| # taz.de -- Django Asül über Niederbayern: „Wir wissen, wer die echte CSU i… | |
| > Niederbayern! Hier wohnt die schweigende Mehrheit, hier verortet | |
| > Friedrich Merz das wahre Deutschland. Was hat es auf sich mit diesem | |
| > Landstrich? | |
| Bild: Django Asül: sozialisiert durch niederbayerische Indigene | |
| taz: Herr Asül, wir müssen über Niederbayern reden! | |
| Django Asül: Sehr gern, eines meiner liebsten Themen. | |
| Bis vor Kurzem haben meine Kollegen in Berlin ja gar nicht gewusst, dass es | |
| das gibt. Da hieß es noch: Unterpfalz, Niederfranken, Hinterschwaben – ist | |
| doch alles dasselbe bei euch da unten. Jetzt interessieren sich plötzlich | |
| alle für Niederbayern. | |
| Wir hier hatten immer schon den Eindruck, dass es Niederbayern wirklich | |
| gibt. Aber es hat mich auch erstaunt, wie schnell es dann doch von einer | |
| virtuellen, gefühlt westschlesischen Provinz zu einem real existierenden | |
| Landstrich aufsteigen konnte, der noch dazu eine gewisse Wucht entfalten | |
| kann. | |
| Ihre Expertise beziehen Sie aus einer sehr frühen und sehr intensiven | |
| niederbayerischen Sozialisierung. | |
| Ich habe als Kind quasi ab Geburt sehr viel Zeit bei unseren Nachbarn | |
| verbracht, weil meine Eltern Schicht gearbeitet haben. Und da war ich schon | |
| mit vier Jahren jeden Sonntag mit unserem Nachbarn am Stammtisch. Eine | |
| solche Sozialisierung durch Indigene prägt natürlich. | |
| Wie tickt er denn so, der Niederbayer? | |
| Der Niederbayer denkt zunächst mal, dass er hier vor Ort die Dinge | |
| eigentlich ganz gut im Griff hat, was sich direkt auf seine Bereitschaft | |
| auswirkt, sich aus München oder gar Berlin eher nicht sagen zu lassen, was | |
| er jetzt tun und lassen soll. Politisch kriegt der klassische Niederbayer | |
| vor allem dann ein ungutes Gefühl, wenn auf einmal der FC Bayern ins | |
| Schlingern kommt … | |
| … der jetzt kein niederbayerischer Verein ist. | |
| Den Anschein mag er vordergründig erwecken. Aber wir wissen natürlich um | |
| die Bedeutung von so tragenden niederbayerischen Figuren wie Sepp Maier, | |
| Wilhelm Neudecker oder jetzt Herbert Hainer. Der Niederbayer hat schon ein | |
| Gespür dafür, wann er welche Landsleute in welchen Positionen unterbringen | |
| muss. | |
| Es ist ja in letzter Zeit – vor allem auch von niederbayerischer Seite – | |
| viel von den „normalen Leuten“ die Rede. Fragt sich natürlich, was normal | |
| überhaupt bedeutet. Dass man den [1][Winnetou hier noch Winnetou sein | |
| lassen darf]? | |
| Die Verbindung des Niederbayern zu Winnetou wird oft unterschätzt. Man darf | |
| nicht vergessen, dass das Halbblut Apanatschi eine gebürtige Niederbayerin | |
| ist: Uschi Glas. Und so ergreift der Niederbayer schon qua Genetik Partei | |
| für Winnetou, und wenn es dann heißt, Winnetou sei aus diesem oder jenem | |
| Grund nicht astrein, denkt sich der Niederbayer: Moment mal, dürfen wir | |
| jetzt nicht mehr so sein, wie wir sind? Und dann greift er notfalls auch | |
| schon mal zur Solidarität. | |
| Mit Winnetou. Um normal bleiben zu dürfen? | |
| Gewissermaßen. Da der Niederbayer in der Heimat von Gleichgesinnten umgeben | |
| ist, wird das für ihn zur Norm. Und wer dann dieser Norm nicht entspricht, | |
| ist schon mal nicht normal im Sinne der Definition, hat aber die Chance, | |
| durch entsprechende Anpassungen und Modifikationen normal zu werden. Diese | |
| Gelegenheit wird jedem eingeräumt. Da kann der Niederbayer gnadenlos | |
| liberal sein. | |
| Das Theorem des [2][Gerhard Polt]: Niemand muss eine Minderheit sein, jeder | |
| hat das Recht, sich der Mehrheit anzuschließen. | |
| Schwierig wird es, wenn einer, der dieser Norm nicht entspricht, meint, | |
