses Zeichen zu | |
feiern und zugleich Aiwangers These zu verteidigen, dass diese natürlich | |
linksextremistisch unterwandert sei. | |
„Wie gefährlich ist Aiwanger“, fragte die Frankfurter Allgemeine | |
Sonntagszeitung jüngst und setzte gleich noch nach: „Und vor allem: für | |
wen?“ Für wirklich harmlos hält den Freie-Wähler-Chef jedenfalls längst | |
niemand mehr, auch wenn sie einen das bei der CSU manchmal glauben machen | |
wollen. Der Höhenflug sei vorbei, inzwischen hätten die Wählerinnen und | |
Wähler verstanden, wer sich tatsächlich um bayerische Interessen kümmere, | |
lautet die Erzählung, wie sie führende CSU-Politiker derzeit unters Volk | |
bringen wollen. | |
Doch so ganz will die demonstrative Gelassenheit nicht überzeugen. Nicht | |
zuletzt auch, da es gerade die Christsozialen sind, die Aiwanger fürchten | |
müssen. Aus seinem Traum, quasi als deutscher Bauernführer in den Bundestag | |
einzuziehen, macht dieser keinen Hehl. Noch gibt es zwar kaum Umfragen, die | |
die Freien Wähler bundesweit über 3 Prozent sehen, doch Aiwangers | |
Sichtbarkeit außerhalb Bayerns nimmt zu, inzwischen wird auch er zu Lanz | |
und Maischberger eingeladen. | |
## Zuletzt auffallend zahm | |
Die Gefahr allerdings, die Aiwanger für die CSU darstellt, liegt vor allem | |
in dem neuen, von der Ampel beschlossenen Wahlrecht. Sollte dieses bis zur | |
Bundestagswahl Bestand haben und die Freien Wähler der CSU im bürgerlichen | |
Lager das nötige Quäntchen an Stimmen abnehmen, das diese braucht, um | |
bundesweit über die Fünfprozenthürde zu kommen, wäre sie im nächsten | |
Bundestag nicht mehr vertreten – unabhängig davon, wie viele Direktmandate | |
sie erlangt hat. Aiwanger bleibt daher in CSU-Augen eine tickende | |
Zeitbombe. | |
Umso erstaunlicher, dass sich der [3][Niederbayer] in der allerjüngsten | |
Vergangenheit geradezu zahm präsentiert hat. Beim Bundesparteitag in | |
Bitburg verbot sich Aiwanger jede Anbiederung nach rechts, machte sich | |
stattdessen für ein Unvereinbarkeitsbeschluss stark, der jede | |
Zusammenarbeit mit der AfD ausschließt. Und auch Befürchtungen, er könnte | |
beim politischen Aschermittwoch der Freien Wähler noch einmal eine Schippe | |
drauflegen, bestätigten sich nicht. | |
„Wenn den Leuten täglich mit woken Themen in der Nase herumgerührt wird, | |
muss man sich nicht wundern, wenn die irgendwann eskalieren“, beschwerte | |
sich Aiwanger, was nicht nur nahezu lyrisch anmutete, sondern zugleich | |
zeigt, wie sehr sich der Mann, der sonst mit Verbalinjurien kaum spart, | |
plötzlich zurücknimmt. Ein paar Städte weiter, in der Passauer | |
Dreiländerhalle, [4][verglich derweil Markus Söder die grüne | |
Bundesumweltministerin mit Margot Honecker]. | |
5 Mar 2024 | |
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Dominik Baur | |
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