| # taz.de -- Über den Normalitätsdiskurs: Kreuzberg ist überall | |
| > Jeder ist auf seine Weise „normal“, das heutige Deutschland ist plural. | |
| > Friedrich Merz hat sich mit seiner Kreuzberg-Metapher selbst entlarvt. | |
| Bild: Ist er normal? CDU-Bundesvorsitzender Friedrich Merz | |
| Nur selten bekennt sich jemand dazu, „normal“ zu sein. In „Normalität“… | |
| leben. Oder in dem, was der, in der Perspektive seiner Parteifreunde, | |
| unglücklich agierende CDU-Chef Friedrich Merz, meint, wenn er sagt: | |
| [1][Mehr Gillamoos, weniger Kreuzberg]. | |
| Ersteres, ein Wort für einen bayerischen Volxpartyrummel in Abensberg, sei | |
| mehr Deutschland als jener Berliner Bezirk, der nur durch Hausbesetzungen | |
| und anderen Krawall durch jene gerettet werden konnte, die nie die Union | |
| wählen würden: Linke, Alternative, Grüne, herkunftsethnisch schwerst | |
| gemischt. | |
| In Wahrheit verfehlte Merz nur die deutsche Realität schlechthin: Warum | |
| weiß er nicht, dass jene, die sich gern in Gillamoos krachledern mit | |
| alkoholischer Hilfe niederlassen, die Gleichen sind, die auch gern mal in | |
| die Hauptstadt reisen, dort noch gerner mal einen faszinierten Blick auf | |
| Kreuzberg (oder, aktueller, Neukölln) werfen? | |
| Was Konservative ängstlich (fast: angstlustvoll) furchtsam konstruieren, | |
| einen Gegensatz zwischen einem Provinzort und einem recht bunten, | |
| jedenfalls nicht klinisch sauberen Teil der Hauptstadt, existiert eben nur | |
| als gedankliches Konstrukt. | |
| Die meisten Kreuzberger*innen, um im Bild zu bleiben, fahren gern mal in | |
| die Gillamoose der Republik (oder der Welt). Und jene, die in Bayern eher | |
| nicht in Städten leben, [2][reisen beispielsweise auch mal in den | |
| KitKat-Club] zur Entdeckung ganz anderer als offiziell sagbarer Lüste. | |
| [3][Oder essen gern Döner]. Der aufgemachte Gegensatz ist schon, gemessen | |
| am wirklichen Leben in unserem Land, absurd. | |
| ## Bloß kein Mainstream-Geschmack! | |
| Alle sind, ebenfalls mit diesem toleranzgesättigen Blick betrachtet, auf | |
| ihre Weise normal. Sie gehören zu jeweils anderer Normalität. Nun ist es | |
| für Menschen, die gern Grüne wählen oder einst mit und durch die | |
| 68er-Bewegung zum Aufruhr kamen, schwer, sich als „normal“ oder als Teil | |
| einer Normalität zu verstehen. | |
| Man hielt auf, so lauteten die Zauberworte des Erhaben-sein-Wollens: | |
| Nonkonformität, Abweichung oder Originalität. Wer etwas auf sich hielt, | |
| wollte als individuell gelten, bloß kein Mainstream-Geschmack. Letzterer | |
| war was für die, Achtung: Horrorwort, „Masse“. Die man nicht sein wollte, | |
| also nicht normal, nicht einer „Norm“ unterworfen. | |
| Dass daraus eine neue Norm erwuchs, die des „Originalismus“, der | |
| Antidurchschnittlichkeit, gehört zu den nur ironisch zu verstehenden | |
| Befunden unserer Gesellschaft. Niemand traut sich mehr, ganz nach Sigmund | |
| Freuds lakonischer Sichtweise, zu sagen, ich bin ein Würstchen – eines wie | |
| alle anderen auch. | |
| Ein Bekannter sagte mal auf meine Frage, was er in puncto Musik denn so | |
| höre, er sei da ganz individuell, er finde Phil Collins ziemlich super. | |
| Originalist*innen vermochten über diese Aussage nur mokant zu lächeln: | |
| Was für ein Trottel! Dabei hatte er recht, so wie die junge Frau, die die | |
| Mucke von Beyoncé (oder Taylor Swift … you name it) für ihren Ausweis von | |
| singulärem Geschmack hält. | |
| Aber haben sie nicht recht? Hört nicht jeder auf Rechnung eigener | |
| Normalität – jene, die einem Normalgeschmack anhängen und auch jene, die | |
| zum Selbstbesserfühlen beteuern, es mit Freejazz zu halten? | |
| ## In ihrer Andersheit respektiert | |
| Die einen kaufen ihr Speiseöl beim Discounter, die anderen wollen eine | |
| geheime Quelle bei einem vollkommen und noch geheimeren Ölwinzer in einem | |
| beinah toten Winkel der Toskana entdeckt haben … Wir kennen alle das Spiel | |
| der Distinktion und sind entwaffnet, wenn jemand auf diesen ganzen | |
| Angeber*innenbullshit so gar nix gibt | |
| In diesen Normalitätsdiskurs passt auch, dass Angehörige von sogenannten | |
| Minderheiten – alle Umfragen besagen dies – nichts als „normal“ sein | |
| wollen. Wie die anderen auch, aber in Ruhe gelassen, mit ihrer Lebensweise. | |
| In ihrer Andersheit zwar respektiert, aber nicht skandalisiert oder | |
| exotisiert werden wollen – etwa Juden und Jüdinnen, Schwule, Lesben und | |
| Transmenschen oder Frauen (in Männerberufen wie dem Maurerei) oder Männer | |
| (in Frauenberufen, etwa als Entbindungspfleger). | |
| Als politisches Kulturkampfprogramm, siehe Merz, taugt dessen angebliche | |
| „Normalität“ immer weniger: So wie er es zeichnet, ist das moderne | |
| Deutschland längst nicht (mehr). Kurzum: Wir sind alle normal – und | |
| „originell“ ist für sich genommen in offenen Gesellschaften alles und | |
| zugleich nichts Besonderes. | |
| 6 Oct 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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