| denen, die sich für die Norm halten, zu sagen, was jetzt eigentlich Sache | |
| ist. Dann kann atmosphärisch schon mal a bissl was ins Rutschen kommen. | |
| Dann kriegt er eventuell von der schweigenden Mehrheit einen Wink mit dem | |
| Zaunpfahl? | |
| Sagen wir so: Dann schweigt die Mehrheit noch lauter. | |
| Nachdem wir nun lang genug um den heißen Aiwanger herumgeredet haben: Ist | |
| er denn ein typisches Exemplar der Spezies Niederbayer? | |
| Da kann man eine direkte Linie von Winnetou ziehen, weil [3][als Vorkämpfer | |
| für die niederbayerische Sache] ist er ja fast schon sein legitimer | |
| Nachfolger. | |
| Zumindest sprachlich hat Aiwanger die Niederbayern aber doch etwas in | |
| Verruf gebracht, weil er in der Öffentlichkeit ein sehr spezielles | |
| Hochdeutsch spricht und im Norden jetzt alle denken, das sei der hiesige | |
| Dialekt. | |
| Selbst wenn er Dialekt spricht, ist sein Niederbairisch ja eine Sprache, | |
| die außer ihm niemand spricht. Wenn man mit Leuten redet, die 500 Meter von | |
| Aiwanger entfernt wohnen, dann klingen die kein bisschen wie er. Der hat | |
| hier eine Ein-Mann-Sprache kreiert. Sprachwissenschaftlich ist das wohl | |
| lower sophisticated Bavarian. | |
| Sie sind ja zur selben Zeit wie Aiwanger auch auf ein niederbayerisches | |
| Gymnasium gegangen. Als er in der berühmten elften Klasse war, waren Sie in | |
| der neunten. | |
| Ich kann da aber keine Vergleiche anstellen. Wir waren ein recht | |
| entspannter und harmonischer Klassenverband. Uns war damals noch nicht | |
| einmal bewusst, dass wir später mal dank eines bayerischen Abiturs zur | |
| Speerspitze der Nation gehören würden. | |
| Und bei euch war wahrscheinlich kein Rechter, sondern [4][der Florian | |
| Pronold, später bayerischer SPD-Chef], der Schülersprecher. | |
| Der Florian war tatsächlich in meiner Klasse und auch gern im engagierten | |
| Dialog mit den Lehrern; ob er mal Schülersprecher war, weiß ich gar nicht | |
| mehr. Für uns war er mit seiner SPD-Nähe natürlich ein schräger Vogel. Aber | |
| dadurch, dass er ein konsequentes Schulleben vorzuweisen hatte und danach – | |
| genau wie ich – mit einer Banklehre solide ins Berufsleben gestartet ist, | |
| hat er dann doch irgendwo der Norm entsprochen, so dass sein SPD-Dasein gar | |
| nicht wahrgenommen oder ihm sofort und gerne verziehen wurde. | |
| Damals war die Welt in Bayern ja noch in Ordnung: Es gab drei Parteien im | |
| Landtag … | |
| … wovon aus streng niederbayerischer Sicht zwei eigentlich schon Luxus | |
| waren … | |
| … keine Freien Wähler, keine FDP und schon gar keine AfD. Die Jugendlichen | |
| waren entweder in der JU oder in Wackersdorf. Aber heute kennt sich doch | |
| keiner mehr aus. Macht es das für Kabarettisten schwieriger? | |
| Es ist vielschichtiger: Da gilt es dann halt herauszuarbeiten, dass | |
| beispielsweise aus der Sicht des Niederbayern diese Aiwanger-Sache just zum | |
| Zeitpunkt des grandiosen Harry-Kane-Transfers hochkocht, wo das Verständnis | |
| dafür, dass überhaupt etwas anderes in den Schlagzeilen stattfindet, sehr | |
| schwach ausgeprägt ist. Und das, wo der Niederbayer ja eh schon die | |
| Schnauze davon voll hat, dass ein Oliver Bierhoff als fußballerische | |
| Reinkarnation von Christian Lindner mit seiner geschleckten Art die | |
| deutsche Fußballwelt dominiert oder ein Flick als Bundestrainer so glücklos | |
| agiert wie ein Habeck als Wirtschaftsminister. Und wenn dann auch noch ein | |
| Rudi Völler als ein Mann von Vorvorgestern die Trendwende schafft, ist es | |
| natürlich gar keine Frage, dass auch ein Aiwanger im Amt bleibt, womit wir | |
| wieder den Bogen zur Norm kriegen, denn wenn man am Schluss wieder da | |
| rauskommt, wo man anfangs gestartet ist, macht man nichts verkehrt – | |
| weswegen man auch davon ausgehen kann, dass das Wahlverhalten des | |
| Niederbayern am Ende genau dem entsprechen wird, was sich auch ein Hubert | |
| Aiwanger vorstellt. | |
| Ähm … | |
| Gleichzeitig zeigt uns die ganze Sache aber auch, wie modern und progressiv | |
| der Niederbayer ist. Er sagt: Was damals war, interessiert doch heute nicht | |
| mehr. Wir müssen nach vorne schauen. Deshalb stößt es ihm auch so auf, wenn | |
| die anderen dann mit Fakten daherkommen. Wenn statt Tatsachen auf einmal | |
| Fakten zählen sollen, damit kann der Niederbayer überhaupt nichts anfangen. | |
| Und wenn Tatsache ist, dass der Aiwanger regieren soll, dann interessieren | |
| Fakten von vor 35 Jahren doch nicht. | |
| Ihr Freund Erwin Huber, ehemaliger CSU-Chef, hat sich sehr deutlich zu | |
| Aiwanger geäußert, sogar von Trumpismus gesprochen. | |
| Huber war ja [5][zuletzt vor allem Philosophiestudent], und er hat selber | |
| gesagt, dass ihn sein Studium weicher gemacht hat. Und für so einen von den | |
| Jesuiten quasi in die Altersmilde getriebenen CSUler ist die gnadenlose | |
| Härte, mit der ein Aiwanger jetzt auftritt, natürlich schon etwas, wo er | |
| erst mal schlucken muss. Aber das eigentliche Problem für die CSU ist ja | |
| nicht Aiwanger, sondern das Problem ist: Aiwanger ist nicht in der CSU. | |
| Haben wir es also künftig mit zwei CSUen zu tun? | |
| Aus niederbayerischer Sicht stellt sich die Frage ganz anders. Da sieht man | |
| die CSU vom Söder und die Freien Wähler vom Aiwanger. Der eine ist Franke, | |
| der andere Niederbayer. Und das führt dann nicht zur Frage, ob’s die CSU | |
| zweimal gibt, sondern zur Erkenntnis: Aha, jetzt wissen wir, wer die echte | |
| CSU ist. | |
| Die CSU zieht ja ihr überbordendes Selbstbewusstsein auch daraus, dass sie | |
| sagt: Wir sind keine normale Partei. Wie groß ist denn die Gefahr, dass die | |
| CSU nun doch normal wird – als prozentuale Mittdreißigerin, die neidisch | |
| auf den Erfolg eines Daniel Günther in Schleswig-Holstein schauen muss? | |
| Ich denke mal, die CSU hat sich damit arrangiert, dass sie normal ist. Aber | |
| auch damit, dass es jetzt womöglich noch Normalere gibt. Solange die aber | |
| ganz woanders sind, ist das akzeptabel. | |
| Dann reden wir jetzt aber wieder von dem ganz anderen Normal, dem | |
| Aiwangerschen Normal. | |
| Schon, aber wer das normale Normal sucht, der hat in Bayern sowieso nichts | |
| verloren. | |
| Aber das ist ja gerade das Problem der CSU, wenn sie sich nun normalisiert. | |
| Das dürfte aber eine Frage sein, die erst in der Zeit nach Söder richtig | |
| spannend wird. Und nachdem der seinen Plan, nur zwei Amtszeiten zu machen, | |
| längst ad acta gelegt hat, glaube ich, dass er insgeheim noch mit vielen | |
| Amtszeiten rechnet. Und dann wird auch ein Aiwanger in diesem Windschatten | |
| gut weitersurfen können. Das läuft dann unter Erbpacht. | |
| Es könnte auch ganz anders kommen. Man sagt ja beiden nach, dass es sie | |
| nach Berlin zieht, den einen ins Kanzleramt, den anderen zumindest in den | |
| Bundestag. | |
| Da empfehle ich aber tatsächlich mal die gesamtdeutsche Sicht einzunehmen: | |
| Ob der Rest der Republik so viel Wert darauf legt, einen aus bayerischer | |
| Sicht Normalen und einen noch Normaleren in ganz hohen Ämtern in Berlin zu | |
| sehen, das würde ich nach heutigem Stand der Dinge bezweifeln. Sollte aber | |
| Deutschland die EM nächstes Jahr in den Sand setzen, ist der heutige Stand | |
| der Dinge natürlich Makulatur. | |
| 2 Oct 2023 | |
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| Dominik Baur | |
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